OGH 10ObS15/94

OGH10ObS15/9414.4.1994

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier und Dr. Ehmayr als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Dipl.Ing. Walter Holzer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Ing. Robert Eheim (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Dr. M***** S*****, *****., *****, vertreten durch Dr. Manfred Lampelmayer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, im Revisionsverfahren nicht vertreten, wegen vorzeitiger Alterspension bei langer Versicherungsdauer, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. November 1993, GZ 34 Rs 84/93-28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes vom 8. Juni 1993, GZ 16 Cgs 35/93-24, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden in ihrem abweisenden Teil dahin abgeändert, daß sie insoweit lauten:

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer im gesetzlichen Ausmaß auch ab 1. Mai 1993 zu gewähren.

Die beklagte Partei ist weiters schuldig, dem Kläger die mit S 13.030,78 bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens (darin enthalten S 1.962,18 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 29. Oktober 1991 lehnte die Beklagte den am 18. Oktober 1991 gestellten Antrag des am 19. Oktober 1936 geborenen Klägers auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer mit der Begründung ab, daß er das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe.

Die dagegen fristgerecht erhobene Klage richtete sich auf die abgelehnte Leistung im gesetzlichen Ausmaß ab 1.11.1991 und stützte sich auf die Verfassungswidrigkeit des ungleichen Pensionsalters für Frauen und Männer.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der nach der damals geltenden Gesetzeslage unbegründeten Klage.

Das Erstgericht wies die Klage im ersten Rechtsgang ab. Der Versicherungsfall sei mangels Erreichen des Anfallsalters von 60 Jahren nicht eingetreten. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Aus Anlaß der vom Kläger erhobenen Revision stellte der Oberste Gerichtshof mit Beschluß vom 10.11.1992, 10 Ob S 263/92 beim Verfassungsgerichtshof den Antrag, in § 253b Abs 1 ASVG idF des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 1991 die Wortfolge "nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte" als verfassungswidrig aufzuheben oder auszusprechen, daß diese Wortfolge in der Zeit vom 1. April bis 30. November 1991 verfassungswidrig war.

Mit Erkenntnis vom 17. Dezember 1992, G 120/92-9 ua, sprach der Verfassungsgerichtshof aus, daß die erwähnte Wortfolge bis zum Ablauf des 30. November 1991 verfassungswidrig war und auch auf jene Sachverhalte nicht mehr anzuwenden ist, die den beim Verfassungsgerichtshof zu G 260/92 und G 261/92 anhängigen Rechtssachen zugrunde liegen.

Der Oberste Gerichtshof gab daraufhin mit Beschluß vom 12. Jänner 1993, 10 Ob S 336/92 der Revision des Klägers Folge, hob die Urteile der Vorinstanzen auf und verwies die Sozialrechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig erklärte Wortfolge im § 253 b Abs 1 ASVG sei im vorliegenden Fall, der einem Anlaßfall gleichstehe, nicht mehr anzuwenden. Für den Kläger genüge daher ausnahmsweise als Anfallsalter für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer die Vollendung des 55. Lebensjahres. Damit stehe aber nun fest, daß der Kläger am Stichtag diese eine Voraussetzung für den Anspruch auf die begehrte Leistung erfüllt habe. Die weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 253 b ASVG in der oben genannten Fassung seien bisher weder behauptet, noch erörtert, außer Streit gestellt oder festgestellt worden (vgl den ähnlichen Fall SSV-NF 7/3).

Im zweiten Rechtsgang wendete die Beklagte ein, der Kläger habe am 25.11.1991 seine nicht versicherungs- pflichtige freiberufliche Erwerbstätigkeit und am 2.12.1991 seine unselbständige Erwerbstätigkeit als Dienstnehmer wieder aufgenommen und beide Erwerbstätigkeiten bis 30.4.1993 ausgeübt. Gemäß § 253 b Abs 1 lit e ASVG habe der Versicherte Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer, solange er innerhalb von sechs Kalendermonaten ab dem Stichtag weder eine die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach diesem noch nach einem anderen Bundesgesetz begründende selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit ausübe. Diese vom Gestz geforderte sechsmonatige Karenzfrist ab dem Stichtag 1.11.1991 sei vom Kläger nicht eingehalten worden. Zum Stichtag 1.11.1991 seien zwar alle versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer vorzeitigen Alterspension erfüllt, jedoch bestehe dieser Leistungsanspruch nur bis zum 1.12.1991, da vor Ablauf der sechsmonatigen Karenzfrist die versicherungspflichtige Tätigkeit wieder aufgenommen worden sei. Ein Wiederaufleben der Leistung gemäß § 253 b Abs 2 ASVG mit 1.5.1993 sei ausgeschlossen, weil dies ein Weiterbestehen des Leistungsanspruches über den 1.12.1991 hinaus voraussetzen würde. Auch bei einem Stichtag 1.5.1993 bestehe wegen der verfassungsrechtlichen Regelung des gesetzlichen Anfallsalters kein Leistungsanspruch.

Der Kläger schränkte daraufhin sein Klagebegehren auf Gewährung der vorzeitigen Alterspension für die Zeit vom 1.11. bis 24.11.1991 und ab 1.5.1993 ein.

Das Erstgericht erkannte die Beklagte im zweiten Rechtsgang schuldig, dem Kläger die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer im gesetzlichen Ausmaß vom 1.11. bis 24.11.1991 zu gewähren; das Mehrbegehren, die vorzeitige Alterspension auch ab 1.5.1993 zu gewähren, wies es ab. Es stellte folgenden weiteren Sachverhalt fest:

Der Kläger übte bis 31.10.1991 sowohl eine nicht versicherungspflichtige selbständige, als auch eine unselbständige Erwerbstätigkeit als Dienstnehmer aus. Zum Stichtag 1.11.1991 übte der Kläger weder eine selbständige noch eine versicherungspflichtige unselbständige Tätigkeit aus. Am 25.11.1991 nahm der Kläger seine bisherige selbständige Tätigkeit wieder auf; am 2.12.1991 nahm er auch die bisherige unselbständige Tätigkeit als Dienstnehmer bei demselben Dienstgeber wieder auf. Mit 30.4.1993 wurden sowohl die selbständige als auch die unselbständige Tätigkeit endgültig beendet, seit dieser Zeit übt der Kläger keine solchen Tätigkeiten mehr aus. Während der Ausübung der unselbständigen bzw. selbständigen Tätigkeit hat das Erwerbseinkommen jeweils die nach § 5 Abs 2 lit c ASVG in Betracht kommenden Monatseinkommen überstiegen. In der Zeit zwischen Dezember 1991 und April 1993 erwarb der Kläger weitere 17 Beitragsmonate der Pflichtversicherung.

Bereits zum Stichtag 1.11.1991 wies der Kläger die erforderlichen 420 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigenden Versicherungsmonate auf. Innerhalb der letzten 36 Kalendermonate vor diesem Stichtag lagen 24 Beitragsmonate der Pflichtversicherung. In rechtlicher Hinsicht erachtete das Erstgericht zunächst alle Voraussetzungen für den begehrten Anspruch im Zeitraum 1.11. bis 24.11.1991 als erfüllt. Durch die Wiederaufnahme der Selbständigentätigkeit sei es gemäß § 253 b Abs 2 ASVG zum Wegfall der Pension gekommen. Durch die Wiederaufnahme der unselbständigen versicherungs- pflichtigen Tätigkeit am 2.12.1991 sei jedoch der Anspruch auf vorzeitige Alterspension gemäß § 253 b Abs 1 lit e ASVG zur Gänze erloschen. Im Falle der Beendigung der Erwerbstätigkeit komme es daher zu keinem Wiederaufleben des Anspruches. Aber auch die Prüfung des Anspruchs zum Stichtag 1.5.1993 führe zu keinem für den Kläger günstigeren Ergebnis. Der Verfassungsgerichtshof habe nämlich lediglich ausgesprochen, daß die oben erwähnte Wortfolge bis zum Ablauf des 30.11.1991 verfassungs- widrig war. Mit dem Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgenzen für männliche und weibliche Sozialversicherte BGBl 1991/627 sei festgelegt worden, daß gesetzliche Regelungen über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung zulässig seien. Der Artikel I stelle eine Verfassungsbestimmung dar und sei am 1.12.1991 in Kraft getreten und mit Ablauf des 31.12.1992 außer Kraft getreten. Durch das Bundesgesetz über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1992/832 sei eine gleichlautende, mit 1.1.1993 in Kraft getretene Verfassungsbestimmung geschaffen worden. Zum Stichtag 1.5.1993 habe § 253 Abs 1 ASVG folgende Fassung gehabt: "Anspruch auf vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer hat der Versicherte nach Vollendung des 60. Lebensjahres, die Versicherte nach Vollendung des 55. Lebensjahres ...". Da der Kläger jedoch zum Stichtag 1.5.1993 das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, stehe ihm mangels Erreichung der Altersgrenze kein Anspruch auf die begehrte Leistung zu.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge. Das Erstgericht habe die Bestimmung des § 253 b Abs 1 lit e ASVG idF des SRÄG 1991 zu Recht als einen Tatbestand beurteilt, dessen Erfüllung das Erlöschen des Pensionsanspruches nach sich ziehe. Der Beginn einer Erwerbstätigkeit im Sinne dieser Gesetzesstelle werde im § 99 Abs 3 Z 3 ASVG idF des SRÄG 1991 ausdrücklich als Entziehungsgrund genannt. Auch im § 223 Abs 2 letzter Satz ASVG idF SRÄG 1991 sei von der Entziehung einer Leistung bzw. dem Wegfall der Entziehungsgründe die Rede. Die Aufnahme einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit innerhalb von 6 Kalendermonaten ab dem Stichtag führe zum Verlust des Pensionsanspruches in bezug auf den der Gewährung der Leistung zugrunde liegenden Stichtag. Das Erstgericht sei aber auch zu Recht davon ausgegangen, daß das unterschiedliche Anfallsalter nur für die Zeit vom 1.4. bis 30.11.1991 als verfassungswidrig erklärt worden sei. Der Kläger hätte daher zum neuen Stichtag 1.5.1993 als Anspruchsvoraus- setzung das 60. Lebensjahr vollendet haben müssen. Nach der Entziehung einer Leistung sei gemäß § 223 Abs 2 letzter Satz ASVG idF SRÄG 1991 Stichtag unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung der Zeitpunkt des Wegfalles der Entziehungsgründe, wenn er auf einen Monatsersten falle, sonst der dem Wegfall folgende Monatserste. Es sei daher nach Wegfall des Entziehungsgrundes ein neuer Stichtag ausgelöst worden. Das Wesen einer Stichtagsregelung bestehe darin, daß sämtliche Voraussetzungen des Anspruches zu einem bestimmten Zeitpunkt zu prüfen seien. Es treffe nicht zu, daß die Erfüllung einer bestimmten Anspruchsvoraussetzung zu einem früheren Stichtag auch noch zu einem späteren Stichtag Bedeutung hätte. Die nach Schluß der Verhandlung erster Instanz (8.6.1993) mit 1.7.1993 eingetretene Änderung der Rechtslage durch das SRÄG 1993 sei unbeachtlich. Das Berufungsgericht teile auch nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers in bezug auf das unterschiedliche Pensionsanfallsalter für Männer und Frauen nach Inkrafttreten der oben zitierten Verfassungsbestimmungen. Der Verfassungsgesetzgeber habe selbst in die Regelung des Pensionsanfallsalters eingegriffen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung dahin, daß ihm die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer auch ab 1.5.1993, allenfalls ab 1.7.1993 zuerkannt werde.

Die Beklagte erstattete keine Revisions- beantwortung.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist berechtigt.

Zum Wesen der Versicherung gehört, daß Versicherungsleistungen nur für den Fall des Eintritts eines Versicherungsfalles zustehen. Für die Sozialversicherung kann der Begriff des Versicherungsfalles nur durch eine Analyse des Sozialversicherungsrechts gewonnen werden. Das ASVG verwendet den Ausdruck vor allem, um bestimmte Lebenssituationen der Leistungsempfänger zu bezeichnen (zB Krankheit, Mutterschaft, Alter, Tod), für deren Bewältigung es bestimmte Leistungen zur Verfügung stellt. Damit wird die vorrangige Funktion des Versicherungsfalles deutlich, die versicherte Gefahr (das Versicherungswagnis) zu erfassen und abzugrenzen. Vom Leistungsempfänger aus betrachtet geht es um die Absteckung des sozialen Risikos, dem die Sozialversicherung zu begegnen hat. Damit ist der Versicherungsfall die sinngebende Leistungsvoraussetzung; sein Eintritt löst mitunter schon allein einen Anspruch auf Leistungen aus oder ermöglicht der Sozialversicherung (bei freiwilligen Leistungen) die Leistungserbringung. Daneben hat der Gesetzgeber mitunter an das Vorliegen des Versicherungsfalles eigene Rechtsfolgen geknüpft (Tomandl/Schrammel in Tomandl, SV-System 5. ErgLfg 138 f mwN). Aus dem Gesetz ergibt sich eindeutig, daß weder der Antrag auf eine Leistung noch die Stichtagsbestimmungen zum Versicherungsfall gehören (Tomandl aaO 140 bei FN 10 und 11). In der Pensionsversicherung spricht der Gesetzgeber in § 222 Abs 1 Z 1 ASVG von drei (seit dem SRÄG 1993 sogar von fünf) Versicherungsfällen des Alters; daraus folgert Tomandl (aaO 141), nur im Normalfall trete mit Erreichung des Anfallsalters schon der Versicherungsfall ein, wogegen die Kombination Alter plus Arbeitslosigkeit bzw. Alter plus lange Versicherungsdauer eigenständige (zusammengesetzte) Versicherungsfälle seien. Damit in Widerspruch steht allerdings der Wortlaut des § 223 Abs 1 Z 1 ASVG, der für alle Versicherungsfälle des Alters normiert, mit der Erreichung des Anfallsalters sei der Versicherungsfall eingetreten. Tomandl meint (aaO bei VN 17), § 223 Abs 1 Z 1 ASVG müsse teleologisch reduziert werden: Er könne nur den normalen Versicherungsfall des Alters im Auge haben; für die beiden anderen gelte der Versicherungsfall dann als eingetreten, wenn der letzte der verschiedenen Bestandteile des Versicherungsfalls eingetreten sei. Dieser Auffassung ist Jabornegg (Der Versicherungsfall in der Sozialversicherung, DRdA 1982, 11 ff [30]) entgegengetreten; es bestehe nicht der geringste Zweifel, daß § 223 Abs 1 Z 1 ASVG so auszulegen sei, daß als Eintritt des Versicherungsfalles die Erreichung des jeweils in Betracht kommenden Anfallsalters gelte; damit werde aber alternativ auf das Anfallsalter für die "normale" Alterspension und für die vorzeitige Alterspension abgestellt. Nach dem Willen des Gesetzgebers solle der mit dem Begriff des Versicherungsfalles zum Ausdruck gebrachte maßgebende zeitliche Bezugspunkt allein die Erreichung des jeweiligen Anfallsalters sein, während die für die vorzeitigen Alterspensionen (nach damaliger Rechtslage) maßgebenden Elemente der Arbeitslosigkeit und der langen Versicherungsdauer nur als weitere Leistungsvoraussetzung in Betracht kämen. Die dargestellte Streitfrage kann im vorliegenden Fall auf sich beruhen, weil gar nicht strittig ist, daß der Kläger bereits bei Erreichen des Anfallsalters von 55 Jahren die für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer erforderlichen 420 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigenden Versicherungsmonate erworben hatte.

Während der Versicherungsfall zu den primären Leistungsvoraussetzungen gerechnet wird, erlangen die sogenannten sekundären Leistungsvoraussetzungen nur dann rechtliche Bedeutung, wenn die primären Leistungsvoraussetzungen gegeben sind. Eine Prüfung der Erfüllung dieser sekundären Voraussetzungen ist erst nach dem Vorliegen der primären Voraussetzungen möglich. Besonders deutlich wird die Bezogenheit auf den Versicherungsfall in der sogenannten Stichtagsregelung der Pensionsversicherung. Die Entscheidung über die Frage, ob eine Leistung der Pensionsversicherung gebührt, ist nach den Verhältnissen an dem durch den Versicherungsfall bzw. Antrag ausgelösten Stichtag zu treffen (§ 223 Abs 2 ASVG). Das Vorliegen der sekundären Voraussetzungen wird zu diesem Zeitpunkt geprüft. Zwar sieht das Gesetz vor, daß bei bestimmten Leistungen der Stichtag erst durch die Antragstellung fixiert wird, sofern der Antrag nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird, an der Vorrangigkeit der primären Leistungsvoraussetzungen ändert sich dadurch jedoch nichts. Ohne Vorliegen eines Versicherungsfalles kann nie ein Stichtag ermittelt werden. Formal gesehen stellt erst der durch den Versicherungsfall ausgelöste Stichtag die konkrete Verknüpfung der sekundären Leistungsvoraussetzungen mit einer bestimmten Leistung her. Es genügt nicht, daß die sekundären Voraussetzungen zu irgend einem beliebigen Zeitpunkt vorliegen, sie müssen vielmehr an einem ganz bestimmten Tag gegeben sein, der durch die primären Voraussetzungen bestimmt wird (Tomandl/Schrammel aaO 142 mwN; SZ 62/22 = SSV-NF 3/27; vgl. auch SSV-NF 6/80).

Aus dem bisher Gesagten folgt, daß der Versicherungsfall der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer jedenfalls eingetreten war, als der Versicherte das entsprechende Anfallsalter vollendet und bereits 420 für die Bemessung der Leistung zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben hatte (§ 253 b Abs 1 ASVG). Die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen gehören zu den sekundären bzw. besonderen Leistungsvoraussetzungen, die erst zu einem bestimmten Stichtag zu prüfen sind. Strittig ist lediglich, ob der Versicherungsfall bereits mit der Vollendung des 55. oder erst mit der Vollendung des 60. Lebensjahres eintrat. Dazu führte der Oberste Gerichtshof in seinem bereits oben wiedergegebenen Aufhebungsbeschluß vom 12.1.1993, 10 Ob S 336/92 aus, daß für den Kläger im vorliegenden Rechtsstreit ausnahmsweise als Anfallsalter für die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer die Vollendung des 55. Lebensjahres genügt und daß damit feststeht, daß der Kläger diese eine Voraussetzung für den Anspruch auf die begehrte Leistung erfüllt hat. Die Aufhebung und Zurückverweisung erfolgte nur zur Prüfung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 253 b ASVG. Wie der Revisionswerber zutreffend darlegt, waren das Erstgericht, an das die Sache zurückverwiesen wurde, und das Berufungsgericht mangels Feststellung eines geänderten Sachverhaltes (Fasching, Komm. IV 226 Anm 5 und 367 Anm 1; ZPR2 Rz 1821 mwN) nach dem gemäß § 2 Abs 1 ASGG auch in Sozialrechtssachen anzuwendenden § 511 Abs 1 ZPO bei der weiteren Behandlung und Entscheidung des Rechtsfalles an die rechtliche Beurteilung gebunden, die das Revisionsgericht seinem aufhebenden Beschluß zugrunde gelegt hat. Auch der Oberste Gerichtshof selbst ist an seine im Aufhebungsbeschluß ausgesprochene Rechtsansicht gebunden, soweit sich nicht der zu beurteilende Sachverhalt geändert hat und die diesbezüglichen Feststellungen im fortgesetzten Verfahren ausdrücklich getroffen worden sind, oder sich die Rechtslage geändert hat (Fasching, Komm. IV 227 Anm 7 und 367 Anm 2 mwN; ZPR2 Rz 1599; SZ 50/97). Wird das berufungs- und das erstgerichtliche Urteil wegen Feststellungsmängeln (gemäß oder in sinngemäßer Anwendung des § 496 Abs 1 Z 3 ZPO) aufgehoben, so tritt das Verfahren zwar in der Regel in den Stand vor Schluß der Verhandlung erster Instanz zurück. Die Parteien können daher wieder grundsätzlich alle ihnen im erstinstanzlichen Verfahren bis dahin zustehenden Befugnisse wahrnehmen, vor allem also neue Tatsachen vorbringen und neue Beweismittel anbieten. Sie können auch Behauptungen des Gegners zu denen sie sich bisher nicht geäußert hatten, bestreiten und nicht zuletzt auch das Begehren ergänzen oder ändern. Diese Befugnisse sind jedoch beschränkt: Die Beantwortung jener Fragen, die vom Rechtsmittelgericht, das die Aufhebung verfügt hat, auf der Grundlage des gegebenen Sachverhaltes bereits abschließend entschieden wurden, kann auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Abschließend erledigte Streitpunkte können im fortgesetzten Verfahren daher nicht mehr aufgerollt werden (SZ 28/96, SZ 46/16, SZ 55/164, SZ 58/182 = RZ 1986/45 = JBl 1986, 669; MietSlg. 39.774; 1 Ob 547,548/93, zuletzt 10 Ob S 14/94).

Der Streitpunkt der Erfüllung des Anfallsalters mit Vollendung des 55. Lebensjahres wurde im vorliegenden Verfahren abschließend im Sinne des Klägers erledigt und konnte daher nicht mehr aufgerollt werden. In bezug auf die Erreichung des Anfallsalters wurde auch weder ein geänderter Sachverhalt festgestellt noch hat sich die diesbezügliche Rechtslage (§ 253 b ASVG) idF des SRÄG 1991) geändert. Zufolge der Regelung des Bundesgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1991/627 und des Bundesverfassungsgesetzes über unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Sozialversicherten BGBl 1992/832 ist lediglich mit Wirkung vom 1.12.1991 davon auszugehen, daß gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig sind. Dies vermag aber nichts daran zu ändern, daß für den Anspruch des Klägers ausnahmsweise als Anfallsalter die Vollendung des 55. Lebensjahres maßgebend ist, worauf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der für andere Versicherte geltenden Regelung ohne jeden Einfluß bleiben muß. Zum neuen Stichtag 1.5.1993, der sich aus § 223 Abs 2 letzter Satz ASVG idF vor der 51. Novelle (SRÄG 1993) ergibt, waren nur mehr die sekundären bzw. besonderen Leistungsvoraussetzungen zu prüfen. Die Prüfung dieser Voraussetzungen zu einem auf den Eintritt des Versicherungsfalles nachfolgenden Stichtag kann jedoch nicht dazu führen, daß die Voraussetzungen des Eintritts des Versicherungsfalles wieder negiert werden. Dagegen spricht auch nicht die vom Berufungsgericht ins Treffen geführte Entscheidung SSV-NF 6/58: In dieser Entscheidung ging es lediglich um die sekundäre Leistungsvoraussetzung der Wartezeit, gegen die der erkennende Senat keine verfassungsrechtlichen Bedenken hatte: Da sich der Stichtag bei Anträgen auf eine Leistung aus den Versicherungsfällen des Alters oder der geminderten Arbeitsfähigkeit, die erst nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt werden, nach dem Zeitpunkt der späteren Antragstellung richte und hiedurch in manchen Fällen ein bei Eintritt des Versicherungsfalles bestehender Leistungsanspruch mangels Erfüllung der Wartezeit am Stichtag verloren gehen könne, mache die Stichtagsregelung verfassungsrechtlich nicht bedenklich. Da die Stichtagsregelung zu den sekundären Leistungsvoraussetzungen gehört, können die dort dargelegten Grundsätze nicht auf die Frage des Eintritts des Versicherungsfalles übertragen werden. Der Revisionswerber hat wiederholt zutreffend darauf hingewiesen, daß die Erreichung eines bestimmten Alters ein singuläres Ereignis im Leben eines Menschen darstellt, das nicht mehrere Male eintreten kann: Ist der Versicherungsfall des Alters durch Erreichung des Anfallsalters einmal eingetreten, so ist ein Abgehen hievon denkunmöglich; das Anfallsalter steht an einem späteren Stichtag nicht mehr zur Prüfung an, weil es ohne dessen Erreichen und demgemäß ohne Eintritt des Versicherungsfalles gar keinen Stichtag gäbe.

Die Sache ist daher im Sinne einer Stattgebung des eingeschränkten Klagebegehrens spruchreif. Ob sich die mit 1.7.1993 in Kraft getretene Änderung der Rechtslage durch das Sozialrechts-Änderungsgesetz 1993, BGBl 335, zugunsten des Klägers auswirken könnte, braucht demnach nicht mehr untersucht zu werden. Insbesondere braucht nicht geprüft zu werden, ob für den Kläger daraus etwas zu gewinnen wäre, daß die §§ 99 Abs 3 Z 3, 223 Abs 2 letzter Satz und 253 b Abs 1 lit e ASVG jeweils in der früheren Fassung ohne Übergangsbestimmungen ersatzlos aus dem Rechtsbestand entfernt wurden. Schließlich braucht auch zu den vom Kläger vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das unterschiedliche Pensionsanfallsalter für männliche und weibliche Versicherte nicht Stellung genommen zu werden.

In Stattgebung der Revision des Klägers waren daher die Urteile der Vorinstanzen entsprechend abzuändern. Eine vorläufige Zahlung iS des § 89 Abs 2 ASGG war allerdings mangels jeglicher Grundlage für deren Festsetzung nicht aufzutragen (vgl. SSV-NF 2/141, 5/29).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

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