Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs4 idF 2015/I/070
FrÄG 2018
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210011.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 19. August 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber, einen seit Februar 2003 mit kurzen Unterbrechungen in Österreich aufhältigen und zuletzt über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden serbischen Staatsangehörigen, gemäß § 52 Abs. 5 FPG eine Rückkehrentscheidung. Das BFA stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Serbien zulässig sei, und erließ gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG gegen ihn ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 55 FPG bestimmte es eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise des Revisionswerbers.
2 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 26. November 2020 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
3 Begründend führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 10. August 2016 wegen Körperverletzung zu einer bedingt nachgesehen fünfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Er habe ‑ am 5. Mai 2016 in Wien ‑ in einem brutalen und in diesem Augenblick völlig unprovozierten Angriff zusammen mit einem weiteren Täter eine andere Person durch Versetzen von Faustschlägen und Fußtritten, wodurch diese insbesondere eine Gehirnerschütterung sowie mehrfache Prellungen und Abschürfungen erlitten habe, am Körper verletzt.
Mit rechtskräftigem Urteil vom 24. Mai 2019 habe das Landesgericht für Strafsachen Wien über ihn wegen des in den Jahren 2016 bis 2018 in zahlreichen Einzelangriffen begangenen (zum Teil versuchten) Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betruges (insbesondere durch Vorgabe der Zahlungsfähigkeit und Zahlungswilligkeit Verleiten zur Übergabe bzw. Übersendung verschiedener Waren im Wert von zusammen € 55.617,15 sowie unter Vorgabe der Notwendigkeit oder der tatsächlichen Durchführung ihm gegenüber beauftragter Installationsarbeiten Verleiten zur Zahlung vereinbarter Werklöhne, die zum Teil auch wucherisch in auffallendem Missverhältnis zur eigenen Leistung gestanden wären), wodurch der Revisionswerber insgesamt rund € 96.300,‑ ‑ vereinnahmt hätte, eine Freiheitsstrafe von 24 Monaten (davon 16 Monate bedingt nachgesehen) verhängt.
Weiters sei der Revisionswerber wiederholt verwaltungsstrafrechtlich, unter anderem wegen Lenkens eines Kraftfahrzeuges ohne gültige Lenkberechtigung sowie Verwendung eines Kraftfahrzeuges ohne gültige Begutachtungsplakette, rechtskräftig bestraft worden.
Der ledige Revisionswerber habe nach Verbüßung des unbedingt verhängten Strafteils sowie von Ersatzfreiheitsstrafen für über ihn verhängte Verwaltungsstrafen (mit Februar 2020) den Wohnsitz bei seiner Mutter in Wien begründet. Er sei für zwei serbische Kinder (einen siebenjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter) sorgepflichtig, die bei ihrer Mutter in Serbien gelebt hätten. Der über keinen Aufenthaltstitel für Österreich verfügende Sohn habe Ende Juni 2020 seinen Wohnsitz im Haushalt des Revisionswerbers und dessen Mutter begründet. Eine Pflegebedürftigkeit oder ein Abhängigkeitsverhältnis der (einen siebzigprozentigen Behinderungsgrad aufweisenden) Mutter gegenüber dem Revisionswerber bestehe - wie sich etwa während seiner Haftaufenthalte gezeigt habe - nicht. Weiters lebten der Vater sowie drei Geschwister des Revisionswerbers in Österreich. Der Revisionswerber spreche Serbisch auf muttersprachlichem Niveau und beherrsche zudem die deutsche Sprache. Im Bundesgebiet habe er die Pflichtschule sowie eine Lehrausbildung absolviert und sei in der Folge zum Teil berufstätig gewesen, zum Teil habe er Arbeitslosengeld und Notstandhilfe bezogen. Seine frühere Tätigkeit als Installateur habe er allerdings vor allem zur Begehung der dargestellten Betrugshandlungen genutzt. Seit 20. Juli 2018 sei er ohne reguläre Beschäftigung, habe kein Einkommen und verfüge über keine Kranken‑ und Sozialversicherung. In Serbien sei er bis zu seinem achten Lebensjahr aufgewachsen, habe in einem serbischen Familienverband gelebt und sei mit den dortigen Gegebenheiten vertraut. Dort hielten sich ‑ neben seiner bereits erwähnten Tochter und deren Mutter ‑ ein Bruder, Onkel, Tanten sowie Cousins und Cousinen auf.
Unter Berücksichtigung insbesondere der festgestellten erheblichen Gewaltausübung sowie der massiven über Jahre hinweg fortgesetzten gewerbsmäßigen Betrugshandlungen ging das BVwG davon aus, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit iSd § 52 Abs. 5 FPG darstelle und auch die Erlassung eines Einreiseverbotes nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1 FPG geboten sei. Um von einem Gesinnungswandel sprechen zu können, fehle bislang ‑ umso mehr als der lange Tatzeitraum und seine Einkommenslosigkeit eine hohe Wiederholungsgefahr indizierten ‑ eine ausreichende Dauer in Freiheit gezeigten Wohlverhaltens.
Im Rahmen der nach § 9 Abs. 2 BFA‑VG vorgenommenen Interessenabwägung verwies das BVwG vor allem auf die dargestellte gravierende Kriminalität, welche die Dauer des langen Inlandsaufenthalts des Revisionswerbers relativiere. Überdies sei ihm keine nachhaltige berufliche Integration gelungen. Außer zu seinen Eltern und Geschwistern habe er keine engen sozialen Bindungen im Bundesgebiet begründet. Auch die Rückkehr mit dem in Österreich nicht aufenthaltsberechtigten Sohn nach Serbien erscheine angesichts dessen kurzen Aufenthalts im Bundesgebiet problemlos. Überdies sei dessen Einreise nach Österreich erst in einem Zeitpunkt erfolgt, als sich der Revisionswerber seiner drohenden Aufenthaltsbeendigung bewusst gewesen sei.
Mit der Möglichkeit einer Reintegration in Serbien, wo der Revisionswerber sozialisiert worden sei und über familiäre Kontakte verfüge, sei zu rechnen. Bestehende Kontakte nach Österreich könnten im Besuchsweg, über Telefon und Internet aufrechterhalten werden. Auch sei davon auszugehen, dass der gesunde und arbeitsfähige Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat, in dem eine unbedenkliche Lage für Rückkehrer vorliege, durch Teilnahme am Erwerbsleben ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften könne.
Von der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgesehen werden können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine. Die Beschwerde sei der Richtigkeit der vom BFA nach zutreffender Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen nicht substantiiert entgegengetreten. Auch bei Zugrundelegung aller vom Revisionswerber ins Treffen geführten privaten und familiären Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet könnte angesichts seiner kontinuierlichen und schwerwiegenden Delinquenz auch bei Verschaffung eines (positiven) persönlichen Eindrucks kein für ihn günstigeres Ergebnis erzielt werden.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
5 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird ‑ von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann ‑ worauf sich das BVwG gestützt hat ‑ nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 10, mwN).
7 Von einem solchen eindeutigen Fall konnte vorliegend schon im Hinblick auf die ‑ auch in der Revision hervorgehobene ‑ lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich nicht ausgegangen werden, zumal der Revisionswerber auch den Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt haben dürfte.
8 § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG) verliehen hätte werden können. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen war im vorliegenden Fall auf Basis der Feststellungen des BVwG zumindest naheliegend.
9 § 9 Abs. 4 BFA-VG wurde zwar durch das FrÄG 2018 mit Ablauf des 31. August 2018 aufgehoben, die darin enthaltenen Wertungen sind jedoch im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich. Dabei bedarf es freilich keiner ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA‑VG. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen (vgl. dazu RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo diesbezüglich von „gravierender Straffälligkeit“ bzw. „schwerer Straffälligkeit“ gesprochen wird) einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12, und VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0246, Rn. 20).
10 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste also angesichts des langen rechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers eine spezifische Gefährdung von ihm ausgehen, die im Einzelfall trotz dieses langjährigen Aufenthalts und der damit verbundenen Integration, insbesondere der familiären Kontakte, dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFA‑VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist.
11 Das ist zwar bei einem Gesamtverhalten wie dem vorliegenden nicht auszuschließen, hätte aber einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles und insbesondere auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in der beantragten mündlichen Verhandlung bedurft (vgl. zur Notwendigkeit einer Beschwerdeverhandlung für die umfassende Interessenabwägung, wie sie in ehemals dem § 9 Abs. 4 BFA‑VG unterliegenden Konstellationen geboten ist, neuerlich etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, nunmehr Rn. 14, mwN).
12 Nach dem Gesagten war insgesamt jedenfalls nicht von einem eindeutigen, zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtigenden Fall auszugehen.
13 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
14 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. Mai 2021
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