OGH 10ObS103/99s

OGH10ObS103/99s1.6.1999

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ehmayr und Dr. Fellinger sowie die fachkundigen Laienrichter Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Peter Stattmann (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Theresia O*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, 1092 Wien, Roßauer Lände 3, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 3. Februar 1999, GZ 7 Rs 169/98x-32, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 11. Mai 1998, GZ 36 Cgs 447/97x-27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Rechtliche Beurteilung

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes, daß der Klägerin kein Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG zukommt und sie daher die Voraussetzungen für eine Zuerkennung der Invaliditätspension nach § 255 ASVG nicht erfüllt, ist zutreffend (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Den Revisionsausführungen ist noch folgendes entgegenzuhalten:

Nach § 255 Abs 2 ASVG liegt ein angelernter Beruf vor, wenn der Versicherte eine Tätigkeit ausübt, für die es erforderlich ist, durch praktische Arbeit qualifizierte Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben, welche jenen in einem erlernten Beruf gleichzuhalten sind. Bildet die Berufstätigkeit des Versicherten, die er während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag überwiegend ausübte, einen Teil eines Lehrberufes, so ist zur Lösung der Frage des Berufsschutzes dieser Lehrberuf zum Vergleich heranzuziehen (SSV-NF 7/71; 4/158 ua). Auch in diesem Fall ist nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes der Berufsschutz nicht erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte alle Kenntnisse und Fähigkeiten besitzt, die nach den Ausbildungsvorschriften zum Berufsbild dieses Lehrberufes zählen und daher einem Lehrling während der Lehrzeit zu vermitteln sind. Es kommt vielmehr darauf an, daß er über die Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die üblicherweise von ausgelernten Facharbeitern des jeweiligen Berufes in dessen auf dem Arbeitsmarkt gefragten Varianten (Berufsgruppe) unter Berücksichtigung einer betrieblichen Einschulungszeit verlangt werden. Es reicht allerdings nicht aus, wenn sich die Kenntnisse oder Fähigkeiten nur auf ein Teilgebiet oder mehrere Teilgebiete eines Tätigkeitsbereiches beschränken, der von ausgelernten Facharbeitern allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird (SSV-NF 9/96; 7/108; 5/122 jeweils mwN). Das Fehlen von einzelnen, nicht zentralen Kenntnissen und Fähigkeiten eines Lehrberufes steht dagegen der Annahme des Berufsschutzes nicht entgegen (SSV-NF 7/108 ua). So wird beispielsweise das Fehlen der Fähigkeit zur Verrichtung von Arbeiten, die zwar in der Lehrausbildung vorgesehen sind, in dem Lehrberuf aber auch nur von einzelnen spezialisierten Arbeitern ausgeführt werden, nicht gegen die Annahme eines angelernten Berufes sprechen (SSV-NF 1/48 ua). Die Kenntnisse und Fähigkeiten für einen angelernten Beruf sind bei der Klägerin, die im maßgebenden Zeitraum vor dem Stichtag unbestritten Teiltätigkeiten der Lehrberufe Fleischerin, Köchin und Einzelhandelskauffrau verrichtet hat, am Berufsbild dieser jeweils 3-jährigen Lehrberufe zu messen. Dabei gehört die Feststellung der Kenntnisse und Fähigkeiten, über die die Versicherte verfügt, zur Tatfrage; die Beurteilung, ob sie in einem angelernten Beruf tätig war, gehört zur rechtlichen Beurteilung (SSV-NF 6/69 mwN).

Aus den Feststellungen ergibt sich, daß die Klägerin wohl Teiltätigkeiten dieser fraglichen Berufe ausgeübt hat, aber keineswegs über alle Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die dem jeweiligen Berufsbild entsprechen. So haben die Vorinstanzen aus diesen Berufsbildern eine Reihe von Fähigkeiten und Kenntnissen festgestellt, die die Klägerin bei ihrer Tätigkeit nicht erworben hat. Diese der Klägerin fehlenden qualifzierten Kenntnisse und Fähigkeiten betreffen auch zentrale Bereiche der jeweiligen Berufe, wie bei der Fleischerin das Schlachten, Ausbeinen, Wursten und Selchen sowie Kenntnisse über Wurstwaren, bei der Köchin die Herstellung von Vorspeisen, Süß- und Mehlspeisen, Grundkenntnisse der kaufmännischen Küchenführung sowie von Roh- und Schonkost und die Kenntnis der Speisekartengestaltung und bei der Einzelhandelskauffrau wesentliche kaufmännische Kenntnisse insbesondere auf dem Gebiet der Kassaführung, Buchführung, Preisauszeichnung und Werbung. Es handelt sich dabei jeweils um wesentliche Teilgebiete, die einen integrierenden Bestandteil dieser Lehrberufe ausmachen. Die Klägerin hat somit viele wesentliche Tätigkeiten, die eine gelernte Fleischerin, Köchin und Einzelhandelskauffrau beherrschen muß, nicht ausgeübt und auf diesen Teilgebieten keine qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten erworben.

Wie bereits dargelegt wurde, reicht es nach der ständigen Rechtsprechung nicht aus, wenn die Kenntnisse und Fähigkeiten nur ein Teilgebiet eines Tätigkeitsbereiches umfassen, der von gelernten Arbeitern ganz allgemein in viel weiterem Umfang beherrscht wird. Entgegen der von der Klägerin auch in ihrer Revision vertretenen Ansicht reicht es daher für ihre Qualifikation als angelernte Arbeiterin im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG nicht aus, daß sie über die für die speziellen Tätigkeiten als Verkäuferin in einer Fleischerei ohne Tätigkeit an der Kasse, Rotisseur, Grilleur, Entremetier und Saladier notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, da es sich bei diesen Tätigkeiten im Ergebnis um bloße Teiltätigkeiten der Lehrberufe einer Einzelhandelskauffrau bzw einer Köchin handelt. Der Hinweis der Klägerin, daß auch gelernte Köche auf dem konkreten Arbeitsplatz nicht immer auf allen Teilgebieten ihres Berufes eingesetzt werden, sondern insbesondere in größeren Betrieben auf die Zubereitung bestimmter Speisen spezialisiert sind, wäre nur für die Frage der Erhaltung eines bereits erworbenen Berufsschutzes bedeutsam. Hier geht es aber nicht darum, ob durch wesentliche Teiltätigkeiten eines Lehrberufes der einmal erworbene Berufsschutz aufrechterhalten werden kann, sondern ob durch eine angelernte Tätigkeit ein Berufsschutz erworben werden kann (SSV-NF 9/99; 5/117; jüngst 10 ObS 84/99x). Für das Vorliegen einer angelernten Tätigkeit im Sinne des § 255 Abs 2 ASVG wäre es jedoch, wie bereits dargelegt, erforderlich, daß die Klägerin unabhängig von den Verhältnissen an einem konkreten Arbeitsplatz über alle wesentlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die von einem Absolventen der hier in Betracht kommenden Lehrberufe üblicherweise erwartet werden können. Dazu gehören aber auch die der Klägerin in den angeführten Teilgebieten dieser Berufe fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten, und zwar unabhängig davon, ob es auf dem Arbeitsmarkt auch spezialisierte Tätigkeiten in diesen Berufen gibt, zu deren Ausübung diese Teilkenntnisse des Lehrberufes nicht erforderlich sind. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus den in der Revision zitierten Entscheidungen SSV-NF 5/51 und 5/122.

Zutreffend hat das Berufungsgericht weiters dargelegt, daß ein angelernter Beruf keinem gesetzlich geregelten Lehrberuf entsprechen muß, sondern es auch möglich ist, durch praktische Arbeit Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben, die Teiltätigkeiten aus mehreren gesetzlich geregelten Lehrberufen entsprechen (Mischberuf), der Klägerin jedoch auch bei Berücksichtigung dieser Erwägungen kein Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG zukommen kann. Gegen die Richtigkeit dieser Ausführungen wird auch in der Revision nichts vorgebracht.

Daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jedenfalls ausreichende Verweisungstätigkeiten gegeben sind, die mit dem festgestellten medizinischen Leistungskalkül vereinbar sind, wird auch in der Revision nicht in Frage gestellt. Damit ist aber die Klägerin nicht invalid im Sinn des maßgeblichen § 255 Abs 3 ASVG.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Eine Kostenentscheidung hatte zu unterbleiben, weil von der Klägerin für das Revisionsverfahren keine Kosten verzeichnet wurden.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte