OGH 7Ob40/02m

OGH7Ob40/02m12.6.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Anna H*****, geboren am *****, vertreten durch ihre Mutter Andrea S*****, beide wohnhaft in ***** Frankreich, die Mutter vertreten durch Dr. Aldo Frischenschlager, Dr. Dieter Gallistl und Dr. Elfgund Frischenschlager, Rechtsanwälte in Linz, wegen Gewährung von Unterhaltsvorschüssen, über den Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Linz gegen den Beschluss des Landesgerichtes Linz als Rekursgericht vom 24. September 1998, GZ 14 R 427/98g-37, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Linz vom 27. Juli 1998, GZ 6 P 1152/95y-34, abgeändert wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die mj Antragstellerin ist die eheliche Tochter österreichischer Staatsangehöriger, deren Ehe am 9. 3. 1989 geschieden wurde. Auch sie ist österreichische Staatsangehörige. Die Obsorge kommt nach der Scheidung der Mutter zu. Im Jahr 1992 zog die Mutter mit der Minderjährigen von Österreich nach Frankreich, wo sie seither ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Am 2. 11. 1993 verpflichtete sich der nach wie vor in Österreich lebende Vater in einem gerichtlichen Vergleich zu einer monatlichen Unterhaltsleistung von S 4.800 für die Minderjährige. Trotz wiederholter Exekutionsführung ist der Vater mit den Unterhaltszahlungen im Rückstand. Es wird auch der laufende Unterhalt nicht bezahlt.

Die Minderjährige beantragt nun die Gewährung eines Unterhaltsvorschusses für die Zeit ab 1. 7. 1998 in der Höhe von S

4.800 pro Monat vorerst für die Dauer von drei Jahren. Das Erstgericht wies den Antrag mit der Begründung ab, dass Unterhaltsvorschüsse nur gewährt werden können, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Inland gelegen sei. Unter Inland sei die Republik Österreich zu verstehen.

Das Rekursgericht änderte den Beschluss dahingehend ab, dass der Antragstellerin gemäß § 3 UVG die monatlichen Unterhaltsvorschüsse von S 4.800, höchstens jedoch in der Höhe des jeweiligen Richtsatzes, gemäß § 6 Abs 1 UVG für die Zeit vom 1. Juli 1998 bis 30. Juni 2001 gewährt werden. In rechtlicher Hinsicht gelangte es zu dem Ergebnis, dass das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht ohne Rücksicht darauf vorgehe, welchen Rang das Letztere im Stufenbau der Rechtsordnung eines Mitgliedsstaates einnehme. Das in Art 6 Abs 1 des EGV normierte Diskriminierungsverbot sei gemäß Art 2 der Beitrittsakte sofort und unmittelbar anwendbar. Dies gelte seit dem Ende der Übergangsfrist auch für Art 52 EGV, der den Abbau der Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates regle. Es seien nicht nur offensichtliche Diskriminierungen auf Grund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, wozu auch ein Wohnsitzerfordernis zählen könne, verboten. Da der Unterhaltsvorschuss keine Sozialleistung darstelle, sondern nur den Unterhaltsbedarf abgelten solle, sei die Ungleichbehandlung zwischen in Österreich und in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufhältigen Kindern nicht zu rechtfertigen.

Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, da es sich bei der konkreten unmittelbaren Anwendung des Gemeinschaftsrechtes auf die Bestimmung des § 2 Abs 1 UVG um eine erhebliche Rechtsfrage handle.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Linz ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sprach in Beantwortung der vom Obersten Gerichtshofes am 23. Juni 1999 zu 7 Ob 348/98x, zu den zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen aus, dass eine Leistung wie der Unterhaltsvorschuss nach dem österreichischen Unterhaltsvorschussgesetz von 1985 eine Familienleistung im Sinne von Art 4 Abs 1 Buchstabe h der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geändert und aktualisierten Fassung, ist. Eine Person, die zumindest einen Elternteil habe, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer sei, falle als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers im Sinne von Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Buchstabe f Z 1 der Verordnung Nr 1408/71 in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung. Die Art 73 und 74 der Verordnung Nr 1408/71 seien so auszulegen, dass ein minderjähriges Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedsstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedsstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer sei, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem Unterhaltsvorschussgesetz habe (Urteil vom 5. Februar 2002, C-255/99 ).

Damit erweist sich die im § 2 Abs 1 UVG normierte Voraussetzung des gewöhnlichen Inlandsaufenthaltes in Ansehung jener Kinder, die in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wohnen, als gemeinschaftsrechtswidrig. Seit dem 1. 1. 1995 hat das unmittelbar wirkende Gemeinschaftsrecht Vorrang vor entgegenstehenden Gesetzen der Mitgliedsstaaten. Zu diesem - primären - Gemeinschaftsrecht werden auch jene "allgemeinen Rechtsgrundsätze" gezählt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Lückenfüllung innerhalb der Verträge erarbeitet hat. Entscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften kommt für die Gerichte der Mitgliedsstaaten allgemein bindende Wirkung zu (7 Ob 39/02i, RIS-Justiz RS0109951). Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechtes anzuwenden hat, ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechtes aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgend ein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (7 Ob 39/02i, 10 ObS 242/02p, RIS-Justiz RS0109951). Angewandt auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das Rekursgericht zutreffend erkannt hat, dass die Verlegung des Wohnsitzes der Mutter mit dem unterhaltsvorschussberechtigten Kind von Österreich in einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften an der Berechtigung zum Bezug des Unterhaltsvorschusses nach den Bestimmungen des UVG nichts ändert. Dem Revisionsrekurs konnte daher nicht Folge gegeben werden.

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