VwGH Ra 2020/21/0363

VwGHRa 2020/21/03637.10.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des O K, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7‑11/15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2020, L502 2216636‑2/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art14 Abs1
ARB1/80 Art6
BFA-VG 2014 §9
EURallg
FrÄG 2011
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
FrPolG 2005 §60 Abs1 idF 2011/I/038
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1 idF 2011/I/038
FrPolG 2005 §67 Abs1
MRK Art8
MRK Art8 Abs2
TilgG 1972 §1 Abs4
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwRallg
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art12 Abs1
32004L0038 Unionsbürger-RL Art28 Abs1
62008CJ0371 Ziebell VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020210363.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, reiste am 17. August 2002 im Alter von neun Jahren zu seinem in Österreich lebenden und über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügenden Vater und hielt sich seither durchgehend hier auf. Er besaß zuletzt einen im Juli 2014 erteilten (unbefristeten) Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“.

2 Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 27. Mai 2010 wurde der Revisionswerber wegen des im Februar 2010 begangenen Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 zweiter Fall StGB und des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15105 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht den bisher ordentlichen Lebenswandel und das Geständnis als mildernd, als erschwerend hingegen die siebenfache Tatbegehung und das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen. Der Revisionswerber wurde bereits nach Verbüßung der Hälfte der verhängten Freiheitsstrafe am 24. Februar 2011 bedingt entlassen.

3 Wegen dieser Straftaten erließ die Bundespolizeidirektion Wien gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 29. April 2011 gemäß dem (damaligen) § 86 Abs. 1 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot. Der dagegen erhobenen Berufung gab der Unabhängige Verwaltungssenat Wien mit Bescheid vom 29. Mai 2012 Folge, indem er den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG (im Wesentlichen im Hinblick auf die zugunsten des Revisionswerbers ausgegangene Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK) ersatzlos behob.

4 Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 3. September 2018 wurde der Revisionswerber wegen des am 9. November 2017 begangenen Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB und des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 15 Monaten und einer Geldstrafe verurteilt. Bei der Strafbemessung wertete das Strafgericht den „bisher ordentlichen Lebenswandel“ als mildernd, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen.

5 Im Hinblick auf diese Verurteilung erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber schließlich (nachdem das Bundesverwaltungsgericht ein zunächst verhängtes Aufenthaltsverbot ersatzlos behoben hatte) mit Bescheid vom 10. März 2020 gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein Einreiseverbot für die Dauer von sieben Jahren. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Des Weiteren wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt.

6 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. Mai 2020 als unbegründet abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht stellte zusammengefasst fest, dass der Revisionswerber seit seiner Einreise in Österreich durchgehend über Aufenthaltstitel verfügt habe und eine aufrechte Meldeadresse aufweise. In Österreich befänden sich seine Eltern, mit denen er in einem gemeinsamen Haushalt lebe, sowie drei Brüder, eine Schwester und mehrere weitere Verwandte. Der ledige und kinderlose Revisionswerber habe in Österreich für neun Jahre die Schule besucht und einen Pflichtschulabschluss erlangt. Danach habe er eine Lehre als Elektrotechniker erfolgreich absolviert. Von 16. Mai 2011 bis 15. Mai 2014 sei er als Lehrling und danach von 16. Mai 2014 bis 14. Februar 2016 beim selben Dienstgeber als Arbeiter erwerbstätig gewesen. In weiterer Folge sei er in näher bezeichneten Zeiträumen als Arbeiter beschäftigt gewesen. In ebenfalls näher bezeichneten Zeiträumen von jeweils einigen Tagen bis Wochen habe er Arbeitslosengeld bezogen.

7 In rechtlicher Hinsicht ging das Bundesverwaltungsgericht wie schon das BFA von der Anwendbarkeit des § 52 Abs. 5 FPG aus und bezog sich dabei darauf, dass die Verurteilung des Revisionswerbers vom 3. September 2018 eine fünfzehnmonatige bedingte Freiheitsstrafe zur Folge gehabt habe, weshalb der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt gewesen sei. Dies indiziere nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bereits das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit. Dem BFA sei darüber hinaus dahingehend beizupflichten, dass gerade die enthemmte und brutale Vorgehensweise des Revisionswerbers, der im Zusammenwirken mit zwei seiner Brüder dem ‑ durch dessen Festhalten in einen wehrlosen Zustand versetzten ‑ Opfer durch zumindest zwei Faustschläge eine schwere Körperverletzung in Form eines offenen Nasenbeinbruches und eines verschobenen Bruchs der Nasenscheidewand zugefügt habe, von einer erheblichen Gewaltbereitschaft und einer ebenso erheblichen kriminellen Energie zeuge. Gleiches gelte für die gefährliche Drohung mit dem Umbringen gegenüber einem weiteren Opfer. Dies lasse auf eine von ihm ausgehende gravierende Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere für die körperliche Integrität und Freiheit anderer Menschen, schließen. Dass den Revisionswerber weder das infolge seiner ersten strafgerichtlichen Verurteilung erlittene Haftübel noch die damals angeordnete Bewährungshilfe von der neuerlichen Tatbegehung abgehalten hätten, zeuge von der Nachhaltigkeit der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit. Auch der Umstand, dass bereits im Gefolge dieser Verurteilung eine (in weiterer Folge von der Berufungsbehörde behobene) aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen ihn erlassen worden sei, habe ihn, „ungeachtet“ mehrjährigen Wohlverhaltens, nicht davon abgehalten, neuerlich in erheblichem Ausmaß strafbare Handlungen zu setzen.

8 Dem BFA sei auch darin zuzustimmen, dass der Revisionswerber bereits in der Vergangenheit teils erhebliche strafbare Handlungen gegen die körperliche Integrität und das Vermögen anderer gesetzt habe (auch wenn die erste Verurteilung bereits getilgt sei). Er sei wegen des Verbrechens des schweren Raubes unter Verwendung einer Waffe als Mittäter in zahlreichen Angriffen gegen verschiedene Opfer sowie wegen des Vergehens der versuchten Nötigung rechtskräftig verurteilt worden und habe auch bei seiner jüngsten Straftat erneut das geschützte Rechtsgut der körperlichen Integrität und der Freiheit anderer maßgeblich beeinträchtigt. Daraus habe das BFA zu Recht abgeleitet, dass eine solche Gefährdung auch künftig nicht ausgeschlossen werden könne, sondern vielmehr die Annahme begründet sei, der Revisionswerber werde neuerlich entsprechende strafbare Handlungen setzen. Abgesehen davon liege seine jüngste strafgerichtliche Verurteilung vom 3. September 2018 erst etwa ein Jahr und acht Monate zurück, und es habe in Anbetracht der erheblichen Brutalität und der nach wie vor bestehenden Wiederholungsgefahr jedenfalls nicht von einem ausreichend langen Zeitraum des Wohlverhaltens und einem daraus abzuleitenden nachhaltigen Gesinnungswandel ausgegangen werden können. In einer Gesamtbetrachtung dieser Aspekte sei von einer nach wie vor als aufrecht zu erachtenden potentiellen Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch den Revisionswerber auszugehen und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot wegen strafbarer Handlungen gegen die körperliche Integrität und die Freiheit anderer auch bei einem rund achtzehnjährigen Aufenthalt des Fremden in Österreich gerechtfertigt gewesen.

9 Angesichts der Einreise des Revisionswerbers in Österreich im Alter von neun Jahren und des seither bestehenden legalen Aufenthalts könne eine gewisse soziale Vernetzung des Revisionswerbers in Österreich vorausgesetzt werden, zumal er auch sehr gut Deutsch spreche. Folglich sei von einem durch die Rückkehrentscheidung bewirkten Eingriff in sein Privatleben auszugehen. So sei der Revisionswerber nach Abschluss der Schul‑ und Lehrausbildung immer wieder für mehrere Monate erwerbstätig gewesen, wobei die längste Anstellung unmittelbar nach seiner Lehrausbildung etwa zwei Jahre angedauert habe. Dem sei relativierend entgegenzuhalten, dass der Revisionswerber in der Vergangenheit bereits wiederholt erwerbslos und damit vom Bezug von Arbeitslosengeld abhängig gewesen sei. Da seine letzte Anstellung am 20. Dezember 2019 geendet habe und er seither keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehe, könne nicht von einer nachhaltigen beruflichen Integration ausgegangen werden. Außer den erwähnten familiären Bindungen zu seinen Eltern und Geschwistern habe der Revisionswerber keine sonstigen maßgeblichen sozialen Beziehungen im Bundesgebiet behauptet. Dem Revisionswerber und seinen Angehörigen bleibe es unbenommen, nach der Ausreise in der Zeit des Einreiseverbots den Kontakt mittels moderner Kommunikationsmittel (wenn auch in reduzierter Form) aufrechtzuerhalten; auch Besuche in der Türkei seien möglich. Konkrete familiäre Anknüpfungspunkte des Revisionswerbers in der Türkei seien zwar nicht feststellbar, angesichts der „notorisch weit verzweigten verwandtschaftlichen Bande türkischer Staatsangehöriger“ könne aber davon ausgegangen werden, dass sich zumindest entfernte Verwandte des Revisionswerbers in der Türkei aufhielten, mit denen er bei einer Rückkehr Kontakt aufnehmen könne. Zudem habe der Revisionswerber bis zur Ausreise im Alter von neun Jahren in der Türkei gelebt und sei sohin mit der dortigen Sprache und den kulturellen Gegebenheiten grundlegend vertraut, weshalb ihm eine Wiedereingliederung in die dortige Gesellschaft zugemutet werden könne. Auch könne beim Revisionswerber angesichts seiner Erwerbsfähigkeit, seiner Berufserfahrung und seiner deutschen Sprachkenntnisse die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in der Türkei, etwa im Tourismus, zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes angenommen werden. Im Ergebnis sei die Rückkehrentscheidung als zulässig anzusehen und stelle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechte nach Art. 8 EMRK dar.

10 Das Einreiseverbot betreffend wies das Bundesverwaltungsgericht neuerlich darauf hin, dass die vom Revisionswerber begangenen Straftaten als besonders verwerflich anzusehen seien und ihm auf Grund des unzureichenden Zeitraums des Wohlverhaltens eine ungünstige Zukunftsprognose auszustellen sei. Auch unter Berücksichtigung seiner familiären Anbindungen, seines langen rechtmäßigen Aufenthalts und der sonstigen Integration erweise sich das Einreiseverbot als rechtskonform. Der verhängten siebenjährigen Dauer des Einreiseverbots sei angesichts der besonderen Verwerflichkeit der begangenen Straftaten nicht entgegenzutreten gewesen.

11 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgesehen werden können, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.

12 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die nach Ablehnung der Behandlung und Abtretung der zunächst an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde mit dem Beschluss VfGH 14.7.2020, E 2145/2020, fristgerecht ausgeführt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:

13 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das Bundesverwaltungsgericht ‑ wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird ‑ von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

14 Das Bundesverwaltungsgericht hat die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügenden Revisionswerber grundsätzlich zutreffend am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG geprüft; das gilt auch unter der ‑ vom Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten ‑ Annahme, dass der seit mehr als zehn Jahre ununterbrochen und rechtmäßig in Österreich aufhältige Revisionswerber (nach wie vor) über eine Berechtigung nach Art. 6 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 verfügte (vgl. ‑ unter Hinweis auf EuGH 8.12.2011, Ziebell, C‑371/08 ‑ grundlegend VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 24 und 29 bis 32, sowie darauf Bezug nehmend VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0244, Rn. 11, und VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 15). Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) wäre demnach nur zulässig, wenn ‑ so der Gesetzeswortlaut ‑ „die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG“ die Annahme rechtfertigen, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers eine „gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ darstellen würde.

15 Dieser Maßstab entspricht Art. 12 Abs. 1 der Daueraufenthalts‑RL (Richtlinie 2003/109/EG ). Die Tatbestände des § 53 Abs. 3 FPG, die per se allerdings nur das Vorliegen eines geringeren Gefährungsmaßstabs annehmen lassen (vgl. dazu die bis zum Inkrafttreten des FrÄG 2011 am 1. Juli 2011 geltende Vorgängerregelung des § 60 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 1 FPG), können eine derartige höhere Gefährdungsannahme zwar auch indizieren, es ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen, ob tatsächlich eine „gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ im Sinn der Richtlinie vorliegt. Bei einer Verurteilung zu einer (wie hier) zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe wird das ‑ auch wenn dadurch § 53 Abs. 3 Z 1 FPG verwirklicht ist ‑ in der Regel nicht der Fall sein. In diesem Zusammenhang ist nämlich auch darauf hinzuweisen, dass sich aus dem schon erwähnten EuGH‑Urteil Ziebell ergibt, dass der für die Frage der Zulässigkeit der Aufenthaltsbeendigung von ARB‑berechtigten türkischen Staatsangehörigen, die sich wie der Revisionswerber seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen und rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, maßgebliche Art. 12 der Daueraufenthalts‑RL, innerstaatlich umgesetzt mit § 52 Abs. 5 FPG, einen höheren Ausweisungsschutz bietet, als er grundsätzlich für ARB‑berechtigte türkische Staatsangehörige vorgesehen ist, denen nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ein inhaltlich gleicher Ausweisungsschutz zukommt wie den die Freizügigkeit ausübenden Unionsbürgern im Sinne des Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG , innerstaatlich umgesetzt mit § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG (vgl. auch das schon genannte Erkenntnis VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 24). Demzufolge ist in unionsrechtskonformer Weise auch innerstaatlich davon auszugehen, dass § 52 Abs. 5 FPG einen höheren Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bietet als § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG. Warum die hier vorliegende Straftat so verwerflich war, dass sie (zusammen mit dem Vorverhalten des Revisionswerbers) dennoch die Bejahung der hohen Gefährdungsprognose nach § 52 Abs. 5 FPG rechtfertigte, wird aus den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts ‑ trotz ansatzweiser Feststellungen zum Gesamtverhalten des Revisionswerbers und zur Art und Schwere seiner Straftaten (vgl. zu dieser Voraussetzung etwa VwGH 15.2.2021, Ra 2020/21/0246, Rn. 17, mwN) ‑ nicht deutlich. Das Bundesverwaltungsgericht durfte zur Begründung der Gefährdungsprognose zwar ‑ entgegen der in der Revision vertretenen Ansicht ‑ auch das der getilgten Verurteilung zugrundeliegende Verhalten heranziehen (vgl. etwa VwGH 30.11.2020, Ra 2020/21/0355, Rn. 8, mwN). Insoweit wäre allerdings auch zu berücksichtigen gewesen, dass es sich um eine im Alter von 16 Jahren begangene Jugendstraftat gehandelt hatte und der Revisionswerber dann nach seiner Haftentlassung am 24. Februar 2011 fast sieben Jahre lang überhaupt nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.

16 Dazu kommt, dass das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG nicht ausreichend auf die Einreise des Revisionswerbers bereits im Alter von neun Jahren und seinen seither durchgehend rechtmäßigen Aufenthalt von fast 18 Jahren sowie die in Österreich abgeschlossene Schul‑ und Berufsausbildung und die mehrjährige, nur durch relativ kurze Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochene Erwerbstätigkeit Bedacht genommen hat. Wie die Revision zu Recht geltend macht, hätte das Bundesverwaltungsgericht auch nicht ohne nähere Ermittlungen und trotz gegenteiligen Vorbringens in der Beschwerde spekulativ davon ausgehen dürfen, dass sich angesichts der „notorisch weit verzweigten verwandtschaftlichen Bande türkischer Staatsangehöriger“ zumindest entfernte Verwandte des Revisionswerbers in der Türkei aufhielten, mit denen er bei einer Rückkehr Kontakt aufnehmen könnte.

17 Insgesamt konnte angesichts des Vorgesagten jedenfalls auch nicht vom Vorliegen eines eindeutigen Falles ausgegangen werden, der es dem Bundesverwaltungsgericht ausnahmsweise erlaubt hätte, ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung abzusehen (vgl. VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0062, Rn. 13, mwN).

18 Im Hinblick auf die dargestellten Begründungs‑ und Verfahrensmängel, die sowohl die Rückkehrentscheidung und die darauf aufbauenden Aussprüche als auch das Einreiseverbot betreffen, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. Oktober 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte