Normen
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1 idF 2015/I/070
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z2 idF 2015/I/070
FrÄG 2018
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z6
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z7
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z8
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210246.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkt A.I.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, wurde am 19. Jänner 1983 in Österreich geboren und war zuletzt im Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“.
2 Mit Bescheid vom 7. Jänner 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei. Des Weiteren verhängte es über ihn gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot. Schließlich sprach es aus, dass einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt und (daher) gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt werde.
3 Diese Entscheidung wurde mit insgesamt zehn strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers seit dem Jahr 1999 begründet (wobei aber zwei Verurteilungen im Verhältnis der §§ 31 und 40 StGB zueinanderstanden). Dabei handelte es sich um Verurteilungen zu ‑ teils zunächst bedingt nachgesehenen ‑ Geldstrafen wegen Suchtgiftdelikten (Urteile vom 23. August 1999 wegen §§ 28 Abs. 1, 27 Abs. 1 SMG [sowie §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4 StGB] und vom 29. September 2003 wegen §§ 28 Abs. 2 vierter Fall, 27 Abs. 1 erster und zweiter Fall SMG), wegen § 233 Abs. 1 Z 1 StGB ‑ Weitergabe nachgemachten Geldes (Urteil vom 5. Februar 2001), wegen (teils fahrlässiger, teils unter besonders gefährlichen Verhältnissen begangener) Körperverletzung (Urteile vom 17. September 2001, vom 4. März 2010 und [gemäß § 31 StGB ohne Zusatzstrafe] vom 1. Juni 2010 sowie vom 1. Dezember 2015) und wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt (Urteil vom 8. April 2004). Mit Urteil vom 3. Dezember 2013 wurde der Revisionswerber wegen fahrlässiger Körperverletzung, Widerstands gegen die Staatsgewalt, § 27 Abs. 1 Z 1 8. Fall SMG, § 27 Abs. 1 Z 1 1. und 2. Fall SMG sowie § 27 Abs. 2 SMG erstmals zu einer (unbedingten) Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.
4 Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 7. Juni 2018 wurde er schließlich wegen versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs. 1 erster Fall StGB und schwerer Körperverletzung nach §§ 83 Abs. 2, 84 Abs. 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Dem lag zugrunde, dass der Revisionswerber am 16. Juli 2017 mit einem Regionalexpress der ÖBB gefahren sei, ohne ein Zugticket gelöst zu haben. Bei der Fahrscheinkontrolle habe er sich unkooperativ und aggressiv verhalten und den Schaffner beleidigt, weshalb dieser polizeiliche Unterstützung angefordert habe. Auch den Polizeibeamten gegenüber sei der Revisionswerber aggressiv und provokant aufgetreten und habe verweigert, sich auszuweisen, worauf die Festnahme ausgesprochen worden sei. Der Revisionswerber habe versucht, die Polizeibeamten an der Amtshandlung zu hindern, indem er mit seinen Armen und Beinen wild um sich geschlagen habe, wobei einer der Polizeibeamten hingefallen sei und sich am linken Ellenbogen verletzt habe. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht als mildernd, dass der Widerstand beim Versuch geblieben sei, erschwerend hingegen das Zusammentreffen von zwei Vergehen und die Umstände, dass der Angeklagte mehrfach wegen einer auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Tat verurteilt worden sei, der Widerstand gegen mehrere Polizeibeamte erfolgt und die Tat innerhalb einer offenen Probezeit begangen worden sei.
5 Der gegen den Bescheid des BFA vom 7. Jänner 2020 erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 6. März 2020 nur insoweit Folge, als die Dauer des Einreiseverbotes auf acht Jahre herabgesetzt wurde (Spruchpunkt A.I.). Mit Spruchpunkt A.II. wurde der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, zurückgewiesen.
6 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass der Revisionswerber seit seiner Geburt in Österreich lebe. Seine Muttersprache sei Türkisch, er spreche aber auch Deutsch. Die Hauptschule habe der Revisionswerber nicht abgeschlossen, weil er „nicht erziehbar“ gewesen sei. Zuletzt habe er seinen Lebensunterhalt als Dachdecker finanziert. Aktuell befinde er sich in Strafhaft. In Österreich lebten die Eltern, Geschwister und sonstige Verwandte des Revisionswerbers. Mit den Eltern lebe der Revisionswerber zum Teil in einem gemeinsamen Haushalt, die gemeinsame Wohnung werde derzeit von den Eltern bezahlt. In der Türkei lebten weitere Verwandte des Revisionswerbers, darunter seine Großmutter.
7 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Rückkehrentscheidung zusammengefasst aus, dass der Revisionswerber zuletzt zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt worden sei. Damit sei der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt, was das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch den Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet indiziere. Unzweifelhaft stelle das in der rechtskräftigen Verurteilung zum Ausdruck kommende Fehlverhalten des Revisionswerbers eine gewichtige Beeinträchtigung der öffentlichen Interessen, konkret an der Verhinderung seiner Gewaltbereitschaft gepaart mit dem mangelnden Respekt vor der Staatsgewalt, dar. Dem Strafurteil zufolge habe der Revisionswerber auch in der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht einen schlechten und provokanten Eindruck hinterlassen.
8 Vor dieser Verurteilung sei der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 3. Dezember 2013 wegen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall SMG, des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG, des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach § 269 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von acht Monaten verurteilt worden. Zu dieser Verurteilung sei es gekommen, weil der Revisionswerber im Zeitraum Ende 2012 bis September 2013 in Vorarlberg eine nicht näher feststellbare Menge Kokain durch Verkäufe und Übergaben anderen überlassen habe sowie unerhobene Mengen Kokain und Cannabis zum eigenen Gebrauch erworben und besessen habe. Des Weiteren habe der Revisionswerber am 26. September 2013 einen Polizeibeamten des Landeskriminalamtes Bregenz mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich an seiner Festnahme, gehindert, indem er dem Polizeibeamten nach der ausgesprochenen Festnahme mit beiden Händen einen heftigen Stoß versetzt und diesen gegen das Balkongeländer gestoßen habe, sich anschließend aus dem Festhaltegriff unter Aufbietung massiver Körpergewalt losgerissen habe und geflüchtet sei. Dadurch habe der Revisionswerber den Polizeibeamten fahrlässig am Körper verletzt und ihm eine ca. 3 cm lange Kratzwunde am linken Unterarm zugefügt.
9 Insgesamt sei der Revisionswerber zehn Mal strafgerichtlich verurteilt worden und schon mit 16 Jahren straffällig geworden. Da er bei den anfänglichen Verurteilungen unter das Jugendstrafgesetz gefallen sei, seien die verhängten Strafen milder ausgefallen. Je intensiver die gesetzten Tathandlungen geworden seien, zu desto strengeren Strafen sei es gekommen. Bei den verwirklichten Tathandlungen, wie z.B. Körperverletzung, Gewalt gegen Staatsbeamte, Diebstahl, Drogenkonsum sowie Drogenverkauf, handle es sich um Straftaten, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdeten. Überdies lägen gegen den Revisionswerber einige (im angefochtenen Erkenntnis kurz umschriebene) Verwaltungsübertretungen und ein Waffenverbot vor.
10 Die Art und Schwere der dem Revisionswerber zuletzt zur Last gelegten Straftat, insbesondere seine Gewaltbereitschaft auch gegen Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie die gänzliche Abstandnahme von einer bedingten Freiheitsstrafe, ließen darauf schließen, dass vom Revisionswerber gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgehe. Zudem sei der Revisionswerber bereits wiederholt wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und auch mehrfach wegen Suchtgiftdelikten rechtskräftig verurteilt worden. Die permanenten Verwaltungsübertretungen, vor allem auch im Jahr 2019, wiesen ebenfalls darauf hin, dass der Revisionswerber nicht gewillt sei, die Gesetze der Republik Österreich zu beachten. Zusammenfassend sei daher davon auszugehen, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle.
11 Auch das Privat‑ und Familienleben des Revisionswerbers in Österreich sei nicht ausgeprägt genug, um von einer anderen Prognose ausgehen zu können. Zwar sei der Revisionswerber immer wieder kurzzeitig als Arbeiter tätig gewesen, jedoch auch regelmäßig im Bezug von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Überbrückungshilfe gestanden. Der Revisionswerber habe keine Kinder. Das Zusammenleben mit seinen Eltern habe ihn nicht davon abhalten können, immer wieder straffällig zu werden. Da der Revisionsweber in Österreich geboren sei und hier im Wesentlichen sein gesamtes Leben verbracht habe, sei zwar von einer stark ausgeprägten privaten Bindung an Österreich auszugehen, unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände überwiege aber dennoch das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung.
12 Bezüglich des Einreiseverbots berief sich das Bundesverwaltungsgericht auf die große Zahl an rechtskräftigen Verurteilungen und Verwaltungsstrafen des Revisionswebers über viele Jahre hinweg und betonte die hohe Rückfallquote bei Suchtgiftdelikten und das große öffentliche Interesse an deren Bekämpfung, was wohl auch in Bezug auf Gewaltdelikte, insbesondere gegen Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Vollziehung gesetzlicher Aufgaben, zu gelten habe. Das (negative) Verhalten des Revisionswerbers vor einem Strafgericht sei ebenfalls in die Abwägung einzubeziehen gewesen und lasse Rückschlüsse auf sein Persönlichkeitsbild zu. Demgegenüber sei ein maßgeblicher Zeitraum des Wohlverhaltens nach der Delinquenz, aus dem sich eine gegenteilige Schlussfolgerung ziehen hätte lassen, noch nicht gegeben. Da der Revisionswerber aber beinahe sein ganzes Leben in Österreich verbracht habe, erscheine die Höchstdauer des „Aufenthaltsverbotes“ von zehn Jahren im gegenständlichen Einzelfall nicht angemessen. Unter Berücksichtigung des Gesamtfehlverhaltens und des dargestellten Persönlichkeitsbildes sei eine Herabsetzung auf weniger als acht Jahre jedoch nicht möglich.
13 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgesehen werden können, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.
14 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht in Spruchpunkt B. aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
Gegen dieses Erkenntnis, und zwar erkennbar nur gegen dessen Spruchpunkt A.I., richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
15 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht ‑ wie in der Revision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird ‑ von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.
16 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden Revisionswerber zunächst zutreffend am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG geprüft; dies würde auch unter der Annahme gelten, dass er ‑ wie in der Revision vorgebracht ‑ über eine Berechtigung nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 verfügt (vgl. zuletzt VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 15, mwN). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) wäre demnach nur zulässig, wenn „die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG“ die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
17 Auf Grund der strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers ist der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG verwirklicht, sodass das dort genannte Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit jedenfalls indiziert war. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Gefährdungsprognose allerdings das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. abermals das Erkenntnis VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 17, mwN).
18 Eine derartige Auseinandersetzung mit den konkreten Straftaten und der daraus folgenden vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr hat das Bundesverwaltungsgericht zwar vorgenommen, und es kann ihm auch nicht entgegengetreten werden, wenn es aus dem über viele Jahre immer wieder gezeigten strafbaren Verhalten, das auch Suchtgiftkriminalität beinhaltete, eine Gefährdung im Sinn des § 52 Abs. 5 iVm § 53 Abs. 3 FPG abgeleitet hat.
19 Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht dem von ihm festgestellten Umstand, dass der Revisionswerber in Österreich „im Wesentlichen sein gesamtes Leben verbracht habe“, bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG nicht die gebotene Bedeutung zugemessen.
20 Da der Revisionswerber in Österreich geboren und aufgewachsen sowie langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, hätte er nämlich den ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt, nach dem gegen Drittstaatsangehörige, die sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielten sowie „von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen“ waren, keine Rückkehrentscheidung erlassen werden durfte. § 9 Abs. 4 BFA‑VG wurde zwar durch das FrÄG 2018 mit Ablauf des 31. August 2018 aufgehoben, die darin enthaltenen Wertungen sind jedoch im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich (vgl. ‑ in Bezug auf die Z 1 des § 9 Abs. 4 BFA‑VG ‑ etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 13, mit Verweis auf VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12). Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. dazu RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo diesbezüglich von „gravierender Straffälligkeit“ bzw. „schwerer Straffälligkeit“ gesprochen wird). Orientierung für eine derartige Gefährdung bieten die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 53 Abs. 3 FPG, wobei auch andere Formen gravierender Straffälligkeit in Frage kommen (vgl. VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12, wo als Beispiele für in der bisherigen Rechtsprechung als ausreichend schwerwiegend angesehene Straftaten Vergewaltigung und grenzüberschreitender Kokainschmuggel genannt werden); das gilt auch für Fälle, in denen ‑ wie hier ‑ die Voraussetzungen der Z 2 des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA‑VG erfüllt sind (siehe dazu auch VwGH 22.1.2021, Ra 2020/21/0506, Rn. 18/19).
21 Eine derartig gewichtige vom Revisionswerber ausgehende Gefährdung ist aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht ableitbar. Der dargestellten Häufung der Straftaten steht nämlich gegenüber, dass nur zwei Mal ‑ in den in der Gefährdungsprognose besonders hervorgehobenen Urteilen vom 3. Dezember 2013 und 7. Juni 2018 ‑ Freiheitsstrafen verhängt wurden, wobei sich diese jeweils im unteren Bereich des Strafrahmens bewegten (acht bzw. zwölf Monate bei möglichen drei Jahren). In allen anderen Fällen konnte mit Geldstrafen das Auslangen gefunden werden. Auch in Kombination ergibt sich aus den begangenen Straftaten und den vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Tatumständen keine aus besonders verwerflichen Straftaten abzuleitende spezifische Gefährdung, die es erlaubt hätte, gegen den in Österreich geborenen 37‑jährigen Revisionswerber, der sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht hat und hier über familiäre Bindungen verfügt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu erlassen.
22 Da das Bundesverwaltungsgericht somit die Bedeutung der Aufenthaltsverfestigung des Revisionswerbers bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
23 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. Februar 2021
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