OGH 4Ob578/89

OGH4Ob578/8912.9.1989

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Prof. Dr.Friedl als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Gamerith, Dr.Kodek, Dr.Redl und Dr.Graf als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Verlassenschaft nach Anton G***, vertreten durch die erbserklärten Erben 1. Elisabeth G***, Diplomkinderschwester, Völs, Albertistraße 4; 2. Erwin G***, Zollinspektor, Gries am Brenner Nr.248; 3. Walter G***, Arbeiter, München 40, Kantstraße 23, Bundesrepublik Deutschland; 4. Mag.Beate G***, Professorin, Lienz, Andreas-Hofer-Straße 34, sämtliche vertreten durch Dr.Jakob Oberhofer und Dr.Johannes Hibler, Rechtsanwälte in Lienz, wider die beklagte Partei Verlassenschaft nach Gerhard R***, vertreten durch den Verlassenschaftskurator Dr.Manfred Trentinaglia, Rechtsanwalt in Kitzbühel, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens (Streitwert S 1,100.000), infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 26.April 1989, GZ 2 R 123/89-11, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 30.Jänner 1989, GZ 18 Cg 339/88-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Endentscheidung in der Hauptsache vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 30.Juli 1986 verstorbene Anton G*** hatte ab April 1984 gemeinsam mit seinem Neffen Gerhard R*** dessen Haus Tiemberg Nr 137 in Reith bei Kitzbühel bewohnt. Anton G*** war vom Vater Gerhard R*** ersucht worden, sich um das genannte Haus zu kümmern. Anfangs war das Verhältnis zwischen Anton G*** und seinem Neffen im wesentlichen gut; dann kam es aber zu regelmäßigen Auseinandersetzungen. Zum Teil lag der Grund dafür in der Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit Gerhard R***, der mehrfach vergeblich versucht hatte, durch Entwöhnungskuren seinen Zustand zu verbessern.

Am 22.August 1984 kehrte Anton G*** gegen 1 Uhr nach einem Gasthausbesuch in alkoholisiertem Zustand in das gemeinsam mit Gerhard R*** bewohnte Haus zurück und stellte fest, daß der Haustürschlüssel innen steckte. Auf sein Läuten öffnete Gerhard R***. Im Zuge der darauf folgenden wörtlichen und tätlichen Auseinandersetzung ging Anton G*** zunächst mit einer Axt auf Gerhard R*** los; später schoß er zweimal mit einem Kleinkalibergewehr auf ihn. Der zweite Schuß traf Gerhard R*** in den Oberschenkel und verletzte ihn schwer. Anton G*** wurde deshalb mit Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 26.September 1985, 25 Vr 3302/84, wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach § 83 Abs 1, § 84 Abs 2 Z 1 StGB rechtskräftig verurteilt. Nach dem 22.August 1984 wohnten Anton G*** und Gerhard R*** nicht mehr zusammen. Anton G*** verzog nach einem Spitalsaufenthalt nach Eugendorf; R*** bewohnte bis zu seinem Tod am 22.Mai 1985 weiterhin das Haus in Reith bei Kitzbühel. Mit Kodizill vom 13.Juni 1984 hatte Gerhard R*** das erwähnte Haus Anton G*** vermacht.

Mit der Behauptung, daß Gerhard R*** seinem Onkel Anton G*** dessen Straftat vergeben habe und das Kodizill daher rechtswirksam sei, begehrt die klagende Verlassenschaft im Hauptverfahren (18 Cg 576/86 des Landesgerichtes Innsbruck) die Feststellung, daß ihr Anspruch aus dem Kodizill zu Recht bestehe; außerdem stellt sie zwei Eventualbegehren.

Die beklagte Verlassenschaft beantragt die Abweisung dieses Klagebegehrens. Gerhard R*** habe Anton G*** nicht

verziehen; dieser sei daher erbunwürdig.

Das Erstgericht wies im Hauptverfahren das Haupt- und die Eventualbegehren ab. Es stellte fest, daß sich Gerhard R*** noch kurz vor seinem Tod gegenüber Jutta, Franz und Olga M*** dahin geäußert habe, daß Anton G*** "das Haus" nicht bekommen solle. Daß Gerhard R*** Anton G*** die Straftat vergeben habe, könne nicht als erwiesen angenommen werden; Anton G*** sei daher erbunwürdig (§540 ABGB).

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, daß der Wert des Streitgegenstandes S 300.000 übersteige. Über die dagegen erhobene Revision ist infolge Unterbrechung des Revisionsverfahrens noch nicht entschieden worden.

Die Klägerin begehrt nämlich mit der am 21.9.1988 eingebrachten Klage die Wiederaufnahme des Hauptverfahrens, die Beseitigung der dort ergangenen Urteile sowie eine Klagestattgebung in der Hauptsache. Durch Zufall habe sie davon Kenntnis erlangt, daß Gerhard R*** noch nach der Straftat in psychiatrischer Behandlung bei Dr.Leonhard H*** gestanden sei und dieser bestätigen könne, daß der Erstgenannte Anton G*** die Straftat verziehen habe. Davon habe die Erbin Elisabeth G*** am 13. September 1988 erstmals erfahren.

Die Beklagte beantragt die Abweisung des Klagebegehrens. Der Klägerin sei schon im Hauptverfahren bekannt gewesen, daß Gerhard R*** in ständiger Behandlung Dr.Leonhard H*** gewesen sei. Die in der Wiederaufnahmsklage angebotenen Beweismittel seien für die Klägerin schon im Vorprozeß benützbar gewesen; sie habe es schuldhaft unterlassen, die für den (Haupt-)Prozeß notwendigen Beweismittel rechtzeitig zu beschaffen.

Das Erstgericht bewilligte die Wiederaufnahme und beseitigte die im Hauptverfahren ergangenen Urteil erster und zweiter Instanz. Es stellte fest:

Nachdem die mit der Vertretung der klagenden Verlassenschaft betrauten Kinder Anton G*** das Urteil des Berufungsgerichtes im Hauptprozeß zugestellt erhalten hatten, trafen sie zusammen und kamen überein, daß ein weiterer Zeuge ausfindig gemacht werden müsse, der bestätigen könne, daß Gerhard R*** Anton G*** die Straftat vom 22.August 1984 verziehen habe. Da ihnen bekannt war, daß Gerhard R*** alkohol- und medikamentenabhängig war, erkundigte sich Elisabeth G*** auf der Drogenambulanz der Innsbrucker Universitätsklinik, ob irgendwelche Unterlagen über ihn auflägen. Im Zuge dieser Nachforschungen verwies Dr.R*** Elisabeth G*** an den Facharzt für Psychiatrie in Hall/Tirol Dr.Leonhard H***, bei dem Gerhard R*** von 1981 bis kurz vor seinem Tod in Behandlung gewesen war. Am 13.September 1988 setzte sich deshalb Elisabeth G*** mit diesem Psychiater in Verbindung und erfuhr von ihm, daß er über das Verhältnis Anton G*** zu Gerhard R*** Bescheid wisse und auch Kenntnis davon habe, daß Gerhard R*** Anton G*** die Straftat vom 22.August 1984 verziehen habe.

Den Kindern Anton G*** war zwar bekannt, daß Gehard R*** vor der Straftat Anton G*** (22.August 1984) bei Dr.H*** in Behandlung gewesen war; sie wußten aber nicht, daß das auch noch nach der Tat der Fall gewesen war. Des weiteren war ihnen bis zum 13.September 1988 nicht bekannt, daß Gerhard R*** mit Dr.H*** über seine Verbindung zu Anton G*** und über die Straftat vom 22.August 1984 gesprochen hatte. Sie setzten sich daraufhin mit ihrem Rechtsvertreter in Verbindung, worauf dieser am 19.September 1988 die Wiederaufnahmsklage eingebracht hat.

Im Hauptverfahren hatten die Vertreter der klagenden Verlassenschaft keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß Dr.Leonhard H*** über das Verhältnis Gerhard R*** zu Anton G*** Bescheid wisse.

Rechtlich meinte das Erstgericht, daß die Klägerin kein Verschulden im Sinne des § 530 Abs 2 ZPO treffe und die Aussage des Zeugen Dr.Leonhard H*** geeignet sei, in der Hauptsache eine für sie günstigere Entscheidung zu bewirken.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es übernahm die Feststellungen des Ersturteils als das Ergebnis einer unbedenklichen Beweiswürdigung und billigte auch die rechtliche Beurteilung des Erstgerichtes. Da die Erben Anton G*** keine Kenntnis davon gehabt hätten, daß Gerhard R*** auch noch nach der Straftat bei Dr.H*** in Behandlung gewesen war, und keine Anhaltspunkte vorgelegen seien, daß Dr.Leonhard H*** von einer Verzeihung Gerhard R*** gewußt habe, begründe es kein Verschulden der Klägerin, daß sie es unterlassen habe, im Hauptprozeß den Zeugen Dr.Leonhard H*** zu führen. Aus der Aussage des Klagevertreters Dr.Johannes H*** ergebe sich auch kein Hinweis auf sein Wissen davon, daß Gerhard R*** nach dem 22.August 1984 bei Dr.H*** in Behandlung gewesen war und dieser Kenntnis von der Verzeihung der Straftat durch Gerhard R*** gehabt hatte. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Aktenwidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Klägerin beantragt, der Revision nicht Folge zu geben. Die Revision ist im Hinblick auf den notwendigerweise auch für das Wiederaufnahmeverfahren gültigen (SZ 10/350; 4 Ob 548/83, 4 Ob 502/84, 8 Ob 607/86 uva) Streitwertausspruch des Berufungsgerichtes im Hauptverfahren zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revisionsgründe der Aktenwidrigkeit und der Mangelhaftigkeit des Verfahrens liegen nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

Die Beklagte hält weiter an ihrer Auffassung fest, daß es der Klägerin zum Verschulden gereiche, den Zeugen Dr.Leonhard H*** nicht schon im Hauptverfahren beantragt zu haben. Es liege auf der Hand, daß ein psychisch labiler Mensch wie Gerhard R*** nach der gegen ihn begangenen Straftat seinen Psychiater kontaktiert habe, zumal der Täter Anton G*** für ihn eine "Vaterfigur" gewesen sei. Daß er einen solchen Vorfall mit seinem Vertrauensarzt und Psychiater bespreche, sei logisch und lebensnah. Der Klägerin sei vorzuwerfen, daß sie nicht schon im Hauptprozeß diesbezüglich naheliegende Nachforschungen angestellt habe. Bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte sie - zumal sie durch einen Rechtsanwalt vertreten gewesen sei - schon damals den Antrag auf Einvernahme des Psychiaters Dr.Leonhard H*** stellen müssen. Dem ist nicht zuzustimmen:

Nach § 530 Abs 2 ZPO ist die Wiederaufnahme - ua - nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO nur dann zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außerstande war, die neuen Tatsachen oder Beweismittel vor Schluß der mündlichen Verhandlung im Hauptverfahren geltend zu machen. Ein Verschulden liegt dann vor, wenn die die Wiederaufnahme begehrende Partei ihre prozessuale Diligenzpflicht im Hauptverfahren verletzt hat (Fasching IV 518). Das trifft dann zu, wenn die Partei im Hauptprozeß Zeugen zu führen unterließ, von denen sie voraussetzen mußte, daß ihnen die zu erweisenden Tatsachen bekannt seien, oder wenn die Partei nichts unternommen hat, um während des Verfahrens den Aufenthalt eines Zeugen zu ermitteln, sofern sie schon damals vom Wissen des Zeugen Kenntnis hatte und diese Kenntnis nicht erst nachträglich erhielt (Fasching IV 518 f mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; 1 Ob 185/75, 4 Ob 598/81; 2 Ob 674/87 ua). Eine Wiederaufnahme ist dann ausgeschlossen, wenn die Partei die Beweismittel bei Anwendung ordnungsgemäßer Aufmerksamkeit hätte finden können (ZBl 1922 Nr.33); das heißt aber nicht, daß etwa eine Partei in allen Fällen den Sachverhalt durch Erhebungen an Ort und Stelle klären müßte (ZVR 1958/45) oder daß sie auch Urkunden an Orten zu suchen hätte, an denen sie nicht vermutet werden können (EvBl.1962/400). Ebensowenig kann hier der Klägerin vorgeworfen werden, daß sie nicht schon während des Hauptverfahrens erster Instanz jene Erhebungen angestellt hat, die sie nach der Zustellung des Berufungsurteiles vorgenommen hat. Die Erben nach Anton G*** hatten nach den getroffenen Feststellungen damals keine Kenntnis davon, daß Gerhard R*** auch nach dem Vorfall vom 22.August 1984 mit dem Arzt Dr.Leonhard H*** in Verbindung gestanden war; noch viel weniger konnten sie wissen, daß Dr.H*** über die Haltung seines Patienten zu Anton G*** nach dessen Angriff unterrichtet sein könnte. Daß ein Patient mit seinem Psychiater darüber spricht, ob er allenfalls demjenigen, der ihn verletzt hat, vergeben hat, ist keineswegs so "logisch und lebensnah", daß die Vertreter der Klägerin bei gehöriger Sorgfalt jedenfalls aus Gründen der Vorsicht Dr.Leonhard H*** als Zeugen zu führen gehabt hätten; keineswegs waren sie verpflichtet, außergerichtlich mit ihm Kontakt aufzunehmen und ihn darüber zu befragen. Im übrigen kann auch nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß eine Vorsprache Elisabeth G*** bei der Drogenambulanz in Innsbruck auch zu einem früheren Zeitpunkt zu einem Hinweis auf Dr.Leonhard H*** hätte führen müssen.

Soweit die Beklagte davon ausgeht, der Rechtsvertreter der Klägerin habe schon auf Grund der Zeugenvernehmungen im Hauptprozeß davon Kenntnis gehabt, daß Dr.Leonhard H*** auch nach dem 22. August 1984 der Psychiater R*** gewesen sei und dieser nach dem Vorfall mit Dr.H*** gesprochen habe, entfernt sie sich in unzulässiger Weise von den Tatsachenannahmen der Vorinstanzen. Das Berufungsgericht hat darauf hingewiesen, daß sich aus der Aussage des Klagevertreters Dr.Johannes H*** kein Hinweis auf eine solche Kenntnis ergebe (S 78; im übrigen hat auch der Zeuge Maximilian E*** - entgegen den Revisionsausführungen - bekundet, er wisse nicht, ob Gerhard R*** mit Dr.H*** auch nach dem Vorfall mit der Schießerei noch Kontakt gehabt habe: S 79 des Aktes 18 Cg 576/86).

Daß die Benützung des neuen Beweismittels - also der Aussage des Zeugen Dr.Leonhard H*** - geeignet ist, eine für die Klägerin günstigere Entscheidung herbeizuführen (§ 530 Abs 1 Z 7 ZPO; Fasching aaO 513 f), zieht die Beklagte selbst nicht in Zweifel. Die Revision mußte mithin erfolglos bleiben.

Da die Wiederaufnahme nicht Selbstzweck ist, sondern lediglich der angestrebten Änderung der Entscheidung in der Hauptsache dient und ihre Bewilligung von der amtswegigen Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen abhängt, ist das Wiederaufnahmeverfahren nicht einem vom Beklagten zu verantwortenden Zwischenstreit gleichzusetzen; in dem auf Bewilligung der Wiederaufnahme lautenden Urteil ist deshalb die Entscheidung über die Kosten des Wiederaufnahmeverfahrens der Entscheidung in der Hauptsache vorzubehalten (Fasching II 357; SZ 20/157; 6 Ob 536/85 uva).

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