OGH 8Ob2282/96p

OGH8Ob2282/96p24.10.1996

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Huber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Petrag, Dr.Langer, Dr.Rohrer und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Laura F*****, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Mutter Mag.Andrea F*****, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 24. Juli 1996, GZ 45 R 618/96-413, womit infolge Rekurses der Mutter der Beschluß des Bezirksgerichtes Döbling vom 24.März 1996, GZ 10 P 2353/95-388, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß, der hinsichtlich der Abweisung des Besuchsrechtsaussetzungsantrages der Mutter bestätigt wird, wird darüber hinaus dahin abgeändert, daß die Entscheidung über die teilweise Entziehung der der Mutter zustehenden Obsorge dadurch, daß sie einen allfälligen Schulwechsel der Minderjährigen nur mit Zustimmung des zuständigen Jugendamtes vornehmen kann, ersatzlos aufgehoben und der Antrag des Vaters, der Mutter die Obsorge zu entziehen und die Minderjährige in seine Pflege und Erziehung einzuweisen, zur Gänze abgewiesen wird.

Text

Begründung

Die Minderjährige wurde am 10.3.1985 unehelich geboren. Die Lebensgemeinschaft der Eltern endete 1987. Das Kind verblieb in Obsorge der Mutter, welche sich in der Folge verehelichte.

Während zunächst Unterhalt und Besuchsrecht außergerichtlich geregelt wurden, gibt es seit Herbst 1990 zwischen den Eltern tiefgreifende Auseinandersetzungen wegen der Besuchsrechtsausübung des Vaters. Diesem steht aufgrund rechtskräftigen Beschlusses vom 30.7.1991 (ON 55) ein in 14tägigen Abständen auszuübendes Besuchsrecht zu. Dem Vater war es jedoch kaum jemals möglich, dieses Recht zu verwirklichen, weil die Mutter - trotz Verhängung von Beugestrafen - auf verschiedenste, vom Erstgericht in seinem Beschluß sehr ausführlich dargestellte, Weise Kontakte des Kindes mit dem Vater verhinderte bzw. nicht auf die Minderjährige einwirkte, mit dem Vater mitzugehen.

Mit Schriftsatz vom 8.4.1994 (ON 232) beantragte der Vater unter Hinweis auf diese Situation, die Minderjährige in seine Obsorge einzuweisen. Während eines darüber geführten umfangreichen Sachverständigenverfahrens stellte die Mutter mit Schriftsatz vom 11.9.1995 (ON 324) den Antrag, das Besuchsrecht des Vaters für mindestens zwei Jahre auszusetzen.

Das Erstgericht entzog mit Punkt 1. seines Beschlusses (ON 388) der Mutter die Obsorge insoweit, daß sie einen allfälligen Schulwechsel der Minderjährigen nur mit Zustimmung des zuständigen Jugendamtes vornehmen könne. Das Mehrbegehren des Vaters auf "gänzliche Obsorgeentziehung und Übertragung an ihn" wies es ab. Im Punkt 2. wies es den Besuchsrechtsaussetzungsantrag der Mutter ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und stellte darüber hinaus dar, wie die Mutter auf verschiedene Weise das dem Vater zustehende Besuchsrecht zu vereiteln suchte und im Verfahren jede dem Kindeswohl entsprechende einvernehmliche Konfliktbereinigung ablehnte. Dem Vater sei es in der Zeit von November 1991 bis November 1993 überhaupt nicht möglich gewesen, sein Besuchsrecht auszuüben. Sein Versuch, dem Kind Geschenke zu senden, sei daran gescheitert, daß die Pakete retourniert worden seien. In dieser Zeit habe der Vater versucht, die Minderjährige nach der Volksschule zu treffen, sei daran jedoch von der zufällig anwesenden Mutter gehindert worden. Diese habe der Lehrerin gesagt, sie würde, sollte es hinsichtlich des Besuchsrechtes des Vaters zu einer Einmischung kommen, das Kind aus der Schule nehmen. Ein Schulwechsel wäre für die Minderjährige schlimm gewesen, da sie dort liebe Freunde gewonnen habe. Anfang Juli 1995 habe Laura den Volksschulbesuch abgeschlossen. Entgegen aller Gepflogenheit sei das Schülerstammblatt bis Jänner 1996 von der neuen Schule nicht abgefordert worden, sodaß es erst einer Anfrage der Volksschulleitung bei der zentralen Schulpflichtmatrik bedurft habe, um die nunmehr besuchte Mittelschule zu eruieren. Auch das Kind selbst habe sowohl gegenüber dem Richter als auch dem Sachverständigen im Juni und Juli 1995 über den geplanten Schulbesuch widersprüchliche Angaben gemacht und habe die Mutter nach Schulabschluß in der Volksschule erklärt, nicht zu wissen, welche Schule das Kind besuchen werde und deshalb die (unzulässige) Aushändigung des Schülerstammblattes begehrt. Die Minderjährige weise bereits jetzt pathologische Züge auf. Das günstigste für ihre Entwicklung wäre eine langsame Adaptierung und Reduzierung der für alle Beteiligten, insbesondere für das Kind belastenden Situation, durch einen Psychotherapeuten, der nicht nur mit dem Kind, sondern auch mit beiden Eltern und wenn möglich dem Stiefvater arbeite. Eine Aussetzung des Besuchskontaktes würde nur im Augenblick scheinbar eine Besserung der seelischen Situation des Kindes, hingegen schwere seelische Langzeitschäden bewirken. Ein Obsorgewechsel zum Vater wäre zwar günstig, wäre jedoch für die Kinderpsyche deshalb schädlich, da ein nur einigermaßen tolerabler Vorgang des Pflegewechsels nicht erreichbar wäre. Rechtlich folgerte das Erstgericht, daß das Aussetzen des Besuchskontaktes des Vaters, der sich kein relevantes Fehlverhalten habe zuschulden kommen lassen, nicht dem Kindeswohl entspreche. Ein Obsorgewechsel wäre zwar in vieler Hinsicht wünschenswert, könne jedoch nicht auf eine für das Kind verkraftbare Weise bewirkt werden. Da auf Dauer den Lehrern der Minderjährigen die krisenhafte Familiensituation nicht verborgen bleiben könne und die Mutter dies als Bedrohung für sich und das Kind empfinde, bestehe die Gefahr eines sachlich nicht indizierten Schulwechsels. Ein solcher hätte zur Folge, daß die Minderjährige, deren beste Schulfreundin mit ihren Eltern überdies kürzlich nach Australien ausgewandert sei, letztlich immer mehr von außenstehenden Personen isoliert wäre. Die Lehrer seien die einzigen psychologisch und pädagogisch geschulten Begleiter der Minderjährigen, deren Kontakte die Mutter nicht verhindern könne. Die im Punkt 1 des Beschlusses getroffene Maßnahme solle in Anbetracht des Agierens der Mutter in der Volksschule sicherstellen, daß die Lehrer sich hiebei ausschließlich an den Interessen der Minderjährigen orientieren und von der Mutter nicht unter Druck gesetzt werden könnten. Im Vergleich zur beantragten Obsorgeübertragung handle es sich hiebei nur um einen ganz minimalen Eingriff gemäß § 176 ABGB in die Obsorge der Mutter.

Mit dem angefochtenen Beschluß gab das Gericht zweiter Instanz dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Es sprach aus, daß der Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Die verfügte Einschränkung der Obsorge der Mutter sei im Sinne des Kindeswohles erforderlich, da unter Bedachtnahme auf die Vorfälle im Frühsommer 1995 sicherzustellen sei, daß sich die für die weitere Entwicklung der Minderjährigen so notwendigen pädagogisch geschulten Personen ausschließlich am Wohl der Minderjährigen orientieren und so eine weitere Isolation des Kindes im Zusammenhalt mit der familiären Situation vermieden werde. Der im Zusammenhang mit der Abweisung des Antrages auf Aussetzung des Besuchsrechtes des Vaters geltend gemachte Verfahrensmangel, welcher in der Unterlassung der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gesehen werde, liege nicht vor. Die der Entscheidung zugrundegelegten Gutachten seien ausführlich und schlüssig und bestünden gegen sie keine Bedenken.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Mutter ist zulässig und teilweise berechtigt.

Trotz der Rechtsmittelerklärung, den Beschluß des Rekursgerichtes zur Gänze anzufechten, enthält der Revisionsrekurs nur zur Frage der Obsorgeeinschränkung im Sinne des Punktes 1. des erstinstanzlichen Beschlusses substantiiertes Vorbringen. Lediglich die Ausführungen zu dem behaupteten Verfahrensmangel, welcher abermals in der Nichtzuziehung eines weiteren Sachverständigen gesehen wird, könnten auch auf die Abweisung des Antrages der Mutter, das Besuchsrecht des Vaters auszusetzen, Bezug haben. Dieser Verfahrensmangel liegt jedoch ebensowenig wie die behauptete Aktenwidrigkeit vor, welcher Ausspruch keiner weiteren Begründung bedarf (§ 16 Abs 3 AußStrG, § 510 Abs 3 ZPO).

Gemäß § 176 ABGB hat das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Eine Gefährdung des Kindeswohles setzt nicht geradezu einen Mißbrauch der elterlichen Befugnisse voraus. Es genügt, daß elterliche Pflichten objektiv nicht erfüllt oder gröblich vernachlässigt werden (SZ 51/112; SZ 53/142; SZ 57/207). Insbesondere bei Änderung der Obsorgeverhältnisse ist ein strenger Maßstab anzulegen, sodaß diese nur als äußerste Notmaßnahme angeordnet werden darf (JBl 1992, 639; SZ 65/84). Entgegen der Ansicht der Revisionswerberin ist dem Erstgericht darin zuzustimmen, daß ihr auch bei Anlegung eines strengen Maßstabes eine derartige grobe Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, da sie das im Interesse des Kindes gelegene Besuchsrecht des Vaters beharrlich erschwert und vereitelt. Weshalb es trotzdem nicht zu einem Obsorgewechsel kommen kann, hat das Erstgericht in seinem gewissenhaft und ausgewogen begründeten Beschluß dargelegt. Allerdings bildet § 176 ABGB nicht nur die Grundlage für die Entziehung der Obsorge, sondern auch für jede sonst zur Sicherung des Kindeswohles nötige Verfügung. So wurden als Einschränkung der Obsorge beispielsweise angeordnet die Abnahme des Reisepasses bei Gefahr der Verbringung des Kindes ins Ausland (EFSlg 45.901), das Zustimmungserfordernis des Pflegschaftsgerichtes zur Übersiedlung des Kindes (7 Ob 615/78) oder Verfügungen im Zusammenhang mit einer Heilbehandlung des Kindes (EFSlg 35.985). Die Einschränkung der Obsorge kann etwa auch durch Verfügungen über den Schulbesuch des Kindes erfolgen (RZ 1996/65). Grundsätzlich ist die Auswahl der Schule dem obsorgeberechtigten Elternteil vorbehalten (RZ 1992/71; 1 Ob 623/95). Allerdings kann auch die Schulausbildung zu jenen wichtigen Fragen gehören, zu welchen sich der nicht erziehungsberechtigte Elternteil gemäß § 178 Abs 1 ABGB zu äußern berechtigt ist (RZ 1992/71; EFSlg 48.465; 5 Ob 516/94). Insoweit ist die Wahl der Ausbildungsstätte des Kindes nicht in das unbeschränkte Belieben der Mutter gestellt, da das vornehmste Beurteilungskriterium in allen Fällen das Kindeswohl ist. Auch der in Art 8 Abs 1 EMRK normierte Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das in Art 9 Abs 1 EMRK verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist im Zusammenhang mit der Erziehung eines Minderjährigen unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Das Privat- und Familienleben sowie die Glaubensfreiheit dürfen nämlich durch Gesetz so weit beschränkt werden, als das - unter anderem - im Interesse der Gesundheit oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist (Art 8 Abs 2 und9 Abs 2 EMRK). Demgemäß ist jede Entscheidung, die auf einer wohlverstandenen Abwägung des Kindeswohls beruht, unter dem Gesichtspunkt des Art 8 Abs 2 EMRK zu rechtfertigen, zumal unter Gesundheit auch das psychische Wohl des Kindes verstanden wird (SZ 63/165; 1 Ob 623/95; Frowein in Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar Art 8 Rz 22).

Verfügungen des Gerichtes nach § 176 Abs 1 ABGB setzen eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohles und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustandes voraus. Für eine rein präventiv angeordnete Aufsicht über den Obsorgeberechtigten fehlen die gesetzlichen Voraussetzungen (RZ 1996/65). Die Vorinstanzen haben die gemäß Punkt 1. des erstinstanzlichen Beschlusses erlassene Verfügung damit begründet, daß die Mutter der Volksschullehrerin der Minderjährigen angedroht habe, sie werde im Falle neuerlicher Einmischung in das Besuchsrecht zu dem Kind dieses aus der Schule nehmen. Daß sie tatsächlich einen Schulwechsel auch nur ernsthaft betrieben hätte, ist aus dem Akt nicht ersichtlich. Auch die Tatsache, daß die Mutter offenkundig den Versuch unternommen hat, zu verschleiern, welche Mittelschule das Kind besucht, ist zwar bezeichnend, aber kein hinreichendes Indiz dafür, die Mutter werde in Hinkunft willkürliche Schulwechsel des Kindes vornehmen. Anders als in einer Volksschule hat die Minderjährige nunmehr zahlreiche Lehrer, sodaß eine besondere Bezugsperson, welche möglicherweise in dem Konflikt zwischen den Eltern eine Vermittlung versuchen wollte, nicht in demselben Maß wie in der Volksschule gegeben ist. Auch ist nicht zu erkennen, in welche Richtung die Mutter mit der Drohung eines Schulwechsels auf einzelne Lehrer "Druck ausüben" könnte, da mögliche Versuche des Vaters, sein Kind vor oder nach den Unterrichtsstunden zu sehen, mit den schulischen Belangen in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen und sich auch die Mutter bewußt sein muß, daß sie den Ort des Schulbesuches auf Dauer dem Vater nicht verheimlichen darf und kann. Auch unter Zugrundelegung des mehr an eigenen Interessen als am Kindeswohl orientierten Gesamtverhaltens der Mutter ist daher eine drohende Gefahr eines nicht ausschließlich sachlich begründeten Schulwechsels und der dadurch herbeigeführten Isolierung der Minderjährigen von wesentlichen Bezugspersonen nicht zu erkennen.

Es war daher die Verfügung des Erstgerichtes ersatzlos aufzuheben.

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