Spruch:
Ein Gerichtsbeschluß, mit dem gesetzwidrig ohne Vorlage eines Armenrechtszeugnisses das Armenrecht bewilligt wurde, ist als ein von der zuständigen Stelle gesetzter staatlicher Hoheitsakt voll wirksam
OGH 13. Jänner 1970, 4 Ob 103/69 (LGZ Wien 44 Cg 120/69; ArbG Wien 3 Cr 922/69)
Text
Das Erstgericht hat die auf Zahlung von Lohn in der Höhe von 1500 S gerichtete Klage abgewiesen, weil es als erwiesen annahm, daß dem Kläger nur mehr ein Lohnanspruch von 20.62 S zustand, der aber durch Aufrechnung im Prozeß mit einer Gegenforderung von 600 S erloschen sei. Dieses Urteil wurde dem Kläger am 17. Juni 1969 zugestellt. Am 23. Juni 1969 brachte der Kläger beim Erstgericht eine Berufung ein, in der er erklärte, gegen das Urteil vom 9. Juni 1969 des Arbeitsgerichts Wien Berufung einzulegen. Er nimmt darin zu den einzelnen Feststellungen des erstgerichtlichen Urteiles Stellung. Gleichzeitig mit seiner Berufungsschnitt ersuchte der Kläger um Beistellung eines Armenvertreters. Als ihm dieser bewilligt worden war, brachte dieser am 17. Juli 1969 eine neue Berufungsschrift ein.
Das Berufungsgericht wies die Berufung des Klägers und die seines Armenanwalts als unzulässig zurück. Gemäß § 23 ArbGG hätten für das Rechtsmittel und das Rechtsmittelverfahren die Bestimmungen des Vierten Teiles der ZPO, soweit im ArbGG nichts anderes bestimmt sei, zu gelten. Demnach sei auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren die Bestimmung des § 467 ZPO anzuwenden, worin unter P 3 gefordert werde, daß die Berufungsschrift die Erklärung, ob eine Aufhebung oder eine Abänderung beantragt wird (Berufungsantrag) enthalten muß. Dies sei in der Berufungsschrift des Klägers nicht der Fall. Aus der Erklärung, "Berufung aus folgenden Gründen" einzulegen, wobei dann lediglich eine Stellungnahme zu den einzelnen Urteilspunkten folge, sowie aus der Behauptung, nicht konkret 1500 S sondern nur zirka 1500 S gefordert zu haben, lasse sich nicht erkennen, in welche Richtung die angestrebte Berufungsentscheidung gehen solle. Das Erfordernis eines bestimmten Berufungsautrages gehöre zum materiellen Inhalt der Berufung. Da aus diesem Grund eine Verbesserung nach § 84 ZPO nicht in Frage komme, hätte die Berufungsschrift vom Erstgericht auch nicht zwecks Verbesserung zurückgestellt werden dürfen. Der Mangel eines fehlenden Berufungsantrags hätte durch die Berufungsschrift des Armenvertreters nicht behoben wenden können, weil im Rechtsmittelverfahren sowohl dem Berufungswerber als auch seinem Gegner nur die Überreichung eines Schriftsatzes gestattet sei. Ein zweiter Schriftsatz sei, möge er auch Richtigstellungen oder Nachträge bezwecken, unzulässig.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs des Klägers Folge, hob den Beschluß des Berufungsgerichtes auf und trug diesem die Fällung einer neuerlichen Entscheidung auf.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß das Fehlen eines Berufungsantrags auch im Arbeitsgerichtlichen Verfahren ein inhaltlicher Mangel der Berufungsschrift ist, der zur Verwerfung der Berufung führt, falls der Berufungsantrag nicht aus dem übrigen Vorbringen des Rechtsmittels entnommen werden kann (SozM IV A 25, EvBl 1951/177, Arb 6079, Arb 7936, EvBl 1969/379 u a). Das Berufungsgericht vertritt nun die Meinung, daß nach dem Inhalte der vom Kläger persönlich verfaßten Berufungsschrift, die gewiß keinen ausdrücklichen Berufungsantrag enthält, nicht unzweifelhaft feststehe, welchen Antrag der Kläger stellen wolle. Diese Meinung kann aber nicht geteilt wenden.
Im P a der Berufung verweist der Kläger darauf, daß keine Ladung für Verhandlung vom 9. Juni 1969 ergangen sei. Diese Hinweis ist dahin zu deuten, daß der Kläger Nichtigkeit des angefochtenen Urteils behauptet, weil ihm die Möglichkeit, vor Gericht zu verhandeln, durch Unterlassung der Zustellung einer Ladung entzogen worden sei (§ 477 Abs 1 Z 4 ZPO). Ferner hat der Kläger bestritten, daß für die beklagte Partei eine Gegenforderung entstanden sei (P c der Berufung) und er hat das Zurechtbestehen der eingeklagten Forderung in ihrer vollen Höhe (P b und d der Berufung) behauptet. Daß dort (P d) der Kläger erklärt, er hätte immer von zirka 1500 S und nicht konkret von 1500 S gesprochen, sagt nichts, weil er tatsächlich in der Klage 1500 S begehrt hat.
Der Berufung des Klägers kann also entnommen werden, daß er in erster Linie die Nichtigerklärung des angefochtenen Urteils und dessen Aufhebung beantragt, aber auch daß er dessen Abänderung im Sinne der Klagsstattgebung anstrebt.
Das Erstgericht hatte dem Kläger Armenrecht bewilligt und ihm einen Armenanwalt beigegeben, obwohl er kein Armenrechtszeugnis vorgelegt hat. Nach § 64 Abs 2 ZPO erlangt die armen Partei erst mit dem Tag, an dem das Armenrechtszeugnis dem Gericht vorgelegt wurde, die mit dem Armenrecht verbundenen Befreiungen und Rechte. Diese Bestimmung wird von Fasching II 430 dahin ausgelegt, daß die Bewilligung des Armenrechts ohne vorliegendes Armenrechtszeugnis wirkungslos sei. Dieser Auslegung kann aber nicht gefolgt werden. Sie steht zunächst mit dem Gesetzeswortlaut nicht im Einklang, dem nur zu entnehmen ist, daß die Wirkungen der Bewilligung des Armenrechts auf den Zeitpunkt zurückzubeziehen sind, in dem das Armenrechtszeugnis vorgelegt wurde. Es wird also nur der Fall behandelt, daß zuerst das Armenrechtszeugnis vorgelegt und nachher,das Armenrecht bewilligt wird. Die arme Partei soll in diesem Fall begünstigt werden.
Es ist aber auch zu berücksichtigen, daß bei der von Fasching vertretenen Auslegung ein Gerichtsbeschluß, mit dem gesetzwidrig ohne Vorlage eines Armenrechtszeugnisses das Armenrecht bewilligt wurde, also absolut nichtig angesehen werden müßte. Fasching führt aber selbst (III 564) aus, daß das österreichische Prozeßrecht absolut nichtige Urteile und dementsprechend auch absolut nichtige Beschlüsse nicht kennt. Hätte der Gesetzgeber wirklich beabsichtigt einem derartigen Beschluß die Wirksamkeit zu versagen, wenn er ergeht, ohne daß ein Armenrechtszeugnis vorliegt, dann hätte erwartet werden können, daß dies vom Gesetzgeber auch klar zum Ausdruck gebracht wird (vgl auch SZ 13/132). Das vom Erstgericht, wenn auch gesetzwidrig, bewilligte Armenrecht ist somit als von der zuständigen Stelle gesetzter staatlicher Hoheitsakt voll wirksam.
Mit dieser Auffassung stehen auch nicht die Entscheidung SZ 32/9 und die nicht veröffentlichten Entscheidungen 3 Ob 244/60 und 7 Ob 9, 11/69 im Widerspruch. Dort wird zwar erklärt, daß, wenn ein Antrag auf Bewilligung des Armenrechts während der Berufungsfrist gestellt wird, auch innerhalb dieser Frist das Armenrechtszeugnis vorgelegt werden muß, widrigens die Berufungsfrist durch den Antrag auf Bestellung des Armenanwaltes nicht verlängert wird (§ 464 Abs 3 ZPO). In allen angeführten Entscheidungen wurde jedoch das Armenrecht erst nach Ablauf der Berufungsfrist bewilligt. Im vorliegenden Fall ist es innerhalb der Berufungsfrist bewilligt worden, sodaß die Gefahr, die arme Partei könnte durch eine Verzögerung der Vorlage des Armenrechtszeugnisses eine Verlängerung der Berufungsfrist erzwingen, gar nicht besteht. Der Kläger ist also durch einen Armenanwalt ordnungsgemäß vertreten, sodaß dessen Berufung, die im wesentlichen nur eine Verdeutlichung der Berufung des Klägers selbst ist und die dieser anhaftenden Formgebrechen (Fehlen einer Gleichschrift und Fehlen der Unterschrift eines Rechtsanwaltes bzw einer im Sinne des § 24 Abs 1 ArbGG zur Vertretung befugten Person) behebt, zu beachten ist. Hiebei ist im Sinne der jüngeren Rechtsprechung (Arb 8228, 8027 u a) nicht erforderlich, daß der zu verbessernde Schriftsatz vom Anwalt unterfertigt wird. Es genügt, daß der den Formvorschriften nicht entsprechende Schriftsatz durch einen neuen, den Formvorschriften entsprechenden Schriftsatz ersetzt wird. Dies trifft im vorliegenden Falle zu. Eine Zurückweisung der vom Kläger selbst erhobenen Berufung, die im Akte erliegt, also der Berufung des Armenanwalts nicht angeschlossen werden brauchte und dieser selbst, hätte nicht erfolgen dürfen.
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