Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die Ergänzung des Verfahrens und die neuerliche Entscheidung über den Antrag der Mutter auf Zurückholung des Minderjährigen aufgetragen.
Text
Begründung
Der nunmehrigen Revisionsrekurswerberin kommt aufgrund eines pflegschaftsbehördlich genehmigten Vergleiches mit ihrem geschiedenen Ehegatten das Obsorgerecht hinsichtlich der aus der Ehe stammenden drei Buben, darunter für den am 6.1.1980 geborenen Alexander zu. Seit dem Scheitern der Ehe im Jahr 1988 hat es immer wieder Auseinandersetzungen der Eltern über das Obsorgerecht gegeben, doch ist es über Empfehlung verschiedener kinderpsychiatrischer Sachverständiger und des Jugendamtes stets dabei geblieben, die Buben (außer Alexander noch den am 15.8.1977 geborenen Walter sowie den am 14.7.1985 geborenen Christian) bei ihrer Mutter zu belassen, während die Tochter (die am 9.11.1973 geborene Michaela) bem Vater lebt. Im Hintergrund der elterlichen Auseinandersetzung steht vor allem, daß der Vater, ein vermögender Geschäftsmann, meint, den Kindern in seiner Umgebung und unter seinen Verwandten die besseren Lebenschancen bieten zu können, während die Mutter die stärkere emotionale Zuwendung zu den Kindern und ihre intensivere persönliche Betreuung für sich ins Treffen führt. Daß die Mutter ihren Aufgaben nicht gewachsen wäre oder sie vernachlässigt, ist dem Akt nicht zu entnehmen.
Ausschlaggebend für die Obsorgeregelung war nicht zuletzt die Berücksichtigung der Kinderwünsche. Während sich die Tochter für das luxuriösere Leben beim Vater entschied, der ihr beispielsweise die Haltung von vier Pferden ermöglicht, gaben die Söhne zu verstehen, bei der Mutter bleiben zu wollen. Dabei blieben sie trotz großer materieller Versprechungen des Vaters. Auch der Mj.Alexander hat sich anläßlich einer Befundaufnahme durch den Sachverständigen Dr.Erwin Schmuttermeier im Herbst 1992 noch eindeutig für einen Verbleib bei der Mutter ausgesprochen (ON 103). Der Sachverständige kam damals zum Schluß, daß die (vom Vater angestrebte) Übersiedlung Alexanders in die Obhut seines Vaters ein großes Risiko für den weiteren Lebensweg des Minderjährigen - insbesondere in der Pubertätsphase - darstellen würde und aus der Sicht des Kindeswohls, aber auch vom fachlichen Standpunkt her eine Belassung des Minderjährigen in der Obsorge der Mutter angezeigt sei.
Im Anschluß an einen achttägigen Sommerurlaub, den er zusammen mit seinem Bruder Christian beim Vater verbrachte, erschien dann der Mj.Alexander beim Pflegschaftsgericht und erklärte, bei seinem Vater bleiben zu wollen; auch ein Wechsel in die Sporthauptschule Bad Vöslau würde ihn nicht ängstigen, weil er einen guten Freund als Klassenkamerad erhielte. Anläßlich der Begutachtung durch Dr.Schmuttermeier habe er es noch "anders gesagt, weil seine Mutter dabei war". Am selben Tag gab auch noch der Vater des Minderjährigen beim Pflegschaftsgericht zu Protokoll, daß Alexander unter keinen Umständen mehr zur Mutter zurückwolle, was das Kind am Telefon auch seiner Mutter gesagt habe, weshalb er hinsichtlich dieses Kindes die Übertragung des Obsorgerechtes an ihn beantrage. In der Folge behielt der Vater den Minderjährigen bei sich und meldete ihn eigenmächtig in der Sporthauptschule Bad Vöslau an, die Alexander auch derzeit noch besucht, da man sich seitens der Schuldirektion - obwohl die Mutter ihr alleiniges Obsorgerecht belegte - "aus dem Streit der Eltern heraushalten wolte".
Die mit der Übertragung des Obsorgerechtes an den Vater nicht einverstandene Mutter stellte daraufhin am 14.9.1993 beim Pflegschaftsgericht den Antrag, ihr mit Hilfe der Behörde den Minderjährigen Alexander zu übergeben. Das Pflegschaftsgericht erteilte in Stattgebung dieses Antrages dem Vater am 17.9.1993 den Auftrag, den Minderjährigen Alexander der Mutter zu übergeben (ON 118 dA), doch hatte der dagegen vom Vater erhobene (und mit einem Antrag auf Übertragung der vorläufigen Obsorge verbundene) Rekurs (ON 119 dA) Erfolg. Am 28.12.1993 änderte das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluß dahingehend ab, daß es den Antrag der Mutter, den Mj.Alexander zwangsweise in ihre Obsorge zurückzuführen, abwies (ON 123 dA). Es führte aus:
Angesichts der im Akt mehrfach erwähnten schwächeren Schulerfolge des Mj.Alexander erscheine es problematisch, ihn mitten im Schuljahr mit den Schwierigkeiten eines neuerlichen Schulwechsels zu konfrontieren. Dazu komme, daß der Minderjährige - bezogen auf das Datum der rekursgerichtlichen Entscheidung - in wenigen Tagen das vierzehnte Lebensjahr vollende und somit in einem Alter sei, in welchem sein Wunsch nach Verbleib bei einem Elternteil entsprechendes Gewicht habe und nach der Judikatur (EFSlg 66.107 f) nicht unbeachtet bleiben dürfe. Der Grundsatz der Kontinuität der Erziehung sei in einem solchen Fall dem Wohl des Kindes unterzuordnen (EFSlg 56.821). Allerdings werde sorgfältig zu erforschen sein, ob die nunmehr vom Minderjährigen vorgebrachten Beweggründe für seinen Wunsch, beim Vater zu bleiben, im Sinne verantwortungsvoller Erziehungsprinzipien ausreichende Bedeutung haben. Allenfalls werde die neuerliche Beiziehung eines Jugendpsychologen/Jugendpsychiaters in Erwägung zu ziehen sein, um die bei einer Kollision verschiedener Leitgedanken der Obsorgeregelung erforderliche Gesamtschau zu gewinnen. So werde im konkreten Fall auch zu bedenken sein, ob und gegebenenfalls welche Vorteile dem Minderjährigen aus dem Besuch der Sporthauptschule gegenüber dem Besuch der allgemeinen Hauptschule erwachsen und inwieweit der in nicht ferner Zukunft bevorstehende Übertritt des Jugendlichen in eine berufliche oder andere schulische Ausbildung bei dem einen oder anderen Elternteil günstigere Voraussetzungen findet. Es erscheine jedenfalls nicht angebracht, den nach den bisherigen Gutachten psychisch eher labilen Minderjährigen nach einigen Monaten des Aufenthaltes beim Vater und einem Umschulungsprozeß ohne nähere Untersuchung, was tatsächlich zum Wohl des Minderjährigen gereicht, im Wege einer auf seine Folgen nicht näher untersuchten Rückführung in den mütterlichen Haushalt abermals erheblichen seelischen Belastungen und schulischen Gefahren auszusetzen.
Die Entscheidung des Rekursgerichtes enthält den Ausspruch, daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil es sich um eine Einzelfallentscheidung handle, die sich auf eine gesicherte Judikatur des Obersten Gerichtshofes stütze.
Im nunmehr vorliegenden ao Revisionsrekurs macht die Mutter geltend, daß die angefochtene Entscheidung nicht dem Wohl des Minderjährigen Alexander entsprechen könne, habe doch der Sachverständige Dr.Erwin Schmuttermeier ausdrücklich vor einem Wechsel des Pflegeplatzes gewarnt. Der selbst labile Vater könne eine konsequente Erziehung des Minderjährigen nicht gewährleisten. Außerdem sei das eklatant rechtswidrige Verhalten des Vaters zu wenig berücksichtigt worden; seinen mit dem Rekurs verbundenen Antrag, ihm die vorläufige Obsorge für den Minderjährigen Alexander zu übertragen, habe das Pflegschaftsgericht mit Beschluß vom 10.11.1993, ON 121, mittlerweile rechtskräftig abgewiesen. Unabhängig davon habe das Rekursgericht verkannt, daß ein Wechsel der Obsorgeverhältnisse, um den es in Wahrheit gehe, nur unter den Voraussetzungen des § 176 ABGB zulässig sei. Da wohl nicht ernstlich behauptet werden könne, das Wohl des Minderjährigen Alexander sei in irgendeiner Weise gefährdet, wenn er weiter bei der Mutter bleibe, ihm aber umgekehrt eine Gefahr durch den "Schlendrian" beim Vater drohe, müsse eine Rückführung des Kindes in die rechtmäßige Obsorge der Mutter veranlaßt werden. Der Revisionsrekursantrag geht dahin, die erstgerichtliche Entscheidung wiederherzustellen.
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne einer vom Abänderungsbegehren mitumfaßten Aufhebung der vorinstanzlichen Beschlüsse zwecks neuerlicher Entscheidung nach Verfahrensergänzung auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revisionsrekurswerberin bemerkt zutreffend, daß die Verweigerung gerichtlicher Mithilfe bei der Zurückholung des Kindes der Sanktionierung eines rechtswidrig herbeigeführten Zustandes und letztlich der Entziehung des mütterlichen Obsorgerechtes unter gleichzeitiger Übertragung dieses Rechtes auf den Vater gleichkommt. Eine derartige Maßnahme dürfte nur unter den Voraussetzungen des § 176 Abs 1 ABGB, also dann getroffen werden, wenn der Obsorgeberechtigte durch die Vernachlässigung seiner Pflichten das Wohl des ihm anvertrauten Kindes gefährdet. Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, sodaß die Änderung der Obsorgeverhältnisse nur als äußerste Notmaßnahme in Frage kommt (JBl 1993, 639; JBl 1993, 780, jeweils mwN).
Auch vorläufige Eingriffe in die rechtmäßigen Obsorgeverhältnisse setzen einen Notfall voraus, der im Interesse des Kindeswohls zu Sofortmaßnahmen zwingt. Dabei ist alles zu unterlassen, was der erst nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände ins Auge zu fassenden definitiven Übertragung der Obsorge von einem Elternteil auf den anderen vorgreifen könnte. Insoweit bleibt selbst in Konfliktsituationen der Erfahrungssatz von Bedeutung, daß dem Kindeswohl durch die Kontinuität der Erziehung besser gedient ist, als durch allzu leichtfertiges Reagieren auf Stimmungen, Wünsche oder auch momentane Erziehungsschwierigkeiten. Liegen daher keine gravierenden Bedenken gegen die Erziehungs- und Betreuungseignung des obsorgeberechtigten Elternteils vor, ist ihm vom Pflegschaftsgericht zur Durchsetzung, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Pflege- und Erziehungsverhältnisse jede im Rahmen des Gesetzes mögliche Hilfe zu gewähren.
Im gegenständlichen Fall liegen - wie bereits erwähnt - keine Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung der Elternpflichten durch die obsorgeberechtigte Mutter gegenüber dem Mj.Alexander vor. Sie allein hatte über den Aufenthalt des Minderjährigen zu bestimmen (§ 146b Satz 1 ABGB iVm § 177 ABGB) und nach Maßgabe des § 178 Abs 1 ABGB auch darüber, welche Schule er besucht (RZ 1992, 209/71). Dem rechtswidrigen Verhalten des Vaters, den Mj.Alexander gegen den Willen der Mutter bei sich zu behalten und ihn eine andere Schule besuchen zu lassen, hätte daher - auch wenn dies dem erklärten Willen des Minderjährigen entsprach - mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden müssen. Der Wunsch des Minderjährigen nach einem Wechsel zum Vater und der damit korrespondierende Antrag des Vaters, ihm die Obsorge zu übertragen, hätte zwar für das Pflegschaftsgericht Anlaß für eine gewissenhafte Überprüfung der Obsorgeverhältnisse sein müssen, weil der ernsthafte Wille eines (beinahe) mündigen Kindes in Fragen der Obsorge nicht unbeachtet bleiben darf (vgl Pichler in Rummel, ABGB2, Rz 2c zu § 177), doch wären die notwendigen Überprüfungen mangels gewichtiger Bedenken gegen die Erziehungseignung der Mutter unter Aufrechterhaltung bzw Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes vorzunehmen gewesen. Bei sofortigem Handeln hätten auch die immer wieder geltend gemachten Vorbehalte gegen Zwangsmaßnahmen nicht bestanden, weil die schädlichen Folgen einer Kindeswegnahme im direkten Verhältnis zur Verfestigung des Kindeswunsches stehen, in der mehr und mehr gewohnten neuen Umgebung zu bleiben.
Daraus ergibt sich, daß der die Rückführung des Kindes anordnende Beschluß des Erstgerichtes im Zeitpunkt seiner Erlassung voll der Sach- und Rechtslage entsprach. Trotzdem kommt eine sofortige Wiederherstellung dieses Beschlusses nicht in Frage, weil bei Entscheidungen, die das Kindeswohl betreffen, auch vom Obersten Gerichtshof noch alle während des Verfahrens eingetretenen Entwicklungen zu berücksichtigen sind (EFSlg 45.904 ua; zuletzt RZ 1991, 281/84). Diese Entwicklungen, die auch das Rekursgericht dazu veranlaßten, von einer Zurückholung des Kindes abzusehen, bestehen im konkreten Fall darin, daß durch einen Zwischenstreit über die Zuständigkeit zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte mittlerweile mehr als ein halbes Jahr seit dem rechtswidrigen Eingriff in die Obsorgerechte der Mutter verstrichen ist und der Minderjährige sich nicht nur mitten im Unterrichtsbetrieb der neuen Schule befindet, sondern auch jetzt noch zu seiner Entscheidung zu stehen scheint, beim Vater bleiben zu wollen. Letzteres hat durch die Erreichung der Mündigkeit, mehr noch durch die Möglichkeit reiflicher Überlegung in Kenntnis der Praxis besonderes Gewicht, da - wie bereits erwähnt - bei Obsorgerechtsentscheidungen nicht ohne besonderen Grund über den Willen des Kindes hinweggegangen werden soll (vgl EFSlg 59.815; EFSlg 66.108 ua).
Auf der anderen Seite kann der Wille des Kindes - und das wurde vom Rekursgericht zu wenig beachtet - nicht allein ausschlaggebend sein (EFSlg 56.834 f; EFSlg 66.108 ua). Auch die mittlerweilige Gewöhnung des Mj.Alexander an die neue Schule darf nicht überbewertet werden, ist sie doch nur ein Gesichtspunkt unter vielen anderen in der komplexen Frage einer Änderung der Obsorgeverhältnisse und außerdem noch gar nicht ausreichend objektiviert. Damit stellt sich die aktuelle Situation so dar, daß im Hinblick auf die seit der Entscheidung des Erstgerichtes eingetretenen Entwicklungen zwar Bedenken gegen eine dem Kindeswohl vielleicht abträgliche zwangsweise Rückführung des Mj.Alexander zur Mutter bestehen (idS vermeidet beispielsweise die Judikatur die Ausübung von Zwang auf mündige Minderjährige zur Durchsetzung eines Besuchsrechts: 7 Ob 617/87; 5 Ob 574/88 ua), andererseits aber noch nicht gesagt werden kann, was tatsächlich dem Kindeswohl entspricht. Um das zu klären wird die gerichtliche Anhörung des Minderjährigen durch das Pflegschaftsgericht, die Einholung eines jugendpsychiatrischen oder jugendpsychologischen Gutachtens und eine Anfrage an die Sporthauptschule Bad Vöslau über die Eingewöhnung des Minderjährigen Alexander und seine Lernfortschritte nicht zu umgehen sein. Erst nach Vorliegen dieser zusätzlichen Entscheidungsgrundlagen wird verläßlich beurteilt werden können, ob dem Begehren der Mutter auf Rückholung des Kindes - allenfalls unter Aufrechterhaltung des Besuches der Sporthauptschule - stattzugeben ist. Andernfalls wird mit der Belassung des Kindes beim Vater eine Übertragung des Obsorgerechtes an ihn einhergehen müssen. Die Abweisung des diesbezüglichen Antrages auf Übertragung der vorläufigen Obsorge stünde einer solchen - auch von Amts wegen zu treffenden - Maßnahme nicht entgegen.
Aus allen diesen Gründen war wie im Spruch zu entscheiden. Auf die Dringlichkeit der noch zu fällenden Entscheidung sei noch besonders hingewiesen.
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