Spruch:
Die Nichtigkeitsgrunde im Verfahren außer Streitsachen sind bloß relative; ihr Einfluß auf die Erledigung der Sache ist im Einzelfall genau abzuwägen. Insbesondere muß die Verletzung der örtlichen Zuständigkeitsvorschriften nicht Nichtigkeit zur Folge haben
OGH 15. 3. 1972, 1 Ob 48/72 (LGZ Wien 43 R 807/71; BG Döbling 1 P 159/64)
Text
Die Ehe des Dr Norbert und der Charlotte U, der Eltern der drei Pflegebefohlenen, die alle österreichische Staatsbürger sind, wurde mit Urteil des LGZ Wien rechtskräftig aus dem Alleinverschulden des Vaters geschieden, weil dieser im Jänner 1962 gegen den Willen der Mutter die eheliche und häusliche Gemeinschaft aufgelöst hatte, aus der ehelichen Wohnung ausgezogen und im November 1962 nach den USA gereist war, um als Dozent in S tätig zu sein. Der Vater befindet sich auch heute noch in S, wogegen die Minderjährigen mit ihrer Mutter in Wien geblieben sind, in deren Pflege und Erziehung sie sich bereits im Zeitpunkt der Scheidung befanden und auch heute noch befinden. Der letzte ordentliche Wohnsitz des Vaters in Österreich war in Wien.
Das gegenständliche Pflegschaftsverfahren wurde beim BG Döbling am 26. 10. 1964 mit der Ladung der Mutter zur Klärung der Frage von Pflege und Erziehung der Kinder eröffnet. Der Beschluß des BG Döbling über die Bestellung der Mutter zur besonderen Sachwalterin vom 16. 5. 1697 wurde dem Vater am 6. 6. 1967 zugestellt und blieb unangefochten.
Am 21. 7. 1971 beantragte die Mutter beim BG Döbling, den Vater zur Bezahlung eines monatlichen Unterhaltes zu verhalten. Diesem Begehren widersetzte sich der Vater mit der Begründung, er habe die begehrten Leistungen seit Scheidung der Ehe immer erbracht.
Das Erstgericht verhielt den Vater zur Bezahlung eines monatlichen Unterhaltes von S 1500.- je Kind und wies das Begehren auf Wertsicherung der festgesetzten Beträge ab.
Nur gegen die Ablehnung der Wertsicherung richtete sich der Rekurs der Mutter. Aus Anlaß des Rekurses hob das Rekursgericht den erstgerichtlichen Beschluß, der hinsichtlich des Unterhaltszuspruches ab 1. 8. 1971 bis zu S 1500.- monatlich je Kind als unangefochten unberührt blieb, hinsichtlich der strittigen Wertsicherung des Unterhaltsbetrages bzw des sich daraus ergebenden Mehrbetrages von S 450.- monatlich je Kind ab 1. 8. 1971 als nichtig auf und trug dem Erstgericht in diesem Umfang Vorgehen nach § 28 JN auf. Im Rahmen der Anfechtung sei die Zuständigkeitsfrage von Amts wegen aufzuwerfen. Zufolge österreichischer Staatsbürgerschaft des Vaters und der Kinder und deren inländischen Aufenthaltes sei zwar grundsätzlich inländische Gerichtsbarkeit gegeben, es fehle aber an einer inländischen Zuständigkeitsnorm. § 109 Abs 1 Satz 1 JN verweise auf § 71 dieses Gesetzes, dieser wieder auf § 66. Zur Zeit des Anfalles der Sache beim Erstgericht habe es keinen inländischen Wohnsitz des Vaters gegeben, sondern einen bestimmten ausländischen, sodaß auch § 67 JN nicht anwendbar sei. § 109 Abs 1 Satz 2 JN beziehe sich nur auf Vormundschaften, komme also bei unter väterlicher Gewalt stehenden ehelichen Kindern nicht zur Anwendung. Aber auch ein Anwendungsfall des § 109a Abs 1 JN sei nicht gegeben, weil keiner der Fälle der JMV vom 11. 8. 1914, RGBl 209, vorliege; das zuständige Gericht sei nach dem ordentlichen Wohnsitz des Vaters durchaus ermittelbar, es liege auch kein dringlicher Sachverhalt vor, da sich der Vater nie vor den Kindern verborgen habe. Es liege daher eine unheilbare und Nichtigkeit begrundende Unzuständigkeit des Erstgerichtes vor, die zur Aufhebung des Beschlusses im Rahmen der Anfechtung führen müsse. Nach § 44 JN habe nicht vorgegangen werden können, weil ein zuständiges inländisches Gericht erst auf dem Wege des § 28 JN zu ermitteln sein werde.
Der Oberste Gerichtshof hob den Beschluß des Rekursgerichtes auf und trug diesem die neuerliche Entschließung über den Rekurs der ehelichen Mutter und besonderen Sachwalterin Charlotte U unter Abstandnahme von dem herangezogenen Nichtigkeitsgrund auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Der Rekurs ist zulässig, da gegen aufhebende Beschlüsse des Gerichtes zweiter Instanz im außerstreitigen Verfahren, sofern das Gesetz nichts anderes bestimmt, ein Rechtsmittel zulässig ist (JBl 1971, 138 ua) und auch die Bestimmung des § 14 Abs 1 AußStrG der Bekämpfung einer Entscheidung über die Bemessung des Unterhaltes aus formalrechtlichen Gründen nicht im Wege steht (EvBl 1969/168 ua).
Dem Rekursgericht ist darin beizupflichten, daß die herrschende Meinung dahin geht, die Voraussetzungen für die Anordnung und Beendigung einer Pflegschaft seien nach dem Heimatrecht des Minderjährigen zu beurteilen; über einen Österreicher ist daher die Pflegschaft grundsätzlich in Österreich anzuordnen und zu führen (EvBl 1970/113; vgl Walker - Verdroß - Satter in Klang[2] I/1, 257; Köhler, Internationales Privatrecht[7] 78, Fasching I, 526). Dem Rekursgericht ist auch darin zu folgen, daß bei begrundeter inländischer Gerichtsbarkeit und Fehlen eines örtlich zuständigen inländischen Gerichtes der Oberste Gerichtshof aus den sachlich zuständigen ein Gericht zu bestimmen hat, das sodann für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat (§ 28 JN). Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung ist aber, daß tatsächlich kein nach irgendeiner konkreten Gesetzesbestimmung örtlich zuständiges Gericht im Inland zu finden ist. Gemäß § 109 Abs 1 Satz 1 JN ist zur Besorgung aller Geschäfte, welche der Vormundschaftsbehörde obliegen, das Bezirksgericht berufen, bei welchem der Minderjährige seinen allgemeinen Gerichtsstand in Streitsachen hat. Daß diese Bestimmung nicht nur für Vormundschaftssachen im engeren Sinne, sondern auch für Pflegschaften über eheliche Kinder gilt (Fasching I, 522 f), bezweifelt auch das Rekursgericht nicht. Da gemäß § 71 JN die ehelichen Kinder grundsätzlich den allgemeinen Gerichtsstand des Vaters teilen, verweist das Gesetz auf den Wohnsitz des Vaters, der dessen allgemeiner Gerichtsstand ist (§ 66 Abs 1 JN). Da der Wohnsitz einer Person an dem Orte begrundet ist, an welchem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, daselbst ihren bleibenden Aufenthalt zu nehmen, befindet sich derzeit der allgemeine Gerichtsstand des Vaters zweifellos in S, wo er sich seit rund einem Jahrzehnt aufhält, und damit im Ausland.
Auf diese derzeit eindeutig zu beurteilende Rechtslage kommt es aber nicht an, da das Pflegschaftsverfahren keineswegs erst mit der Beschlußfassung über den jetzt vorliegenden Antrag der Mutter, sondern bereits im Jahre 1964 unmittelbar im Anschluß an das Ehescheidungsverfahren eröffnet wurde. Auch damals befand sich der Vater zwar in den Vereinigten Staaten; aus dem Ehescheidungsurteil ergibt sich jedoch, daß sich der Vater bereits zuvor aus beruflichen Gründen mehrmals lange Zeit im Ausland aufgehalten hatte. Es steht wohl außer Frage, daß der Vater damals noch keine Wohnsitze im Ausland begrundet hatte. Wenn dann aber das Pflegschaftsgericht für den Zeitraum bis unmittelbar nach der Scheidung der Ehe bei der natürlich nicht durch ein förmliches Beweisverfahren größeren Umfanges zu prüfenden Frage seiner örtlichen Zuständigkeit davon ausgegangen ist, daß immer noch der letzte gemeinsame Wohnsitz der Eltern in Wien und nicht der damalige Aufenthalt des Vaters in den Vereinigten Staaten als der Ort anzusehen gewesen ist, an welchem er seinen Wohnsitz hatte, entsprach dies noch der damaligen Sachlage. Das Erstgericht hat damit seine örtliche Zuständigkeit rechtmäßig in Anspruch genommen. Am 6. 7. 1967 wurde dem Vater auch ein Beschluß des Erstgerichtes zugestellt, ohne daß er diese in Anspruch genommene Zuständigkeit bezweifelt hätte; er tut dies auch jetzt nicht. Es besteht daher kein Anlaß, nunmehr nachträglich auf Grund des heutigen Wissens, daß der Vater in S geblieben ist, von Amts wegen zu prüfen, ob das BG Döbling seinerzeit seine örtliche Zuständigkeit rechtmäßig in Anspruch genommen hat. Gemäß § 29 JN dauert aber die einmal begrundete örtliche Zuständigkeit des Pflegschaftsgerichtes auch dann fort, wenn sich in der Zwischenzeit die Zuständigkeitsvoraussetzungen geändert haben. Bei ehelichen Kindern ist das Einschreiten des Pflegschaftsgerichtes mit dem Abschluß der einzelnen getroffenen Maßnahmen noch nicht beendet, weil die Möglichkeit eines neuerlichen Einschreitens bis zur Volljährigkeit der Minderjährigen besteht (RZ 1967, 104; EvBl 1961/406; SZ 25/127 ua, zuletzt etwa 1 Ob 153/69 und 7 Ob 233/71; vgl auch Fasching I, 526). Die Zuständigkeit des Erstgerichtes blieb daher erhalten. Zu Unrecht hat das Rekursgericht dann aber angenommen, dieses sei örtlich nicht zuständig. Nur ergänzend sei erwähnt, daß von einem Teil der Lehre immerhin auch zu § 71 JN die Auffassung vertreten wird, daß die ehelichen Kinder, wenn der Vater sie nicht in das Ausland mitgenommen hat, dem allgemeinen Gerichtsstand der Mutter folgen (Analogie §§ 70 Abs 2, 73 JN; Pollak, System[2], 307; vgl allerdings zur Problematik von Analogien im Verfahrensrecht EvBl 1971/168) oder zumindest den letzten allgemeinen Gerichtsstand des Vaters im Inland behalten (Fasching I, 382); beide Ansichten, die besonders dann, wenn die Ehe der Eltern geschieden ist und die Kinder in Pflege und Erziehung der Mutter belassen wurden, sehr viel für sich haben, ergäben auch die Zuständigkeit des BG Döbling.
Es ist aber auch die Ansicht des Rekursgerichtes, die Verletzung der örtlichen Zuständigkeit eines Pflegschaftsgerichtes begrunde, auch wenn sie in jeder Lage des Verfahrens von Amts zu beachten ist (§ 44 JN), Nichtigkeit, trotz der für den Regelfall herrschenden Meinung, daß der im Außerstreitgesetz nicht definierte Begriff der Nichtigkeit dem § 477 ZPO zu entnehmen ist (EvBl 1971/168; RZ 1968, 215; SZ 42/69 uva), keineswegs unbestritten. Die Bedeutung der Nichtigkeit muß nämlich für die beiden Gebiete der bürgerlichen Gerichtsbarkeit nicht immer die gleiche sein, da die Verschiedenheit der die beiden Verfahren beherrschenden Grundsätze zu anderen Ergebnissen führen kann (SZ 29/9). Daß die Verletzung der örtlichen Zuständigkeitsvorschriften im außerstreitigen Verfahren einen Nichtigkeitsgrund abgebe, wird von der Entscheidung SZ 24/339 ausdrücklich verneint; die gegenteilige Ansicht Faschings I, 281 wird auch von der Entscheidung 7 Ob 269/65 ausdrücklich abgelehnt (dagegen allerdings 3 Ob 330/59; SZ 29/9 ua). Auch Ott, Rechtsfürsorgeverfahren, 216 hält nur die sachliche Unzuständigkeit des Gerichtes für so beachtlich, daß ihre Mißachtung eine Nichtigkeit begrundet; er lehrt darüber hinaus (212 f), daß auch eine eingetretene Verletzung des formalen Rechtes zugunsten der zweckmäßig gestalteten materiellen Rechtslage unbeachtlich bleiben und die geschaffene ruhige Situation nicht unvorhergesehenen Störungen ausgesetzt werden soll, wenn ungeachtet unterlaufener Verfahrensmängel der angestrebte Rechtsschutz erreicht wurde; die Nichtigkeitsgrunde im Verfahren außer Streitsachen sind in diesem Sinne daher auch bloß relative, dh ihr Einfluß auf die Erledigung der Sache ist in jedem Einzelfall genau abzuwägen. Es mag daher die Verletzung der örtlichen Zuständigkeitsbestimmungen im Entmündigungsverfahren zum Schutze des Betroffenen mit Nichtigkeit zu ahnden sein (SZ 29/9; 6 Ob 81/67). Kein Grund besteht aber, in einem seit Jahren beim Gericht des ständigen Aufenthaltes der Pflegebefohlenen geführten Pflegschaftsverfahren einen Beschluß nur deswegen aufzuheben, weil die Bestimmung des § 28 JN allenfalls zu Unrecht nicht beachtet worden war; gerade in einem solchen Fall kommt die Konkurrenz eines anderen Gerichtes und damit die Gefahr einer Doppelgeleisigkeit oder eine andere Gefahr für die Pflegebefohlenen, aber auch eine Benachteiligung des ohnehin im Ausland lebenden Vaters nicht in Betracht. Das Vorgehen des Rekursgerichtes ist deshalb auch mit der Vorschrift des § 2 Abs 3 Z 10 AußStrG, daß das Gericht den Parteien nicht durch Zweifelsucht und Ängstlichkeit oder durch Zurückweisung von Gesuchen wegen Mangels unwesentlicher Förmlichkeiten Schaden verursachen soll, nicht in Einklang zu bringen.
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