OGH 4Ob173/05b

OGH4Ob173/05b29.11.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Griß als Vorsitzende und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Gitschthaler als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Thomas T*****, vertreten durch Dr. Christian Pichler, Rechtsanwalt in Reutte, gegen die beklagte Partei Werner W***** (Deutschland), vertreten durch Dr. Georg Santer, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 17.394,56 EUR sA und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 20. Mai 2005, GZ 4 R 66/05w-32, womit das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 27. Dezember 2004, GZ 40 Cg 190/03g-27, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die in Ansehung eines Zuspruchs von 7.697,28 EUR sA, der Feststellung der Haftung der beklagten Partei zu 50 % und der Abweisung eines Mehrbegehrens von 2.000 EUR sA als unbekämpft in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Übrigen aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang (Abweisung von 7.697,28 EUR sA sowie der Haftungsfeststellung zu 50 % und im Kostenpunkt) an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Beide Streitteile befuhren am 20. Februar 2003 gegen 11.45 Uhr im Skigebiet Neunerköpfl in Tannheim eine zunächst etwa 25°, im Bereich der späteren Kollisionsstelle etwa 10 bis 15° geneigte, präparierte Skipiste. Der Kläger war mit einem Bekannten unterwegs. Sie fuhren entlang des linken Pistenrandes in Schwüngen kürzerer bis mittlerer Radien (3 bis 5 m) mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h talwärts, wobei der Kläger vor seinem Bekannten fuhr. Die Blickrichtung verläuft bei der geschilderten Fahrweise parallel zur Grundrichtung der Fortbewegung, also etwa in Fortsetzung der Hangfalllinie Richtung Talstation.

Die spätere Unfallstelle liegt am Ende eines relativ steilen gleichmäßig geneigten Hanges, wo dieser auslaufförmig flacher wird und gleichzeitig die Talabfahrt nach Tannheim links abzweigt. Der Kläger beabsichtigte, die Fahrt geradeaus Richtung Sessellift Talstation fortzusetzen.

Der Beklagte fuhr in länger gezogenen Schwüngen talwärts und hielt dabei eine Geschwindigkeit von etwa 30 bis 35 km/h ein. Er benützte den mittleren bis rechten Bereich der insgesamt 25 bis 30 m breiten, griffigen und gut präparierten Piste. Etwa 20 bis 30 m vor der Kollisionsstelle setzte der Beklagte zu einem in seiner Fahrtrichtung gesehen langgezogenen Linksschwung nahe der Hanghorizontalen Richtung Abzweigung Talabfahrt Tannheim an, sodass sich in weiterer Folge die Fahrlinien der Streitteile kreuzten. Die Blickrichtung des Beklagten verlief praktisch gleichlaufend zu seiner Fahrtrichtung. Es kam zur Kollision, die Unfallsbeteiligten stießen in einem Winkel von 90° zusammen. Der Beklagte fuhr dem Kläger über den Vorderbereich seiner Skier. Kurz vor der Kollision hatte er die linke Achsel bereits bergwärts gedreht, sodass von einer leicht hangabwärts gerichteten Blickrichtung auszugehen ist.

Hätte der Beklagte bei Querung der Piste und damit der Fahrlinie des Klägers nach hinten geblickt, hätte er den Kläger während der Annäherung an die Unfallstelle, sicher während der letzten drei Sekunden vor der Kollision, in einem Abstand von etwa 25 m sehen müssen. Der Kläger hat sich jedenfalls während der letzten 2 Sekunden vor dem Kollisionszeitpunkt im Blickfeld des Beklagten befunden. Der Beklagte selbst ist erst etwa eine halbe Sekunde vor dem späteren Zusammenstoß in das Blickfeld des Klägers getreten.

Der Beklagte, der eine höhere Geschwindigkeit als der Kläger einhielt und zunächst hinter dem Kläger gefahren war, näherte sich erst unmittelbar vor der Kollision der Fahrlinie des Klägers.

Der Kläger erlitt eine Unterkiefertrümmerfraktur, die operativ versorgt werden musste. Der dadurch verursachte Gesamtschaden des Klägers einschließlich Schmerzengeld beträgt 15.394,96 EUR.

Der Kläger begehrte vom Beklagten die Zahlung von 17.394,56 EUR sA als Schadenersatz sowie die Feststellung der Haftung für zukünftige Schäden mit dem Vorbringen, der Beklagte sei plötzlich von rechts hinten kommend vorne über die Skier des Klägers gefahren und mit seiner linken Schulter gegen den Kiefer des Klägers geprallt. Den Beklagten treffe das Alleinverschulden, weil er als von hinten kommender Skifahrer entweder eine überhöhte Geschwindigkeit eingehalten oder die Kontrolle über seine Skier verloren habe.

Der Beklagte wendete ein, vor ihm sei kein Skifahrer gefahren. Da der Kläger auf alle Fälle schneller als der Beklagte gefahren und von hinten gekommen sei, hätte er die vor ihm fahrenden Skifahrer besonders sorgfältig beobachten müssen, zumal er die Talabfahrt zur Gänze gequert habe. Das Alleinverschulden treffe daher den Kläger, der den Beklagten bei gehöriger Aufmerksamkeit zumindest zwei Sekunden vor dem Zusammenstoß hätte sehen müssen. Den Kläger treffe zumindest ein erhebliches Mitverschulden.

Das Erstgericht gab der Klage dem Grunde nach zur Gänze statt und wies lediglich ein Mehrbegehren von 2.000 EUR sA ab. Der von hinten kommende Skifahrer habe seine Fahrspur so zu wählen, dass er vor ihm fahrende Skifahrer nicht gefährde. Er dürfe nur mit einem Abstand überholen, der dem überholten Skifahrer für alle seine Bewegungen genügend Raum lasse. Der Beklagte habe gegen die FIS-Regeln 3 und 4 verstoßen, weshalb ihn das Alleinverschulden treffe.

Das Berufungsgericht sprach dem Kläger Schadenersatz lediglich im Ausmaß von 7.697,28 EUR sA zu und stellte die Haftung des Beklagten für zukünftige Unfallfolgen zu 50 % fest, das weitere Schadenersatzbegehren wies es ab. Da der Beklagte den gegen ihn gerichteten Verschuldensvorwurf nicht bekämpfte, setzte sich das Berufungsgericht lediglich mit dem behaupteten Mitverschulden des Klägers auseinander und gelangte ausgehend vom Gebot des Fahrens auf Sicht und der vorausschauenden Beobachtung, wonach jeder Skifahrer kontrolliert zu fahren, das vor ihm liegende Gelände genau zu beobachten und seine Geschwindigkeit seinem Können, dem Gelände und der Schneebeschaffenheit anzupassen hat, zu einem gleichteiligen Mitverschulden des Klägers im Sinn unterlassener Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten. Der Kläger habe entweder nicht dem beim Skilauf geltenden Grundsatz des Fahrens auf Sicht entsprochen oder sich der späteren Unfallstelle unaufmerksam genähert. Eine vorausschauende Beobachtung hätte es dem Kläger erlaubt, sein Fahrverhalten jenem des Beklagten anzupassen und rechtzeitig auszuweichen, ohne sich zu gefährden. Bei Mitbeobachtung des Seitenbereichs hätte der Kläger den Beklagten, wie sich aus dem Zeit-Weg-Diagramm des Sachverständigen ergebe, bereits so rechtzeitig wahrnehmen können, dass er kollisionsverhindernd hätte reagieren können. Beide Seiten hätten bei entsprechender Aufmerksamkeit kollisionsverhindernd reagieren können. Wenn der Kläger und der Beklagte erst unmittelbar vor der Kollision aufeinander aufmerksam geworden seien, sei ihnen ein Fehlverhalten vorzuwerfen, bei dessen Gegenüberstellung und Gewichtung eine Verschuldensaufteilung von 1:1 gerechtfertigt sei. Das Berufungsgericht sprach - aufgrund eines Abänderungsantrags des Klägers - aus, dass die Revision zulässig sei, weil Fragen der Gültigkeit des Vertrauensgrundsatzes und der Anforderungen an den Sorgfaltsmaßstab eines Skifahrers in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgingen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers, mit der er den Ersatz seines Gesamtschadens sowie die Feststellung der gänzlichen Haftung des Beklagten für zukünftige Schäden anstrebt, ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass das Verschulden des Beklagten am Zustandekommen des Skiunfalls infolge Verletzung der gebotenen Sorgfalt (Übersehen des bereits geraume Zeit im Sichtbereich befindlichen Klägers) feststeht. Strittig ist nur mehr, ob auch dem Kläger ein Sorgfaltsverstoß (in eigenen Angelegenheiten) anzulasten ist und bejahendenfalls wie beide Sorgfaltsverstöße gegeneinander abzuwägen sind.

Die vom Erstgericht getroffenen und vom Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten Feststellungen lassen eine abschließende Beurteilung eines allfälligen Mitverschuldens des Klägers nicht zu. Es fehlt insbesondere eine Feststellung, ob dem Kläger eine unfallvermeidende Reaktion tatsächlich möglich gewesen wäre, als er den Beklagten als Gefahr wahrnehmen hätte können und müssen (3 Ob 171/05a). Die Annahme eines Mitverschuldens des Klägers im Sinn eines ihm anzulastenden Aufmerksamkeitsmangels (sowie die Verschuldensteilung 1:1) beruht offenbar auf einer Interpretation der vom Sachverständigen seinem Gutachten angeschlossenen Skizze des Unfallorts. Die vom Erstgericht getroffene und vom Berufungsgericht übernommene Feststellung, „der Beklagte ist erst rund eine halbe Sekunde vor dem späteren Zusammenstoß in das Blickfeld des Klägers getreten", lässt nicht erkennen, ab welchem Zeitpunkt vor dem Unfall der Kläger unter Anwendung welcher konkreten Sorgfalt (Beobachtung des Bereichs vor ihm und seitlich mit oder ohne Blickwendung) tatsächlich ausreichend früh eine zweckmäßige und nicht ihn selbst gefährdende Ausweichbewegung hätte vornehmen können. Es fehlen auch Feststellungen zum Seitenabstand zwischen Kläger und Beklagten in Annäherung an die spätere Unfallstelle, zur Dauer der Schwünge des Klägers und des Beklagten nach rechts und links sowie zu ihrer relativen Geschwindigkeit (Annäherung). Dies alles wird nachzutragen sein, um abschließend beurteilen zu können, ob dem Kläger ein Sorgfaltsverstoß anzulasten ist und bejahendenfalls, in welchem Verhältnis er zum bereits dem Grunde nach feststehenden Sorgfaltsverstoß des Beklagten steht.

Dass die von verschiedenen Institutionen und Autoren ausgearbeiteten Verhaltensvorschriften für Skifahrer wie die Bestimmungen des vom österreichischen Kuratorium für Sicherheit vor Berggefahren erarbeiteten Pistenordnungsentwurfs (sogenannte POE-Regeln) oder die FIS-Regeln keine gültigen Rechtsnormen, insbesondere auch nicht Gewohnheitsrecht sind, ihnen aber als Zusammenfassung der Sorgfaltspflichten, die bei der Ausübung des alpinen Skisports im Interesse aller Beteiligten zu beachten sind und bei der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes, dass sich jeder so verhalten muss, dass er keinen anderen gefährdet, erhebliche Bedeutung zukommt, entspricht der ständigen Rechtsprechung (RIS-Justiz RS0023793). Ebenso seit langem ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass jeder Skifahrer kontrolliert fahren, das vor ihm liegende Gelände genau beobachten und seine Geschwindigkeit auf die Geländeverhältnisse einrichten muss (RIS-Justiz RS0023429). Ebenso ist der Vorrang des vorderen, langsameren Fahrers eine klar erkennbare, der Natur des Skilaufs entsprechende und allgemein anerkannte Verhaltensregel (RIS-Justiz RS0023404). Das Gebot des Fahrens auf Sicht gilt auch für Skifahrer (RIS-Justiz RS0023345). Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof festgehalten, dass auch der Skifahrer darauf vertrauen darf, dass die übrigen Pistenbenützer die natürlichen Verhaltensmaßregeln beim Skilauf einhalten (1 Ob 639/82 = JBl 1983, 258 = ZVR 1983/9; 11 Os 60/90 = ZVR 1991/55 = JBl 1991, 742). Der Vertrauensgrundsatz kommt nur dem nicht zugute, der selbst gegen die in den FIS-Regeln (beziehungsweise im POE) zusammengefassten Sorgfaltsgrundsätze verstößt (11 Os 60/90).

Sollte der Sachverhalt nicht soweit aufklärbar sein, dass ein dem Unfall (mit-)auslösender Sorgfaltsverstoß des Klägers daraus abgeleitet werden kann, müsste es aufgrund der den Beklagten für den Mitverschuldenseinwand treffenden Beweislast (stRsp; RIS-Justiz RS0022560) bei der vom Erstgericht seinem Urteil zugrunde gelegten Annahme des Alleinverschuldens des Beklagten am Zustandekommen des Skiunfalls bleiben. Sollte sich hingegen herausstellen, dass (auch) dem Kläger bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt eine unfallvermeidende Reaktion zumutbar gewesen wäre, wird die Verschuldensaufteilung unter Beachtung der in ständiger Rechtsprechung angewendeten Grundsätze vorzunehmen sein. Bei der Verschuldensteilung kommt es vor allem auf die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahren, auf die Wichtigkeit der verletzten Vorschrift für die Sicherheit des Verkehrs und auf den Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers an. Es ist auch zu berücksichtigen, wer das primär unfallauslösende Verhalten gesetzt hat (2 Ob 41/88 = ZVR 1988/172 uva; zuletzt 3 Ob 171/05a; RIS-Justiz RS0027466; Harrer in Schwimann², § 1304 ABGB Rz 40 mwN; Karner in KBB § 1304 ABGB Rz 4 mwN). Sollte sich herausstellen, dass dem infolge Unterlassung einer Bekämpfung des Berufungsurteils durch den Beklagten inzwischen feststehenden Verschulden des Beklagten (Überholen durch den von hinten kommenden schnelleren Skifahrer ohne Rücksicht auf den vorausfahrenden, seine Fahrtrichtung beibehaltenden Kläger) ein Aufmerksamkeitsfehler des Klägers, dem bloß die Unterlassung der Mitbeobachtung des seitlich zunächst in größerem Abstand überholenden und eines (allenfalls gerade noch möglichen) Ausweichmanövers anzulasten ist, gegenübersteht, erschiene eine gleichteilige Verschuldensaufteilung nicht angemessen, müsste doch der Aufmerksamkeitsfehler desjenigen, der bereits geraume Zeit den an sich langsamer vorausfahrenden Skifahrer wahrnehmen und in der Wahl seiner eigenen Fahrlinie hätte berücksichtigen können, wesentlich schwerer wiegen, als der Aufmerksamkeitsfehler jenes Skifahrers, der erst unmittelbar vor der Kollision den anderen Skifahrer wahrnehmen und unfallvermeidend reagieren hätte können (3 Ob 171/05a).

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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