OGH 10ObS398/01d

OGH10ObS398/01d12.2.2002

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Leopold Smrcka (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Ing. Wolfgang Z*****, vertreten durch Dr. Hans Otto Schmidt, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner und andere Rechtanwälte in Wien, wegen Höhe der Versehrtenrente, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18. September 2001, GZ 11 Rs 287/01g-15, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Mai 2001, GZ 7 Cgs 119/00a-10, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Rechtsmittelkosten sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 13. 6. 2000 wurde die Erkrankung (Hepatitis C), die sich der Kläger als freiwilliger Blutplasmaspender zugezogen hat, gemäß § 176 Abs 1 Z 2 iVm §§ 176 Abs 2 und 177 ASVG als Berufskrankheit (Nr 38 der Anlage zum ASVG: "Infektionskrankheiten") anerkannt, der Zeitpunkt des Eintrittes des Versicherungsfalles mit 15. 9. 1998 festgestellt und dem Kläger ab 16. 9. 1998 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH - ab 1. 1. 2000 als Dauerrente - gewährt.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen und auf die Gewährung einer höheren Versehrtenrente gerichteten Klagebegehren insoweit statt, als es in Wiederholung des angefochtenen Bescheides die beklagte Partei verpflichtete, dem Kläger für die Folgen der Erkrankung an Hepatitis C ab 16. 9. 1998 eine Versehrtenrente von 20 vH der Vollrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren. Das Begehren auf Zuerkennung einer höheren Versehrtenrente wurde abgewiesen. Nach seinen Feststellungen liegt beim Kläger eine chronische Hepatitis C, Genotyp I a mit einer geringfügigen Erhöhung der Transaminasen vor. Außerdem besteht eine Befindlichkeitsstörung (Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, leichte Ablenkbarkeit). Diese psychiatrische Problematik kann allerdings nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit der chronischen Hepatitis C zugeordnet werden, sondern sind solche depressiven Störungen grundsätzlich häufig. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit ab 16. 8. 1998 beträgt 20 vH. Rechtlich beurteilte das Erstgericht diesen Sachverhalt dahin, dass dem Kläger auf Grund der festgestellten medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH als Dauerrente gebühre.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass der beklagten Partei ab 16. 9. 1998 eine vorläufige Zahlung von S

5.500 monatlich auferlegt wurde. Es erachtete die Beweisrüge als nicht berechtigt und verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass in der vom internistischen Sachverständigen vorgenommenen Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 20 vH neben den geringfügig erhöhten Transaminasewerten auch gewisse leistungsbeeinträchtigende Symptome der Krankheit (Minderung der Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, verstärkte Müdigkeit und Anfälligkeit gegen Muskelzerrungen ohne körperliche Belastung) berücksichtigt worden seien. Hingegen seien die aus einer beim Kläger auch festgestellten Depression resultierenden Befindlichkeitsstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, leichte Ablenkbarkeit) nach den unbedenklichen Ausführungen des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen nicht eindeutig auf die Infektionskrankheit des Klägers zurückzuführen. Bei dem vom Kläger geltend gemachten Umstand, dass Ermüdungs- und Erschöpfungszustände sowie erhebliche Schlafstörungen Folgen der Erkrankung an Hepatitis C seien, handle es sich nicht um eine gerichtsbekannte Tatsache. Da im vorliegenden Fall auch kein Tatbestand mit typischem formelhaftem Geschehensablauf angenommen werden könne, erscheine der Anscheinsbeweis nicht zulässig. Die beim Kläger durch die Depression bedingte psychische Beschwerdeproblematik könne nach den Ausführungen des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen zahlreiche andere Ursachen haben, weil depressive Störungen grundsätzlich häufig seien, sodass auch sonst ein entsprechendes Erkrankungsrisiko bestehe. Die höhere Wahrscheinlichkeit bei Hepatitis C erlaube daher im Hinblick auf die Vielzahl in Betracht kommender anderer Ursachen nicht die Annahme eines typischen formelhaften Geschehensablaufes. Schließlich verneinte das Berufungsgericht das Vorliegen der vom Kläger weiters geltend gemachten sekundären Feststellungsmängel. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne eines Zuspruches einer Versehrtenrente im Ausmaß von 40 vH abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die beklagte Partei beantragt, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Der Kläger macht in seinen Revisionsausführungen geltend, dass es sich bei den bei ihm bestehenden Ermüdungs- und Erschöpfungszuständen sowie erheblichen Schlafstörungen um gerichtsbekannte Folgen seiner Erkrankung an Hepatitis C handle. Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden, weil die Offenkundigkeit einer Tatsache voraussetzen würde, dass sie ohne besonderes (medizinisches) Fachwissen einem großen Personenkreis bekannt ist (RIS-Justiz RS0040237). Auch der Hinweis auf angebliche Feststellungen in anderen Verfahren vermag schon deshalb nichts daran zu ändern, weil eine entsprechende, in einem anderen Verfahren getroffene Feststellung nicht ohne weiteres übernommen werden kann. Solange nämlich eine Tatsache nicht auf Grund einer Mehrzahl gleichartiger Entscheidungen als offenkundig anzusehen ist, muss sie in jedem Verfahren von den Tatsacheninstanzen geprüft und auf Grund der von ihnen aufgenommenen Beweise neu festgestellt werden, wobei Vorentscheidungen nur im Rahmen der Würdigung der Beweise zum Tragen kommen können (SSV-NF 6/105 ua; RIS-Justiz RS0040215).

Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind nach ständiger Rechtsprechung besonders in Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Regeln des sogenannten Anscheinsbeweises modifiziert anzuwenden (SSV-NF 11/41 ua; RIS-Justiz RS0110571). Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher Ablauf und nicht ein atypischer gegeben ist (RIS-Justiz RS0040266 uva). Steht ein typischer Geschehensablauf fest, der nach der Lebenserfahrung auf einen bestimmten Kausalzusammenhang hinweist, gelten diese Tatbestandsvoraussetzungen auch im Einzelfall auf Grund ersten Anscheins als erwiesen. Die Entkräftung des Anscheinsbeweises geschieht durch den Beweis, dass der typische formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern, dass die ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes besteht. In Sozialrechtssachen ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senates der Anscheinsbeweis nur dann entkräftet, wenn dem atypischen Geschehensablauf zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt (SSV-NF 5/140 ua). Einen Grundsatz, dass im Zweifel zu Gunsten des Versicherten zu entscheiden ist, gibt es nicht.

Der Anscheinsbeweis ist somit nur dann zulässig, wenn eine typische formelhafte Verknüpfung zwischen der tatsächlichen bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement besteht. Er darf daher nicht dazu dienen, Lücken der Beweisfüllung durch bloße Vermutungen auszufüllen (RIS-Justiz RS0040287 ua). Ob in einem bestimmten Fall ein Anscheinsbeweis zulässig ist, ob es sich also um einen Tatbestand mit typischem Geschehensablauf handelt, der eine Verschiebung von Beweisthema und Beweislast ermöglicht, ist eine Frage der Beweislast und damit eine Frage der rechtlichen Beurteilung, die im Revisionsverfahren überprüfbar ist (RIS-Justiz RS0022624 ua). Ob der Anscheinsbeweis erbracht oder erschüttert worden ist, ist hingegen eine vom Obersten Gerichtshof nicht mehr überprüfbare Beweiswürdigungsfrage (SSV-NF 4/150 mwN ua). Von diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung nicht abgewichen. Es hat auf die allgemein bekannte und vom Erstgericht auch festgestellte Tatsache, dass depressive Befindlichkeitsstörungen häufig auftreten, sowie auf die weiteren Ausführungen des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen verwiesen, wonach die beim Kläger durch die Depressivität bedingte psychische Beschwerdeproblematik abgesehen von der Hepatitis C-Erkrankung auch zahlreiche andere Ursachen haben kann und insoweit auch ohne diese Erkrankung ein entsprechendes Erkrankungsrisiko (Lebenszeitprävalenz bis zu 30 %) besteht, sodass die psychischen Befindlichkeitsstörungen zumindest nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit der Hepatitis C-Erkrankung angelastet werden können. Es ist allgemein bekannt, dass psychische Befindlichkeitsstörungen verschiedenste Ursachen haben können, sodass es nicht schadet, dass vom Erstgericht die dafür in Betracht kommenden Ursachen nicht konkret festgestellt wurden. Da somit nach zutreffender Ansicht des Berufungsgerichtes im vorliegenden Fall kein Tatbestand mit typischem formelhaftem Geschehensablauf angenommen werden kann, liegen die Voraussetzungen für eine Beweiserleichterung durch den Anscheinsbeweis nicht vor.

Weiters macht der Kläger geltend, dass es auch in seinem Fall des in der Entscheidung 10 ObS 122/00i angeführten dreistufigen Verfahrens zur Ermittlung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit bedürfe, weil es keinen Unterschied machen könne, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit null oder - im Falle des Klägers - in einem viel zu geringen Ausmaß festgestellt worden sei.

Der Oberste Gerichtshof hat in dieser ebenfalls eine Hepatitis C-Erkrankung betreffenden Entscheidung 10 ObS 122/00i (= JBl 2001,

120) unter Hinweis auch auf die vergleichbare deutsche Praxis darauf verwiesen, dass bei der Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit vor allem zwei Faktoren von Bedeutung sind: Der medizinisch festzustellende Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Folgen des Versicherungsfalls einerseits und der Umfang der dem Verletzten (Erkrankten) dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens andererseits. Für eine vereinfachte Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit hat sich im Laufe der Zeit ein "Gerüst von MdE-Werten" herausgebildet, die als ständige Übung Beachtung beanspruchen können. Während aber die Beeinträchtigungen durch den unfallbedingten Verlust von Gliedmaßen auch einem medizinischen Laien offenkundig sein können, ist dies hinsichtlich der Auswirkungen einer Infektionskrankheit wie die Virushepatitis C nicht von vornherein der Fall. Hier wird es daher zur Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ausnahmsweise eines drei-stufigen Verfahrens bedürfen, also der Feststellungen zunächst der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Klägers durch die Berufskrankheit, dann aber auch des Umfangs der ihm dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens und erst dann des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass auch für die Virushepatitis in der deutschen Praxis ein MdE-Bewertungsschema ermittelt wurde, wobei sich das neuere Schema (Schönberger/Mehrtens/Valentin6 732 f) an quantitativen Bewertungen von entzündlicher Aktivität und morphologischem Stadium (Ausmaß der Fibrose) orientiert, wobei die Möglichkeit einer individuell begründeten modifizierten Bewertung etwa unter Berücksichtigung des klinischen Befindens, der serologischen und molekularbiologischen Befunde, der Transaminasen-Aktivitäten oder der aktuellen Beeinflussung durch therapeutische Maßnahmen offensteht. Diese dargelegten Grundsätze haben jedenfalls bis zum Vorliegen - für die MdE-Einschätzung bei einer Hepatitis C-Erkrankung - allgemein anerkannter Erfahrungssätze, die eine gleiche und sachgerechte Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit in diesen Fällen ermöglichen, Anwendung zu finden. Die vom Erstgericht getroffenen Feststellungen lassen eine abschließende Beurteilung der Frage, ob die medizinische Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers mit 20 vH zutrifft, nicht zu. Es fehlen insbesondere Feststellungen darüber, in welchem Umfang die Leistungsfähigkeit des Klägers durch die Folgen seiner Berufskrankheit beeinträchtigt ist und von welchen Arbeiten der Kläger dadurch ausgeschlossen ist. Schließlich wird mit dem internistischen Sachverständigen zu erörtern sein, ob sich aufgrund dieser noch ergänzend festzustellenden Beurteilungskriterien und unter Bedachtnahme auf die in der deutschen Praxis für die Virushepatitis entwickelten Bewertungsschema (vgl die Nachweise in JBl 2001, 120) eine Änderung in der Einschätzung der medizinischen Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers ergibt. Auf die Frage, ob im vorliegenden Fall der beklagten Partei im Hinblick auf den nochmaligen Zuspruch der bereits im angefochtenen Bescheid zuerkannten Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH durch das Erstgericht eine vorläufige Zahlung gemäß § 89 Abs 2 ASGG aufzuerlegen war oder ob ein solcher Ausspruch hätte unterbleiben müssen, weil die beklagte Partei ohnedies gemäß § 71 Abs 2 ASGG ihre bescheidmäßig festgestellte Zahlungsverpflichtung bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens vorläufig weiter zu erfüllen hat, muss nicht eingegangen werden, da von der beklagten Partei gegen die Auferlegung der vorläufigen Zahlung durch das Berufungsgericht kein Rechtsmittel erhoben wurde. Es sei daher nur zur Klarstellung darauf hingewiesen, dass es sich dabei um idente Leistungsverpflichtungen der beklagten Partei handelt. Da für die rechtliche Beurteilung wesentliche Fragen ungeklärt blieben, waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Ergänzung des Verfahrens aufzuheben.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte