Normen
AVG §17
AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs4
FrÄG 2018
FrPolG 2005 §114 Abs1
FrPolG 2005 §114 Abs3 Z1
FrPolG 2005 §114 Abs4
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z5
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210335.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 30. Juli 2019 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber, einen Staatsangehörigen Pakistans, gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA unter einem fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. Des Weiteren wurde gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt und einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 12. September 2019 als unbegründet ab.
3 Es stellte fest, dass der Revisionswerber 1990 nach Österreich eingereist und nachweislich seit Juni 1997 in Österreich aufrecht polizeilich gemeldet sei (frühere Meldedaten seien wegen eines Hochwasserschadens in der betreffenden Gemeinde nicht mehr vorhanden). Bis 29. April 2019 sei er im Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt‑EU“ gewesen. Er habe sich seinen Lebensunterhalt zunächst im Wesentlichen als bei unterschiedlichen Unternehmen angestellter Arbeiter verdient und sei zuletzt (vor seiner Verhaftung am 18. Juli 2018) als Geschäftsführer einer Reinigungsfirma seines Neffen tätig gewesen, wo er monatlich ca. € 1.200,‑ ‑ bis 1.400,‑ ‑ und als Geschäftsführer zusätzlich ca. € 500,‑ ‑ bis 600,‑ ‑ ins Verdienen gebracht habe. In den Jahren 2015 und davor habe der Revisionswerber selbständig eine Reinigungsfirma betrieben, wo er auch als Geschäftsführer tätig gewesen sei, über die jedoch 2015 ein Schuldenregulierungsverfahren stattgefunden habe, aus dem der Revisionswerber nach wie vor zu einer halbjährlichen Zahlung von € 531,‑ ‑ verpflichtet sei.
4 Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 23. Jänner 2019 sei der Revisionswerber wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z 1 (und teilweise Z 2), Abs. 4 1. Fall FPG (gewerbsmäßige Schlepperei in einer kriminellen Vereinigung, teilweise in Bezug auf mindestens drei Fremde) in mehreren Fällen zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Der Strafberufung des Staatsanwaltes sei mit Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 23. Mai 2019 Folge gegeben und die über den Revisionswerber verhängte Freiheitsstrafe auf viereinhalb Jahre angehoben worden. Der Berufung des Revisionswerbers sei hingegen nicht Folge gegeben worden. Der Verurteilung liege zugrunde, dass der Revisionswerber zusammen mit anderen Mittätern von August 2017 bis Juni 2018 gewerbsmäßig und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung die rechtswidrige Einreise von Fremden ohne Aufenthalts‑, Einreise‑ oder Durchreiseberechtigung in Österreich oder Mitgliedstaaten der EU bzw. Nachbarstaaten von Österreich mit Bereicherungsvorsatz gefördert habe. Der Revisionswerber habe demnach Transportfahrten mit den Fremden organisiert und die Entgelte vereinbart. Bei diesen Taten habe der Revisionswerber einen Gewinn von zumindest € 10.000,‑ ‑ „erwirtschaftet“. Bei der Straffestsetzung durch das Oberlandesgericht sei in Bezug auf den Revisionswerber erschwerend gewertet worden, dass er kein vollumfängliches Geständnis abgelegt habe und an den Tathandlugen durch Organisation, Vereinbarung der Entgelte und teilweise Beauftragung der Fahrer führend beteiligt gewesen sei sowie dass sich die zahlreichen Tatbegehungen über einen längeren Zeitraum erstreckten. Als strafmildernd habe lediglich die Unbescholtenheit des Revisionswerbers durchgeschlagen. Das Urteil sei mit 23. Mai 2019 rechtskräftig geworden. Der Revisionswerber befinde sich derzeit in Strafhaft.
5 Bezüglich des Familienlebens des Revisionswerbers stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass er in zweiter Ehe mit einer pakistanischen Staatsangehörigen verheiratet sei, die nicht mit dem Revisionswerber in Österreich in einem gemeinsamen Haushalt, sondern in Pakistan lebe. In Österreich sei der Revisionswerber mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet gewesen, von der er seit 2010 geschieden sei. Aus dieser Ehe stammten drei Kinder (geboren 2001, 2003 und 2004) mit österreichischer Staatsbürgerschaft. An Unterhaltszahlungen leiste der Revisionswerber für seine Kinder monatlich € 400,‑ ‑. Der Revisionswerber sei außerdem für seine in Pakistan lebende Ehegattin unterhaltspflichtig. Von seiner Familie lebten in Pakistan noch ein Bruder und eine Schwester, seine Eltern seien bereits verstorben. Außerdem habe er Neffen und Nichten in Pakistan. Der Revisionswerber sei mehrmals nach Pakistan gereist, zuletzt im Februar 2018, um an der Hochzeit eines Freundes teilzunehmen.
6 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der Feststellung, wonach eine rechtskräftige Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren zu der Annahme führe, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle, könne nicht ernsthaft entgegengetreten werden. Die Tathandlungen bildeten an sich schon einen gravierenden Unwert, der durch die persönliche Beteiligung des Revisionswerbers insbesondere in führender Funktion, mit zahlreichen Wiederholungen über einen längeren Zeitraum, noch verstärkt worden sei und auch zur Anhebung der erstinstanzlich unbedingt verhängten Freiheitsstrafe geführt habe. Schon daraus, dass der Revisionswerber versucht habe, seinen Tatbeitrag herunterzuspielen, könne der Schluss gezogen werden, dass er den tatsächlichen Unwert seiner Tathandlungen nicht in vollem Umfang zur Kenntnis nehmen wolle. Ein hoher Unwert der Tathandlungen sei jedoch gerade in Zeiten eines hohen Migrationsdruckes im besonderen Maß gegeben. Es bedürfe bei derart gravierenden Verstößen gegen strafrechtliche Vorschriften, die „gegen illegale Einwanderung gerichtet“ seien, wie im vorliegenden Fall, einer klaren und entschiedenen Reaktion der zuständigen Behörden zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Die führende Rolle, die der Revisionswerber innerhalb der kriminellen Vereinigung innegehabt habe, und die Häufigkeit wiederholter Tathandlungen über einen Zeitraum von mindestens August 2017 bis Juni 2018, lieferten Anhaltspunkte dafür, dass der Revisionswerber bereit sei, die „Interessen der Gesellschaft“ erheblich zu gefährden. Dass sich der Revisionswerber seit seiner Verhaftung wohlverhalten habe, sei wohl als selbstverständlich anzunehmen und nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass er sich seither nicht mehr auf freiem Fuß befinde und folglich seinem Wohlverhalten unter diesen Umständen nur untergeordnete Bedeutung zukommen könne. Basierend darauf könne eine Zukunftsprognose nicht zu Gunsten des Revisionswerbers erstellt werden.
7 Zur Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG führte das Bundesverwaltungsgericht insbesondere aus, dass der Revisionswerber zwar eine familiäre Beziehung zu seiner geschiedenen Ehefrau und seinen minderjährigen Kindern pflege, welche jedoch nur schwach ausgeprägt sei, was der Umstand zeige, dass die geschiedene Ehefrau und eines seiner Kinder ihn lediglich einmal für eine halbe Stunde in der Haft besucht hätten. Zudem werde das in der Beschwerde behauptete starke Interesse an der Aufrechterhaltung des Familienlebens auch dadurch gemindert, dass der Revisionswerber nunmehr schon seit mehreren Jahren mit einer in Pakistan lebenden Frau verheiratet sei, für welche er auch Unterhalt leiste. Aufgrund der Straftaten des Revisionswerbers sei die Erlassung eines Einreiseverbotes auch bei Berücksichtigung der von ihm geltend gemachten privaten und familiären Interessen zur Erreichung von in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zielen dringend geboten. Die vom Revisionswerber geltend gemachten Beziehungen zu Freunden und seine unbestritten langjährige berufliche Integration in Österreich könnten unter Bedachtnahme auf die hier besonders zum Tragen kommenden öffentlichen Interessen nur von marginaler Bedeutung sein.
8 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
9 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht - wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann ‑ worauf sich das Bundesverwaltungsgericht gestützt hat ‑ nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 3.7.2018, Ra 2018/21/0081, Rn. 16, mwN).
11 Von einem solchen eindeutigen Fall konnte vorliegend schon im Hinblick auf die ‑ auch in der Revision hervorgehobene ‑ beinahe dreißigjährige Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich nicht ausgegangen werden, zumal der Revisionswerber auch den Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt haben dürfte.
12 § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, von hier nicht vorliegenden Ausnahmefällen abgesehen eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG) verliehen hätte werden können. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen war im vorliegenden Fall auf Basis der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zumindest naheliegend.
13 § 9 Abs. 4 BFA‑VG wurde zwar durch das FrÄG 2018 mit Ablauf des 31. August 2018 aufgehoben, die darin enthaltenen Wertungen sind jedoch im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich. Dabei bedarf es freilich keiner ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA‑VG (vgl. des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12).
14 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste also angesichts des fast dreißigjährigen, zuletzt aufgrund eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“ rechtmäßigen Aufenthalts des Revisionswerbers und mangels hinreichender Anhaltspunkte, dass er zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht die Verleihungsvoraussetzungen für die österreichische Staatsbürgerschaft erfüllt hätte, eine spezifische Gefährdung vom Revisionswerber ausgehen, die im Einzelfall trotz dieses langjährigen Aufenthalts (und der damit verbundenen Integration, insbesondere der Beziehung zu seinen zum Teil noch minderjährigen österreichischen Töchtern) dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFA‑VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist. Das kann zwar bei einer Verurteilung wegen qualifizierter Schlepperei der Fall sein, hätte aber einer eingehenderen Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles und insbesondere auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in der beantragten mündlichen Verhandlung bedurft (vgl. zur Notwendigkeit einer Beschwerdeverhandlung für die umfassende Interessenabwägung, wie sie in ehemals dem § 9 Abs. 4 BFA‑VG unterliegenden Konstellationen geboten ist, VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0152, Rn. 20). Bei Bejahung der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot wäre außerdem begründungsbedürftig, warum ‑ wie das BFA und ihm folgend das Bundesverwaltungsgericht meinen ‑ nur mit der Verhängung eines unbefristeten Einreisverbots das Auslangen gefunden werden kann (vgl. zu den für die Bemessung eines Einreiseverbots geltenden Grundsätzen etwa VwGH 30.6.2015, Ra 2015/21/0002, mwN).
15 Nach dem Gesagten war insgesamt jedenfalls nicht von einem eindeutigen, zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtigenden Fall auszugehen.
16 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 16. Juli 2020
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