Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §41
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140283.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der im Jahr 1996 geborene Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 10. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, zu dessen Begründung er vorbrachte, seine Mutter sei von den Taliban bedroht worden.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 26. September 2018 ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis vom 31. März 2021als unbegründet ab. Unter einem sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis an ihn erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 25. Juni 2021, E 1994/2021‑9 ab und trat sie mit Beschluss vom 9. Juli 2021, E 1994/2021‑11, über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In der Folge wurde die gegenständliche Revision eingebracht.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung zu überprüfen hat. Somit sind Änderungen der Sach‑ und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren entzogen.
9 Die Revision wendet sich ausschließlich gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Spruchpunkte. Sie bringt zunächst vor, der Revisionswerber verfüge im Bundesgebiet dadurch, dass er mit seinen fünf Geschwistern und den Eltern zusammenlebe, über eine Bindung an seine in Österreich lebende Kernfamilie, die über die normale emotionale Bindung unter verwandten Erwachsenen hinausgehe. Die Unterstützung und Betreuung des chronisch kranken ältesten Bruders werde von allen Familienmitgliedern gewährleistet. Der Revisionswerber unterstütze seine Familie, wenn dies nötig sei. Zusätzlich verstärkt werde die Bindung des Revisionswerbers an seine sieben Kernfamilienmitglieder in Österreich dadurch, dass er aus einem Kulturkreis stamme, in dem auf den familiären Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung im Familienkreis besonders großen Wert gelegt werde. Das Bundesverwaltungsgericht hätte aufgrund seiner eigenen ‑ und noch weiteren zu treffenden ‑ Feststellungen das Privat‑ und Familienleben rechtlich als Familienleben beurteilen und in die Interessenabwägung gemäß § 9 Abs. 2 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) einbeziehen müssen, da es mehrere Elemente der Abhängigkeit festgestellt habe.
10 In diesem Zusammenhang ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, nach der eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. VwGH 7.7.2021, Ra 2021/14/0167, mwN). Es kommt daher darauf an, ob die vom Bundesverwaltungsgericht nach § 9 BFA‑VG vorgenommene Interessenabwägung im Ergebnis vertretbar war und keinen maßgeblichen Begründungsmangel erkennen lässt; trifft dies zu, so liegt nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG vor (vgl. auch VwGH 30.4.2021, Ra 2021/21/0112, mwN).
11 Dieses Vertretbarkeitskalkül ist vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu sehen, wonach der Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nicht dazu berufen ist, die Einzelfallgerechtigkeit in jedem Fall zu sichern ‑ diese Aufgabe obliegt den Verwaltungsgerichten. Dem Verwaltungsgerichtshof kommt im Revisionsmodell eine Leitfunktion zu. Aufgabe des Verwaltungsgerichtshofes ist es, im Rahmen der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (erstmals) die Grundsätze bzw. Leitlinien für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts festzulegen, welche von diesem zu beachten sind. Die Anwendung dieser Grundsätze im Einzelfall kommt hingegen grundsätzlich dem Verwaltungsgericht zu, dem dabei in der Regel ein gewisser Anwendungsspielraum überlassen ist. Ein Aufgreifen des vom Verwaltungsgericht entschiedenen Einzelfalls durch den Verwaltungsgerichtshof ist nur dann unausweichlich, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. zum Ganzen VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0189 bis 0191).
12 Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 26.05.2021, Ra 2021/01/0174; 26.1.2021, Ra 2020/14/0587, jeweils mwN).
13 Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in der es den Revisionswerber und seine Mutter einvernommen hat, die in der Revision angesprochenen Bindungen des Revisionswerbers zu seinen in Österreich lebenden Eltern und Geschwistern in seine Entscheidung einbezogen. Es ist jedoch mit ausführlicher Begründung zu dem Ergebnis gelangt, dass der Revisionswerber und seine in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienmitglieder zwar im gemeinsamen Haushalt leben, verneinte jedoch die für die Schutzbedürftigkeit erforderliche Abhängigkeit der Familienmitglieder, insbesondere des kranken Bruders, vom Revisionswerber, weil keine zusätzlichen Merkmale der Abhängigkeit bestehen würden, bei deren Vorliegen diese Beziehung unter das von Art. 8 EMRK geschützte Familienleben fallen würde. Der Revisionswerber weise zu seinem älteren Bruder keine derartige über die übliche Bindung hinausgehende Beziehung oder Abhängigkeit auf, zumal er in der Betreuung des kranken Bruders ‑ im Vergleich zu seinem anderen älteren Bruder ‑ keine tragende Rolle einnehme. Der Revisionswerber unterstütze, wenn nötig, die Familie. Er verdiene auch selbständig bzw. erhalte er Leistungen aus der Grundversorgung so wie auch seine Familienmitglieder, die ebenso Leistungen aus der Grundversorgung bzw. Sozialleistungen bezögen, weswegen keine finanzielle Abhängigkeit bestehe.
14 Der Revisionswerber tritt diesen Ausführungen nicht substantiiert entgegen. Er betont zwar seine enge emotionale Bindung zu den Familienmitgliedern, ohne jedoch deutlich zu machen, inwiefern diese über eine normale Bindung unter Erwachsenen hinausginge, wobei auch gar nicht behauptet wird, dass die Betreuung des kranken Bruders ausschließlich durch den Revisionswerber erfolgen müsse. Dass die fallbezogene Beurteilung des Verwaltungsgerichts, wonach kein schützenwertes Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK vorläge, unvertretbar erfolgt wäre, vermag die Revision somit nicht aufzuzeigen.
15 Soweit sich die Revision in ihrem Zulassungsvorbringen mit weiteren Argumenten gegen die Interessenabwägung wendet, ist festzuhalten, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit sämtlichen der in den Ziffern 1 bis 9 demonstrativ aufgezählten (arg.: „insbesondere“) Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA‑VG bei seiner Interessenabwägung auseinandergesetzt und alle ‑ auch die vom Revisionswerber angesprochenen ‑ fallbezogen für die Interessenabwägung maßgeblichen Umstände hinreichend in seine Entscheidung einbezogen hat. Entgegen dem Vorbringen in der Revision hat es auch die Art und Dauer des Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich von über fünf Jahren einbezogen, allerdings zu Recht in seine Erwägungen miteinfließen lassen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn ‑ wie hier ‑ integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 3.9.2021, Ra 2020/14/0282, mwN). Neben dem Privat‑ und Familienleben in Österreich berücksichtigte das Verwaltungsgericht die Bindungen des Revisionswerbers zum Herkunftsstaat, seine Unbescholtenheit und auch die zu seinen Gunsten sprechende Verfahrensdauer. Vor diesem Hintergrund kam das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen die privaten Interessen des Revisionswerbers überwiegen würden.
16 Im Gesamten vermag die Revision im Ergebnis nicht aufzuzeigen, dass das Bundesverwaltungsgericht seine Interessenabwägung in einer unvertretbaren Weise vorgenommen hätte oder die Gewichtung der einbezogenen Umstände den in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien widerspräche.
17 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang Begründungs‑ und Feststellungsmängel, insbesondere zu den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zum Privat‑ und Familienleben und zu den Bindungen zum Herkunftsstaat, erhebt, richtet sich der Revisionswerber der Sache nach gegen die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts. Dabei vermag er nicht aufzuzeigen, dass diese mit einem vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangel behaftet wäre (vgl. zum diesbezüglichen Prüfungsmaßstab VwGH 10.9.2021, Ra 2021/14/0284‑0286, mwN).
18 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 20. Oktober 2021
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