OGH 1Ob51/02k

OGH1Ob51/02k22.3.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schlosser als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Gerstenecker, Dr. Rohrer, Dr. Zechner und Univ. Doz. Dr. Bydlinski als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 17. Dezember 1997 geborenen Julia S***** und des am 9. September 2000 geborenen Simon S***** infolge Revisionsrekurses des Vaters Robert S*****, vertreten durch den Verfahrenshelfer Dr. Günther Clementschitsch, Rechtsanwalt in Villach, gegen den Beschluss des Landesgerichts Klagenfurt vom 30. November 2001, GZ 2 R 470/01x-14, mit dem infolge Rekurses des Antragstellers der Beschluss des Bezirksgerichts Villach vom 18. September 2001, GZ 10 P 125/01t-7, bestätigt wurde, folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Rekurskosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Julia und Simon S***** sind eheliche Kinder, deren Eltern ihren letzten gemeinsamen Wohnsitz in München hatten. Die Kinder und der Vater sind deutsche Staatsangehörige, die Mutter ist österreichische Staatsbürgerin. Am 19. 6. 2001 begab sich die Mutter mit den Kindern ohne Zustimmung des Vaters nach Österreich und wohnt seither gemeinsam mit ihnen in Villach.

Unter Hinweis auf die Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl 1988/512) beantragte der Vater die Anordnung der Rückführung der Kinder nach München. Die von der Mutter gegen ihn erhobenen Vorwürfe, er habe sich seiner Tochter in sexuell motivierter Weise genähert, seien unzutreffend. Durch die Rückführung der Kinder drohe ihnen kein seelischer oder körperlicher Schaden. Die Kinder vermissten den Vater und verstünden nicht, wieso sie mit ihm weder sprechen, noch ihn sehen dürften. Da die Ehegatten zuletzt bereits in München nicht mehr in einer gemeinsamen Wohnung gelebt hätten, bestünde auch theoretisch eine Missbrauchsgefahr nicht. Eine Gefährdung bei Kontakten mit dem Vater könne durch einen "vorübergehenden begleiteten Umgang" ausgeschlossen werden.

Die Mutter sprach sich gegen die Rückführung der Kinder aus. Die Kinder seien seit ihrer Geburt ausschließlich von der Mutter betreut worden, wogegen der Vater ganztägig gearbeitet habe. Beide Kinder seien daher ausschließlich auf die Mutter fixiert. Eine Entziehung der Kinder und Zuteilung an den Vater wäre "denkunmöglich". Schließlich habe der Umstand, dass sich der Vater der Tochter wiederholt in (näher dargestellter) sexuell motivierter Weise genähert habe, die Mutter bewogen, ihre Kinder nach Österreich mitzunehmen.

Das Erstgericht wies den Rückführungsantrag des Vaters ab.

Es stellte im Wesentlichen fest, die Mutter habe seit der Geburt der Kinder den Haushalt geführt und die Kinder während der beruflichen Abwesenheit des Vaters allein betreut. Der Vater sei als Verkäufer von Dienstag bis Freitag bis ca 20 Uhr, am Samstag bis ca 15 Uhr aus beruflichen Gründen abwesend. Die Mutter habe mit dem Vater wiederholt darüber gesprochen, sie habe den Eindruck, dass er sich der Tochter in sexuell motivierter Weise nähere, was der Vater stets bestritten habe. Nunmehr lebe die Mutter mit den Kindern in einem Villacher Frauenhaus. Zwischen ihr und ihren Kindern bestehe eine sehr starke emotionale Bindung. Die Tochter besuche in Villach den Kindergarten; sie sei ein sehr aufgewecktes und fröhliches Kind, leide jedoch sehr stark darunter, wenn sich ihre Mutter auch nur kurzfristig von ihr entfernt.

Rechtlich vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass der vorliegende Sachverhalt den Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens erfülle, auch wenn die Vorwürfe gegen den Vater nicht abschließend geklärt werden könnten. Die "Herausnahme" der Kinder, die erst ein bzw drei Jahre alt seien, aus der gewohnten Obhut der Mutter, die praktisch allein die Erziehung der Kinder übernommen habe, zu der eine sehr enge Beziehung bestehe und die faktisch die Hauptbezugsperson für die Kinder sei, würde sich sicherlich höchst schädlich auf die Psyche der Kinder auswirken. Auch seien die Anschuldigungen gegen den Vater bisher nicht gänzlich ausgeräumt worden. Die Mutter sei der ihr obliegenden Behauptungs- und Beweislast, dass die Rückkehr der Kinder mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens für die Kinder verbunden wäre, die Kinder aber jedenfalls in eine unzumutbare Lage gebracht würden, nachgekommen.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Auf Art 13 Abs 1 lit b des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ergebe sich, dass dem konkreten Kindeswohl der Vorzug vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel gebühre, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden. Es widerspräche dem Übereinkommen, eine besondere Gefahrensituation, die die Rückgabe herbeiführen würde, bei der Entscheidung nicht zu berücksichtigen. Das konkrete Kindeswohl genieße nach der Rechtsprechung auch dann den Vorzug vor dem allgemein angestrebten Ziel, Kindesentführungen zu verhindern, wenn gerade der Entführer, der die hauptsächliche Bezugsperson eines noch kleinen Kindes sei, jene Situation herbeigeführt habe, die die Rückgabe zu einer schwerwiegenden Gefahr für das Kindeswohl werden lasse. Bei Kleinkindern gehe es in erster Linie darum, wie sich die Erziehungsverhältnisse konkret gestalten sollten, wenn Kleinkinder, wie im vorliegenden Fall, dem Vater zur Betreuung überlassen würden. Da feststehe, dass der Antragsteller die meiste Zeit der Woche beruflich außer Haus verbringe und zwischen den Eheleuten offensichtlich eine tiefgreifende Entfremdung eingetreten sei, wären die Kinder dem entsprechend großen Konfliktpotential schutzlos ausgesetzt, wenn sie die Mutter bei der Rückführung zum Vater begleiten würde.

Der vom Rekursgericht - wenn auch aus einem anderen Grund - für zulässig erklärte Revisionsrekurs ist schon deshalb im Sinne des § 14 Abs 1 AußStrG zulässig, weil das Rekursgericht die Rechtslage insoweit in einer grundsätzlichen Frage verkennt, als es davon ausgeht, dass es um die Rückführung der Kinder "zum Vater" gehe. Das Rechtsmittel ist im Sinne seines Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Zutreffend sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass ein "Entführungsfall" im Sinne des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. 10. 1980 (BGBl 1988/512) vorliegt, weil die Mutter die Kinder gegen den Willen des Vaters der gemeinsamen elterlichen Sorge (§ 1626 BGB) entzogen hat (Art 3 des Übereinkommens). Soweit nicht ein Ausnahmetatbestand des Übereinkommens erfüllt ist, ist es erklärtes Ziel des Übereinkommens (Art 1 lit a), die sofortige Rückgabe widerrechtlich ... verbrachter Kinder sicherzustellen. Aus der Präambel des Übereinkommens (... um seine sofortige Rückgabe in "den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts" sicherzustellen ...) ergibt sich, dass - entgegen der Auffassung der Vorinstanzen - nicht etwa eine "Rückgabe" des Kindes an den anderen Elternteil stattzufinden hat - dies ist einer Regelung durch das zuständige Gericht vorbehalten; ein Verfahren darüber ist nach dem übereinstimmenden Vorbringen bereits anhängig -, sondern lediglich sicherzustellen ist, dass das Kind in den Staat seines (bisherigen) gewöhnlichen Aufenthalts zurückkehrt und dem durch die Entziehung verkürzten Elternteil das grundsätzliche Recht zum persönlichen Verkehr mit dem Kind gewährleistet wird. Damit muss nicht notwendigerweise die Trennung des Kindes vom "Entführer" verbunden sein; durch die Rückgabe soll der Antragsteller nur wieder in die Lage versetzt werden, auch seinerseits die elterliche Sorge zum Wohle des Kindes mitausüben zu können (vgl nur Jorzik, Das neue zivilrechtliche Kindesentführungsrecht, 44 mit Judikaturnachweisen). Ganz in diesem Sinne hat der Vater in seinem Antrag auch angeboten, dass die Mutter nach der Rückkehr der Kinder nach München diese weiterhin wie bisher betreuen solle und er selbst vorübergehend nur einen "begleiteten Umgang" mit den Kindern anstrebe. Dass eine solche Lösung ausgeschlossen oder für die Kinder im Sinne der Ausnahmebestimmung des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens unzumutbar bzw gefährdend wäre, kann aus dem vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt nicht abgeleitet werden.

Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren - nach Erörterung mit den Eltern und Durchführung eines Beweisverfahrens, in dem auch dem Vater Gelegenheit zu einer Aussage zu geben sein wird - Feststellungen zu den von der Mutter behaupteten, vom Vater hingegen bestrittenen Tatbestandsvoraussetzungen des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens zu treffen haben. Dabei wird erforderlichenfalls auch auf die behauptete Gefährdung der Tochter durch sexuell motivierte Annäherungen des Vaters einzugehen sein. Eine solche Verfahrensergänzung kann entgegen der Rechtsauffassung des Vaters vom Obersten Gerichtshof, der keine Tatsacheninstanz ist, nicht vorgenommen werden. Die dafür ins Treffen geführte Bestimmung des § 509 Abs 3 ZPO hat nicht etwa Beweisaufnahmen zur Hauptsache im Auge, sondern (nur) Erhebungen, die zur Feststellung von behaupteten Nichtigkeitsgründen oder Verfahrensmängeln erforderlich sind. Das Erstgericht wird das Verfahren möglichst rasch durchzuführen haben (Art 2 Satz 2 und Art 11 Abs 1 des Übereinkommens, § 5 Abs 2 Satz 2 des österreichischen Durchführungsgesetzes BGBl 1988/513).

Der Kostenvorbehalt beruht darauf, dass dem Antragsteller im Falle einer (letztlich) positiven Entscheidung ein Kostenersatzanspruch gegenüber dem "Entführer" zuerkannt werden kann (Art 26 Abs 4 des Übereinkommens).

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