Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Der Kläger war bei der Beklagten ab 18. 11. 1991 als Vertragsarbeiter bei der Müllabfuhr beschäftigt. Im Dienstvertrag wurde die Anwendung der Vertragsbedienstetenordnung der Stadt Linz (im Folgenden VBO) vereinbart. Mit Schreiben der Beklagten vom 16. 7. 1997, das vom Kläger am 25. 7. 1997 übernommen wurde, wurde er gemäß § 31 Abs 2 lit b und c VBO entlassen.
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass sein Dienstverhältnis über den 25. 7. 1997 hinaus aufrecht bestehe. Die Entlassung sei unbegründet gewesen und daher nicht rechtswirksam. Am verspäteten Erscheinen vom 11. 7. 1997 treffe ihn kein Verschulden. Sein Verschlafen an diesem Tag sei auf nächtliche Kieferschmerzen und Medikamenteneinnahme zurückzuführen. Es sei daher der rechtmäßige Hinderungsgrund einer Arbeitsunfähigkeit bewirkenden Krankheit vorgelegen. Sein Fernbleiben hätte im Übrigen problemlos durch einen Ersatzmann ausgeglichen werden können.
Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wendete ein, dass der Kläger trotz Ermahnungen wiederholt verspätet zum Dienst erschienen sei. Zuletzt habe er am 11. 7. 1997 neuerlich verschlafen und sei um 3 1/2 Stunden zu spät zum Dienst erschienen. Dies habe unter Berücksichtigung des Dienstablaufes bei der Müllabfuhr eine besonders schwere Verletzung der Dienstpflicht dargestellt. Da die Ermahnungen den Kläger nicht zur Einsicht gebracht hätten, sei er letztlich entlassen worden. Sollte kein Entlassungsgrund vorliegen, sei jedenfalls der Kündigungsgrund des § 28 Abs 2 lit a VBO gegeben.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dabei ging es zuzüglich zum eingangs wiedergegebenen Sachverhalt von folgenden Feststellungen aus:
Dienstbeginn der bei der Müllabfuhr tätigen Dienstnehmer der Beklagten - so auch des Klägers - war 5.30 Uhr. Die Einhaltung der Dienstzeit ist Voraussetzung für ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Arbeitsablaufes. Darauf werden die einzelnen Dienstnehmer bei der Müllabfuhr auch hingewiesen. Fünf Arbeiter inklusive eines Fahrers bilden jeweils eine sogenannte Kolonne. Die Entleerung der Mülltonnen ist arbeitsteilig organisiert. Erscheint ein Arbeitnehmer aus der Kolonne nicht rechtzeitig am vereinbarten Treffpunkt, muss erst über Funk ein sogenannter Springer als Ersatzmann organisiert werden. Dieser stösst grundsätzlich nicht vor 7.00 Uhr zur Kolonne. Bis dahin müssen die anderen Dienstnehmer seine Tätigkeit mitverrichten.
Während es zunächst hinsichtlich des Klägers keine Beanstandungen bezüglich der Einhaltung der Dienstzeit gab, wurde in der Dienstbeschreibung vom 28. 8. 1995 festgehalten, dass der Kläger im Zeitraum 1. 7. 1992 bis 30. 6. 1995 wiederholt verschlafen habe. Auch am 16. 6. 1995 erschien der Kläger erst um 6.15 Uhr zum Dienst, da er verschlafen hatte. Der Kläger verspätete sich auch in der Folge am 6. 3., 14. 5., 3. 6. und 12. 7. 1996 jeweils zufolge Verschlafens. Am 12. 7. 1996 rechtfertigte er sich damit, dass sein elektrischer Wecker infolge eines nächtlichen Gewitters ausgefallen sei. Der Kläger wurde bei jedem Zuspätkommen von seinem Vorgesetzten mündlich ermahnt. Am 2. 9. 1996 wurde er auch schriftlich ermahnt und ihm für den Fall weiterer Pflichtverletzungen die Auflösung des Dienstverhältnisses angedroht. Am 23. 4. 1997 erschien der Kläger wieder nicht zum Dienst, nachdem er auf dem Weg zur Arbeit einen Autounfall erlitten hatte. Er verständigte seinen Vorgesetzten jedoch erst um 6.50 Uhr. Daraufhin wurde der Kläger am 16. 5. 1997 neuerlich schriftlich ermahnt, Dienstverhinderungen unverzüglich zu melden, und darauf hingewiesen, dass ein wiederholtes Zuspätkommen einen Kündigungs- oder Entlassungsgrund darstelle.
Am 9. 7. 1997 wurde dem Kläger ein eitriger Zahn gezogen. Am 10. 7. 1997 arbeitete er trotz damit verbundener Schmerzen. Am 11. 7. 1997 verschlief der Kläger wieder, nachdem er mehrere schlaffördernde Schmerztabletten eingenommen hatte, und erschien schließlich in der Früh statt um 5.30 Uhr erst um 9.20 Uhr zum Dienst. Vor seinem unmittelbaren Eintreffen an der Dienststelle informierte er den Dienstgeber nicht von seiner Verspätung. Da gerade Haupturlaubszeit herrschte, bereitete die Abstellung einer Ersatzkraft diesmal besondere Probleme. Nachdem der Kläger vom "Amt für Personal und Organisation" zu diesem neuen Sachverhalt befragt worden war, wurde er mit Schreiben vom 16. 7. 1997 entlassen.
Das Erstgericht vertrat auf Grund der getroffenen Tatsachenfeststellungen die Rechtsansicht, dass dem Kläger vorwerfbar sei, dass er sich am 10. 7. 1997 trotz Schmerzen nicht in ärztliche Behandlung begeben, sondern Schlafmittel in zu hoher Dosierung eingenommen habe, wodurch er erst um 11.30 Uhr munter geworden sei und den Dienstgeber nicht rechtzeitig von seinem Fernbleiben informiert habe. Die Entlassung des Klägers sei zu Recht erfolgt, weil seine Tätigkeit bei der Müllabfuhr besondere Pünktlichkeit verlangt habe. Die Entlassungsfolge hätte dem Kläger nach den vorhergehenden Mahnungen bewusst sein müssen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Es führte zufolge Mängelrüge des Klägers in der Berufung und zulässigen neuen Vorbringens der (in erster Instanz nicht qualifiziert vertretenen) Beklagten in der Berufungsbeantwortung eine "Beweisergänzung" durch und gelangte dabei zu folgenden weiteren, hinsichtlich der Vorfälle vom 23. 4. und 11. 7. 1997 vom Erstgericht abweichenden Feststellungen:
Der Vorgesetzte des Klägers wurde am 23. 4. 1997 von der Kolonne des Klägers verständigt, dass der Kläger nicht zum Dienst erschienen sei. Als der Kläger um 6.50 Uhr anrief, teilte er mit, dass er eine Autopanne gehabt habe. Tatsächlich hatte er verschlafen, wie er bei seiner nachfolgenden Befragung am 6. 5. 1997 angab.
Hinsichtlich des 11. 7. 1997 ist nicht feststellbar, dass der Kläger auf Grund einer durch Zahn- bzw Kieferschmerzen bedingten längeren Schlaflosigkeit in der Nacht vom 10. auf den 11. 7. 1997 oder als Folge der Einnahme von Medikamenten zur Bekämpfung solcher Schmerzen verschlafen hat.
Das Berufungsgericht vertrat die Rechtsansicht, dass der Kläger gemäß § 31 Abs 2 lit c zweiter Tatbestand VBO, der dem § 34 Abs 2 lit c zweiter Tatbestand VBG und dem § 27 Z 4 erster Tatbestand AngG entspreche, zu Recht entlassen worden sei. Das Dienstversäumnis sei erheblich, und zwar sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf das gewichtige Interesse des Dienstgebers am pünktlichen Erscheinen der Dienstnehmer. Ein rechtmäßiger Hinderungsgrund am rechtzeitigen Erscheinen des Klägers sei nicht erwiesen worden. Im Übrigen sei aber auch der Kündigungstatbestand der gröblichen Verletzung der Dienstpflicht erfüllt worden.
Gegen die Berufungsentscheidung richtet sich die Revision des Klägers wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Revision ist im Sinne des gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Vermag das Berufungsgericht den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes nicht zu folgen, dann hat es nach § 488 ZPO vorzugehen und sich durch Wiederholung und allenfalls auch Ergänzung der in erster Instanz aufgenommen, seiner Ansicht nach unrichtig gewürdigten Beweise die Grundlage für eine eigene Entscheidung zu verschaffen (RIS-Justiz RS0042081). Gegenstand des Beweisverfahrens vor dem Berufungsgericht können aber in einem Verfahren mit Neuerungserlaubnis auch Beweismittel und Tatsachen sein, die in erster Instanz noch nicht vorgekommen sind, aber dem Berufungsgericht rechtserheblich erscheinen (§ 63 ASGG; Fasching, Lehrbuch2 Rz 1806). Beide Aspekte kamen im gegenständlichen Berufungsverfahren zum Tragen.
Das Berufungsgericht beschloss in der mündlichen Berufungsverhandlung nach dem Vortrag des Berichterstatters, der Verlesung der Anträge der Parteien und der von der Berufung betroffenen Teile des Ersturteils und dem Vortrag der Rechtsmittelschriften durch die Parteienvertreter eine "Beweisergänzung zu den Entlassungsgründen" durch vier (in erster Instanz noch nicht vernommene) Zeugen und die vorgelegten Urkunden (ON 23), vernahm aber in der Folge nicht nur diese vier Zeugen, sondern auch noch den (bereits in erster Instanz vernommenen) Kläger ergänzend (ON 26). Die übrigen in erster Instanz aufgenommenen Beweise (Zeuge O*****; zahnärztlicher Sachverständige Dr. P*****) wurden vom Berufungsgericht weder unmittelbar noch - nach dem gemäß § 215 Abs 1 ZPO über den Verlauf und Inhalt der Verhandlung vollen Beweis liefernden Protokoll - mittelbar (durch Verlesung deren Aussagen) aufgenommen; es erfolgte auch keine Bekanntgabe des Berufungsgerichtes an die Parteien gemäß § 488 Abs 4 ZPO.
Nach der genannten Bestimmung darf das Berufungsgericht eine Beweiswiederholung durch Verlesung von Aussagen nur nach vorangehender Bekanntgabe, dass gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichtes Bedenken bestehen und dass einzelne oder alle Beweise in dieser Form neuerlich aufgenommen werden sollen, durchführen. Den Parteien ist nach dieser Bekanntgabe Gelegenheit zu geben, die neuerliche Einvernahme eines oder aller Zeugen vor dem Berufungsgericht zu beantragen. Diese Bestimmung soll sicherstellen, dass die Parteien nicht von einer Änderung der Beweiswürdigung des Erstgerichtes durch das Berufungsgericht durch neuerliche Aufnahme der in erster Instanz unmittelbar aufgenommenen Beweise überrascht werden (RZ 1991/20 mwN; RIS-Justiz RS0042217). Bei richtiger Würdigung der den Parteien durch § 488 Abs 4 ZPO verbrieften Verfahrensrechte setzt die Rechtswirksamkeit eines Einverständnisses mit der Verlesung von Protokollen über unmittelbare Beweisaufnahmen also voraus, dass bei den Parteien Klarheit über die als bedenklich erachtete oder vermisste Feststellung besteht. Nur dann können sie entscheiden, ob sie einen Standpunkt in der betreffenden Tatfrage bereits als fest genug erachten oder ihn noch durch den Eindruck einer unmittelbaren Beweisaufnahme erhärten wollen (RIS-Justiz RS0040334, RS0040339). Gegen die Bestimmung des § 488 Abs 4 ZPO wird auch verstossen, wenn das Berufungsgericht zwar die für einen Prozessstandpunkt sprechenden Aussagen unmittelbar aufnimmt, sich jedoch mit der Verlesung der für den anderen Standpunkt entsprechenden Aussagen begnügt (RZ 1991/20; 9 ObA 177/97p).
Der erhebliche Mangel des Berufungsverfahrens ist im vorliegenden Fall darin zu erblicken, dass das Berufungsgericht auf Grund einer mangelhaften Beweiswiederholung von den Feststellungen der ersten Instanz abweichende und für die rechtliche Beurteilung relevante Feststellungen traf (RIS-Justiz RS0040339) und insoweit den Grundsatz der Unmittelbarkeit verletzte (SZ 38/74; RZ 1991/20; Kodek in Rechberger, ZPO2 Rz 3 zu § 503). Bewirkt nämlich schon die bloße Verlesung von Aussagen ohne vorangehende Bekanntgabe, dass gegen die Beweiswürdigung des Erstgerichtes Bedenken bestehen und dass einzelne Beweise neuerlich aufgenommen werden sollen, eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens, dann muss dies umso mehr gelten, wenn wie im vorliegenden Fall vom Berufungsgericht eine bloße Beweisergänzung angekündigt, tatsächlich aber eine teilweise Beweiswiederholung (hier durch Parteienvernehmung des Klägers) durchgeführt wird und schließlich in der Berufungsentscheidung die vom Berufungsgericht unmittelbar aufgenommenen Beweise einerseits und die vom Erstgericht aufgenommenen Beweise andererseits (Zeuge O*****; Sachverständiger Dr. P*****; s. etwa S. 9 letzter Absatz, S. 10 erster Absatz, S. 14 unten, S. 15 oben, jeweils der Berufungsentscheidung ON 27), die vom Berufungsgericht nicht einmal in der Berufungsverhandlung verlesen, sohin nicht einmal mittelbar aufgenommen, einer neuen Beweiswürdigung unterzogen wurden. Dieser Verfahrensmangel ist geeignet, eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Streitsache zu verhindern (§ 503 Z 2 ZPO); er muss daher zur Aufhebung des Berufungsurteils führen (§ 510 Abs 1 ZPO). Im fortgesetzten Verfahren wird der aufgezeigte Mangel zu beheben sein.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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