Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Die Minderjährige und ihre Eltern sind österreichische Staatsbürger. Während der Vater in Linz wohnt, lebten die Mutter und die Minderjährige zunächst in Wien. Ende Juli 2008 übersiedelte die Mutter mit der Minderjährigen nach Schweden.
Mit rechtskräftigem Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 5. 6. 2007 (ON U-9) wurde der Vater ab 1. 3. 2007 zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von 190 EUR verpflichtet. Mit dem ebenfalls in Rechtskraft erwachsenen Beschluss vom 30. 8. 2007 bewilligte das Erstgericht der Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG in der Höhe von monatlich 190 EUR für die Zeit vom 1. 8. 2007 bis 31. 7. 2010.
Mit dem nunmehr verfahrensgegenständlichen Beschluss vom 8. 8. 2008 stellte das Erstgericht diese Vorschüsse im Hinblick auf die Übersiedlung der Mutter und der Minderjährigen nach Schweden mit 1. 8. 2008 ein.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Minderjährigen Folge und hob den Beschluss des Erstgerichts ersatzlos auf. Es gelangte in seiner rechtlichen Beurteilung zu dem Ergebnis, dass die Minderjährige als Familienangehörige des geldunterhaltspflichtigen Vaters in den (persönlichen) Geltungsbereich der VO 1408/71 falle. Da der Vater nach der Aktenlage nach wie vor in Österreich aufhältig und sozialversichert sei, habe er gemäß Art 73 und Art 75 Abs 1 der VO 1408/71 grundsätzlich Anspruch auf Familienleistungen für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen. Die vom Erstgericht vorgenommene Einstellung der Unterhaltsvorschüsse an die Minderjährige sei daher nicht gerechtfertigt. Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs im Hinblick auf die teilweise divergierende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen im Anwendungsbereich der VO 1408/71 zulässig sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne einer Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses abzuändern.
Die Minderjährige und ihre Eltern haben keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zwar zulässig, im Ergebnis aber nicht berechtigt.
Im Revisionsrekurs wird ausschließlich geltend gemacht, die Entscheidung des Rekursgerichts stehe im Widerspruch zu der im RIS-Justiz RS0116832 dokumentierten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach aus Art 75 und 76 der VO 1408/71 abzuleiten sei, dass im Falle des Zusammentreffens von Ansprüchen in mehreren Mitgliedstaaten der Anspruch im Wohnsitzstaat des Kindes (hier: Schweden) vorgehe und die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats (hier: Österreich) geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des durch die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaats des Kindes vorgesehenen Betrags „ausgesetzt werden".
Es wird damit auch im Rechtsmittel im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats in vergleichbaren Fällen (vgl insb 10 Ob 111/08h zum notwendigen grenzüberschreitenden Bezug) zutreffend nicht in Zweifel gezogen, dass die Minderjährige nach den hier anzuwendenden Bestimmungen der VO 1408/71 Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse hat. Die Art 73 und 74 der VO 1408/71 sind nämlich nach der Rechtsprechung des EuGH und der daran anschließenden Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs so auszulegen, dass ein mj Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen UVG hat. Die Verlegung des Wohnsitzes der Mutter mit dem unterhaltsvorschussberechtigten Kind von Österreich in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ändert daher an der Berechtigung zum Bezug des Unterhaltsvorschusses nach den Bestimmungen des UVG grundsätzlich nichts (vgl 7 Ob 40/02m; 7 Ob 39/02i ua; Neumayr in Schwimann, ABGB3 § 1 UVG Rz 24 f mwN). Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts der Minderjährigen nach Schweden stellt daher keinen Einstellungsgrund nach § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG dar, sofern der Vorschussanspruch trotzdem aufrecht bleibt (Neumayr aaO § 20 UVG Rz 13 mwN).
Für den Fall, dass für ein und dasselbe Kind in mehreren Mitgliedstaaten Anspruch auf Familienleistungen besteht, sieht die VO 1408/71 die Prioritätsregeln des Art 76 dieser Verordnung sowie des Art 10 der Durchführungs-VO 574/72 vor. In Art 76 Abs 1 der VO 1408/71 ist der allgemeine Grundsatz festgelegt, dass im Fall einer Kumulierung von Familienleistungen aufgrund einer beruflichen Tätigkeit aus dem Wohnsitzstaat der Familienangehörigen und von Familienleistungen aus dem Beschäftigungsstaat, in dem die Berufstätigkeit ausgeübt wird, die Familienleistungen des Beschäftigungsstaats bis zur Höhe der Familienleistungen des Wohnsitzstaats ausgesetzt werden. Art 76 Abs 1 VO 1408/71 ist jedoch in Bezug auf den österreichischen Unterhaltsvorschuss nicht einschlägig, weil nach österreichischem Recht der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss unabhängig von einer Erwerbstätigkeit gebührt (vgl 10 Ob 18/09h, 10 Ob 10/09g uva).
Die Prioritätsregel für die Kumulierung von Familienleistungen, die nicht von einer Berufstätigkeit abhängen, ist in Art 10 der Durchführungs-VO 574/72 festgelegt. Trifft in diesem Fall ein Anspruch nach nationalem Recht mit einem Anspruch aufgrund der Art 73, 74 der VO 1408/71 zusammen, ist gemäß Art 10 Abs 1 lit a der Durchführungs-VO 574/72 für Familienleistungen grundsätzlich vorrangig jener Mitgliedstaat zuständig, dessen Rechtsvorschriften der erwerbstätige Elternteil unterliegt (Beschäftigungsstaat). Im Wohnortstaat, als nachrangig zuständigem Staat, ruhen die Familienleistungen in Höhe der Leistungen des vorrangig zuständigen Staats. Der Wohnortstaat hat daher Ausgleichszahlungen zu erbringen, sofern dessen Leistungen höher sind (Art 10 Abs 1 lit a der Durchführungs-VO 574/72 ). Sind hingegen beide Eltern in verschiedenen Mitgliedstaaten erwerbstätig, zahlt gemäß Art 10 Abs 1 lit b sublit i der Durchführungs-VO 574/72 vorrangig der Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil erwerbstätig ist und das Kind lebt. Im anderen, nachrangig zuständigen Staat gebühren Ausgleichszahlungen, wenn die Familienleistungen des vorrangig zuständigen Staats niedriger sind (vgl Neumayr aaO § 1 UVG Rz 41; Holzmann-Windhofer, Kinderbetreuungsgeld für EG-Wanderarbeitnehmer, SozSi 2008, 16 ff [75] mwN ua).
Die Aktenlage gibt keinen Hinweis auf eine Berufstätigkeit oder Versicherung der Mutter der Minderjährigen in Schweden. Derartiges wird auch im Revisionsrekurs nicht behauptet. Hätte die Minderjährige Anspruch auf eine dem österreichischem Unterhaltsvorschuss vergleichbare schwedische Familienleistung, so hätte dies gemäß der in diesem Fall anzuwendenden Bestimmung des Art 10 Abs 1 lit a der Durchführungs-VO 574/72 keinen Einfluss auf die Höhe des ihr nach Art 73, 74 der VO 1408/71 in Österreich zustehenden Unterhaltsvorschusses (vgl 10 Ob 36/08d).
Dem Revisionsrekurs musste daher ein Erfolg versagt bleiben.
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