OGH 10ObS56/02m

OGH10ObS56/02m19.3.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Thomas Keppert (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Günther Degold (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Josef G*****, Chemiearbeiter, *****, vertreten durch Mag. Gerhard Eigner, Rechtsanwalt in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Roßauer Lände 3, 1092 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 14. November 2001, GZ 11 Rs 362/01m-29, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 25. Juli 2001, GZ 16 Cgs 66/00b-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Der am 10. 1. 1950 geborene Kläger hat den Beruf eines Spenglers erlernt; seit Mai 1985 ist er jedoch ausschließlich als Chemiearbeiter tätig. Eine Ausbildung zum Chemiewerker hat der Kläger nicht absolviert. Zum Kennenlernen der Produktionsabläufe an seinem Arbeitsplatz, um die dabei geforderten, weitgehend selbständig zu verrichtenden Tätigkeiten ausüben zu können, benötigte der Kläger eine etwa zweijährige betriebsinterne Ausbildung. Aus dem Berufsbild des Chemiewerkers hat der Kläger keine Theoriekenntnisse erworben. Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, die von ihm seit 1985 ausgeübte Tätigkeit eines Maschinenarbeiters in der Kunstfasererzeugung auszuüben. Auch Verweisungstätigkeiten im Berufsfeld des Chemiewerkers sind ihm nicht mehr möglich. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könnte er noch die Tätigkeiten eines Portiers und einfache Überwachungsarbeiten durchführen. Mit Bescheid vom 8. 2. 2000 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 10. 11. 1999 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab 1. 12. 1999 gerichtete Klage ab. Da der Kläger nicht in einem erlernten oder angelernten Beruf tätig gewesen sei, könne er auf einfache Portiers- und Überwachungstätigkeiten verwiesen werden.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei. Bilde die zuletzt überwiegend ausgeübte Berufstätigkeit des Versicherten einen Teil eines Lehrberufs, sei zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen. Die Kenntnisse und Fähigkeiten für einen angelernten Beruf seien beim Kläger am Berufsbild des Lehrberufs Chemiewerker zu messen. Allerdings habe der Kläger durch seine praktische Tätigkeit Kenntnisse und Fähigkeiten nur auf einem Teilgebiet des Lehrberufs Chemiewerker erworben. Für das Vorliegen einer angelernten Tätigkeit im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG wäre es erforderlich, dass der Kläger unabhängig von den Verhältnissen an seinem Arbeitsplatz über alle wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfüge, die von Absolventen des Lehrberufs Chemiewerkers üblicherweise erwartet werden könnten. Durch die Ausübung von bloßen Teiltätigkeiten aus dem Lehrberuf Chemiewerker habe der Kläger aber durch praktische Arbeiten keine qualifizierten Fähigkeiten und Kenntnisse erworben, die denen im Lehrberuf Chemiewerker gleichzuhalten seien.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt. Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne ihres Eventualantrages berechtigt. In der Revision wird der Standpunkt vertreten, dass zwar der vom Kläger ausgeübte Beruf keinem gesetzlich geregelten Lehrberuf entsprochen habe; der Kläger habe aber "im konkret erlernten Beruf" eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt, wobei die in der Praxis erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang mit einem Lehrberuf gleichzuhalten seien. Gerade im Bereich der chemischen Industrie sei die Spezialisierung der Arbeiten so entwickelt, dass bei einem bestimmten Berufsbild - wie etwa dem des Chemiewerkers - nur ein geringes Segment der Lehrbildinhalte gefordert werde.

Nun ist richtig, dass ein angelernter Beruf nicht einem gesetzlich geregelten Lehrberuf entsprechen muss (RIS-Justiz RS0084602). Allerdings müssen die qualifizierten, in der Praxis erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten an Qualität und Umfang jenen in einem Lehrberuf gleichzuhalten sein. Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausübte, einen Teil eines Lehrberufs, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen (SSV-NF 4/158; SSV-NF 7/71; 10 ObS 103/99s = ARD 5062/18/99).

Auch in diesem Fall ist nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild dieses Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, dass er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Es reicht allerdings nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 5/122, 7/108, 9/96 jeweils mwN). Das Fehlen von einzelnen, nicht zentralen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Lehrberufes steht dagegen der Annahme des Berufsschutzes nicht entgegen (SSV-NF 7/108, 12/5, 14/47 ua). So wird beispielsweise das Fehlen der Fähigkeit zur Verrichtung von Arbeiten, die zwar in der Lehrausbildung vorgesehen sind, in dem Lehrberuf aber nur von einzelnen spezialisierten Arbeitern ausgeführt werden, nicht gegen die Annahme eines angelernten Berufes sprechen (SSV-NF 1/48 ua). Die Kenntnisse und Fähigkeiten für einen angelernten Beruf sind beim Kläger, der im maßgebenden Zeitraum vor dem Stichtag 1. 12. 1999 Tätigkeiten des Lehrberufs Chemiewerker verrichtet hat, am Berufsbild dieses dreijährigen Lehrberufs zu messen, wie er bis 30. 6. 2000 bestanden hat (nunmehr Lehrberuf "Chemieverfahrenstechnik", BGBl II 2000/185). Dabei gehört die Feststellung der Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte verfügt, zur Tatfrage; die Beurteilung, ob er in einem angelernten Beruf tätig war, gehört zur rechtlichen Beurteilung (SSV-NF 6/69 mwN).

Aus den Feststellungen ergibt sich nicht mit hinreichender Eindeutigkeit, welche Kenntnisse und Fähigkeiten üblicherweise von ausgelernten Chemiewerkern in den auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Berufes unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden und ob der Kläger über diese Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt. Nach den schon getroffenen Feststellungen hat der Kläger immerhin eine etwa zweijährige betriebsinterne Ausbildung absolvieren müssen, um die Produktionsabläufe an seinem Arbeitsplatz kennen zu lernen und die von ihm weitgehend selbständig auszuführenden Tätigkeiten verrichten zu können. Auch wenn er aus dem Berufsbild des Chemiewerkers keine Theoriekenntnisse erworben hat, ist er doch schon seit 1985 als Maschinenarbeiter in der Kunstfasererzeugung tätig, sodass die Möglichkeit besteht, dass er durch praktische Arbeit diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, die üblicherweise von ausgelernten Chemiewerkern in den auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten erwartet werden. Nach der Rechtsprechung fällt der Mangel an Kenntnissen von - im Rahmen der Berufsausbildung vermitteltem - Theoriewissen (nur) dann gegen einen Berufschutz des Klägers ins Gewicht, wenn es sich um Kenntnisse handelt, die für die praktische Ausübung der Tätigkeit am Arbeitsmarkt erforderlich sind. Im weiteren Verfahren ist daher zu prüfen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten üblicherweise von ausgelernten Chemiewerkern in den auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten dieses Berufes unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden und ob der Kläger über diese Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt. In Bezug auf die fehlenden Theoriekenntnisse ist zu klären, ob diese für die praktische Ausübung der Tätigkeit am Arbeitsmarkt erforderlich sind, weil es darauf ankommt, was hievon von gelernten Arbeitern am Arbeitsmarkt üblicherweise verlangt wird.

Wird die Frage, ob der Kläger im Beruf des Chemiewerkers angelernt wurde, bejaht, ist weiters zu klären, wann der Anlernvorgang allenfalls abgeschlossen war (vgl SSV-NF 7/129) und ob der Kläger im Beobachtungszeitraum in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate eine Berufstätigkeit ausübte, für die Kenntnisse und Fähigkeiten des angelernten Berufes erforderlich waren (SSV-NF 2/98, 4/166, 8/103). Der Hinweis des Klägers, dass auch gelernte Chemiewerker auf dem konkreten Arbeitsplatz nicht immer auf allen Teilgebieten ihres Berufes eingesetzt werden, ist nur für die Frage der Erhaltung eines bereits erworbenen Berufsschutzes bedeutsam. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht darum, ob durch wesentliche Teiltätigkeiten eines Lehrberufs der einmal erworbene Berufsschutz aufrechterhalten werden kann, sondern ob durch eine angelernte Tätigkeit ein Berufsschutz erworben werden kann (SSV-NF 5/117, 9/99, 13/51).

Da somit zusammenfassend wesentliche Fragen bisher nicht erörtert und die erforderlichen Feststellungen nicht getroffen wurden, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden, ob der Kläger Berufsschutz genießt. Das Verfahren erweist sich daher als ergänzungsbedürftig, weshalb der Revision Folge zu geben war. Offenbar bedarf es noch einer Verhandlung in erster Instanz, um die Sache spruchreif zu machen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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