OGH 3Ob199/07x

OGH3Ob199/07x23.10.2007

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schiemer als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Prückner, Hon.-Prof. Dr. Sailer und Dr. Jensik sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Rechtssache der gefährdeten Parteien Elisabeth K*****, Alexander K***** und Katharina K*****, alle ***** alle vertreten durch ihre Mutter Laura K*****, diese vertreten durch Widter Mayrhauser Wolf Rechtsanwälte OEG in Wien, wider den Gegner der gefährdeten Partei Dipl. Ing. Richard K*****, vertreten durch Mag. Johannes Stalzer, Rechtsanwalt in Wien als Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr. Josef Olischar und Dr. Johannes Olischar, Rechtsanwälte in Wien, wegen Aufhebung einer einstweiligen Verfügung, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses des Gegners der gefährdeten Parteien gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 6. Juni 2007, GZ 43 R 382/07f-37, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 18. April 2007, GZ 2 C 162/06f-31, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs des Gegners der gefährdeten Parteien wird gemäß §§ 78 und 402 Abs 4 EO iVm § 526 Abs 2 erster Satz ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die durch ihre Mutter vertretenen gefährdeten Parteien sind die ehelichen minderjährigen Kinder des Antragsgegners, dem mit der gemäß § 382b EO erlassenen einstweiligen Verfügung (EV) des Erstgerichts vom 3. März 2006 aufgetragen wurde, die eheliche Wohnung und deren unmittelbare Umgebung zu verlassen und dorthin nicht zurückzukehren und weiters der Kontakt mit den Kindern und der Aufenthalt im und beim Kindergarten verboten wurde. Das Erstgericht nahm entsprechend den Angaben der Mutter und einer Psychologin (über Erzählungen der Tochter, der Vater habe seinen Finger in ihre Scheide gesteckt) einen wiederholten sexuellen Missbrauch der am 3. Jänner 2002 geborenen Tochter Elisabeth durch den Vater im Zeitraum August bis Dezember 2005 als bescheinigt an. Über Antrag der gefährdeten Parteien wurde die auf drei Monate befristete EV bis zur rechtskräftigen Beendigung des inzwischen von der Mutter eingeleiteten Scheidungsverfahrens verlängert, bei Einleitung eines Aufteilungsverfahrens bis zu dessen rechtskräftiger Beendigung.

Am 14. November 2006 beantragte der Gegner der gefährdeten Parteien die Aufhebung der EV mit der Begründung, er sei nach einem umfangreichen Strafverfahren vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs einer Unmündigen (§ 206 Abs 1 StGB) und vom Vorwurf des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses (§ 212 Abs 1 Z 1 StGB) rechtskräftig freigesprochen worden. Die Verhältnisse hätten sich damit geändert. Das strafgerichtliche Urteil entfalte Bindungswirkung. Das Erstgericht wies den Aufhebungsantrag ab. Es zitierte aus der Entscheidungsbegründung des Strafurteils Folgendes:

„Der unbescholtene Angeklagte Richard K***** wurde dahingehend belastet, dass er seine 2002 geborene Tochter Elisabeth in der im Spruch genannten Weise missbraucht habe. Die in den Hauptverhandlungen vernommenen Zeugen konnten diese Vorwürfe nicht verifizieren, weshalb auch entsprechende Feststellungen nicht möglich waren. Dies zuletzt nicht auch aufgrund der Feststellungen der gerichtlich beeideten Sachverständigen Dr. Angelika G*****, welche eine suggestive Überlagerung der Angaben des Kindes nicht ausschließen konnte, ihre Wiedergabefähigkeit als nicht ausreichend entwickelt ansieht, sodass sie sogar aus psychologischer Sicht vorschlug, von einer kontradiktatorischen Zeugenvernehmung Abstand zu nehmen. Aufgrund dieser Umstände waren daher in keiner Weise die gegen den Angeklagten erhobenen Vorwürfe zu verifizieren, weshalb mit einem Freispruch vorzugehen war."

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht im Wesentlichen aus, dass ein Aufhebungsantrag nach § 399 Abs 1 Z 2 EO nur darauf gestützt werden könne, dass die Gefährdung der Kinder wegen einer eingetretenen Änderung der Verhältnisse aufgehört habe, nicht aber darauf, dass sich der als bescheinigt angenommene Sachverhalt nachträglich als unrichtig herausgestellt habe. Hier sei nur ein Freispruch im Zweifel gemäß § 259 Z 3 StPO ergangen und damit begründet worden, dass der Vorwurf nicht bewiesen habe werden können. Der Antragsteller (Gegner der gefährdeten Parteien) habe sich nur auf die Bestimmung des § 399 Abs 1 Z 2 EO gestützt, nicht aber ausgeführt, inwiefern die Gefährdung der Kinder weggefallen sein sollte.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragstellers nicht Folge. Es teilte die Rechtsauffassung des Erstgerichts und verneinte eine Bindung des Zivilgerichts an das freisprechende Strafurteil. Der Sicherungszweck sei durch den Freispruch nicht weggefallen. Im außerordentlichen Revisionsrekurs beantragt der Antragsteller und Gegner der gefährdeten Parteien die Abänderung dahin, dass seinem Aufhebungsantrag stattgegeben werde, hilfsweise wird ein prozessualer Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der rechtzeitige Revisionsrekurs ist mangels erheblicher Rechtsfragen iSd § 528 Abs 1 ZPO unzulässig:

1. Die angefochtene Ablehnung der Aufhebung der gemäß § 382b EO zunächst auf drei Monate befristeten und nach Einbringung der Scheidungsklage bis zur rechtskräftigen Beendigung des Scheidungsverfahrens zulässigerweise verlängerten einstweiligen Verfügung (SZ 71/13; RIS-Justiz RS0109194) steht im Einklang mit der von der Lehre zumindest teilweise gebilligten ständigen oberstgerichtlichen Rsp, dass die Aufhebung einer einstweiligen Verfügung iSd § 399 Abs 1 Z 2 EO einen Wegfall des Sicherungsbedürfnisses infolge geänderter Verhältnisse voraussetzt, eine Änderung der Beweislage ist kein Aufhebungsgrund (6 Ob 26/99p; 4 Ob 70/95; König, einstweilige Verfügung im Zivilverfahren², Rz 3/149;

G. Kodek in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO, § 399 Rz 2, 14 und 15;

Kodek in Angst, EO, § 399 Rz 2; gegenteilig Zechner, Sicherungsexekution und EV, 263). Lediglich für das Unterhaltsverfahren wird vom Obersten Gerichtshof auch die Ansicht vertreten, dass das Erlöschen des Unterhaltsanspruchs zum Gegenstand eines Aufhebungsantrags gemacht werden könne (SZ 69/61). Von einem Erlöschen des Anspruchs der Kinder auf körperliche Sicherheit kann hier auch nach dem erfolgten Freispruch des Vaters im Strafverfahren nicht gesprochen werden.

2. Die Frage, ob der Freispruch des Vaters auch eine Änderung der Gefährdungslage der Kinder bewirkte, ist zu verneinen:

Primär sind die Beweisergebnisse des Strafverfahrens neue Beweismittel, die nur eine Änderung der Beweislage herbeiführen können, die - wie ausgeführt - keinen Aufhebungsgrund bildet. Diese Rsp steht im Einklang mit der ständigen Judikatur, dass im Provisorialverfahren keine analoge Anwendung der Wiederaufnahmsklage stattfindet (RIS-Justiz RS0048251). Bei Weiterbestehen eines Tatverdachts hat sich trotz des erfolgten Freispruchs an der Gefährdungslage der Kinder nichts geändert.

3. Entgegen dem Revisionsrekursvorbringen ist das freisprechende Strafurteil für das Zivilgericht nicht bindend (9 ObA 52/04v; RIS-Justiz RS0106015).

4. Im Provisorialverfahren kann sich der Revisionsrekurswerber auch nicht mit Erfolg auf die von ihm relevierte Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK und die dazu ergangene Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) berufen:

a) Mit der in ÖJZ 2001, 155 veröffentlichten Entscheidung des EGMR vom 21. März 2000, Nr. 28.389/95, Rushiti versus Österreich, erblickte der Gerichtshof in der mit der fehlenden Entkräftung des Tatverdachts begründeten Ablehnung einer Haftentschädigung durch österreichische Gerichte eine Verletzung der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK, obwohl der Angeklagte nur im Zweifel rechtskräftig freigesprochen worden war. Der Gerichtshof führte wörtlich aus, „dass, sobald ein Freispruch rechtskräftig geworden ist - und sei es auch ein Freispruch, bei dem der Angeklagte in den Genuss der Zweifelsregel gem Art 6 Abs 2 kam -, das Äußern jeglicher Schuldverdächtigungen einschließlich solcher, die in der Begründung des Freispruchs zum Ausdruck gekommen sind, mit der Unschuldsvermutung unvereinbar ist". Der Beschwerdeführer könne sich auf Art 6 Abs 2 MRK berufen, „weil das österreichische Recht und die Praxis die beiden Fragen - die strafrechtliche Verantwortung des Angeklagten und das Recht auf Entschädigung - so sehr miteinander verbinden, dass die Entscheidung über den zuletzt genannten Punkt als eine Folge und in einem gewissen Ausmaß als begleitender Umstand der Entscheidung über die erste Frage angesehen werden kann". Im Gefolge dieser Judikatur des EGMR reduzierte der Oberste Gerichtshof in Strafsachen in teleologischer Interpretation den § 2 Abs 1 lit b StEG um die Verdachtsentkräftung als Grundlage einer Haftentschädigung (11 Os 44/03). Die Judikatur des EGMR war schließlich auch Anlass für den österreichischen Gesetzgeber, die zitierte Gesetzesbestimmung iS dieser Judikatur zu ändern (§ 2 StEG 2005).

b) Schon aus der Begründung des EGMR geht hervor, dass seine Rechtsauffassung wegen des hervorgehobenen engen Konnexes zwischen strafrechtlicher Verantwortung und Freispruch einerseits und Haftentschädigung andererseits („begleitender Umstand") nur für das Strafverfahren, nicht aber für das Zivilverfahren Geltung haben kann, andernfalls man tatsächlich zu der vom Revisionsrekurswerber angestrebten Bindung der Zivilgerichte und Prozessparteien an einen Zweifelsfreispruch im Strafverfahren gelangte. Eine solche Bindung wäre aber aus einsichtigen Gründen grundrechtswidrig:

Im Strafverfahren wird der öffentliche Strafanspruch abgehandelt, dem Täter steht der Staat gegenüber. Der Verletzte (Geschädigte) ist nicht Partei. Über seine zivilrechtlichen Ansprüche wird - ausgenommen den Fall eines Zuspruchs an den Privatbeteiligten bei einem Schuldspruch - nicht entschieden. Die Bindungswirkung eines Freispruchs bedeutete für einen Geschädigten, der nicht Verfahrenspartei war, eine Verletzung seines Gehörs. Die Trennung zwischen zivilrechtlichen Ansprüchen und dem staatlichen Strafanspruch sowie der zur Entscheidung jeweils berufenen Gerichte ist in der Sache aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenstellung (Prozessgegenstände) begründet. Die Bindung des Zivilgerichts an einen Freispruch im Strafverfahren bedürfte einer gesetzlichen Grundlage, wie sie nur bei einem Schuldspruch aus der materiellen Rechtskraft des Strafurteils abgeleitet werden kann (verstärkter Senat SZ 68/195). Der Unterschied zu einem Zweifelsfreispruch liegt auf der Hand. Bei einem Schuldspruch steht fest, dass der Täter die Tat vorwerfbar begangen hat. Bei einem Freispruch im Zweifel ist der Sachverhalt offen geblieben. Hier den Verletzten von der Verfolgung seiner zivilrechtlichen Ansprüche auszuschließen, bedeutete einen nicht begründbaren Eingriff in Grundrechte (hier in die körperliche und seelische Integrität der gefährdeten Partei). Die Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK darf auch nach einem erfolgten Freispruch im Zweifel nicht zu einem Rechtsschutzdefizit dahin führen, dass sogar Grundrechtsverletzungen vor einem Zivilgericht nicht mehr verfolgt oder Sicherungsmittel verfügt werden dürften. Der Freispruch im Zweifel und seine Begründung können daher im Einzelfall nur ein Indiz dafür sein, dass sich der Tatverdacht verringert hat, mehr aber nicht. Dieser Umstand betrifft nur die Beweislage, nicht aber die Gefährdungslage. Nur deren Veränderung kann jedoch - wie ausgeführt - zum Gegenstand eines Aufhebungsantrags nach § 399 Abs 1 Z 2 EO gemacht werden.

Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO iVm §§ 78, 402 EO).

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