Normen
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z5
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs5
NAG 2005 §20 Abs3
NAG 2005 §45
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210355.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der im Juni 1994 geborene Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, kam im August 2001 im Alter von sieben Jahren nach Österreich. Ihm wurden in der Folge Aufenthaltstitel erteilt; zuletzt verfügte er über einen am 12. September 2014 ausgestellten und bis 12. September 2019 befristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“.
2 Im Hinblick auf zwei strafgerichtliche Verurteilungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 7. Oktober 2019 gegen den Revisionswerber ‑ verbunden mit dem Ausspruch, dass ihm ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt werde ‑ gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein mit sieben Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien zulässig sei. Schließlich räumte es gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG für die freiwillige Ausreise eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung ein.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 19. November 2019 als unbegründet ab und sprach ausdrücklich aus, dass der Bescheid des BFA vom 7. Oktober 2019 bestätigt werde. Eine Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.
4 Über die ‑ nach Ablehnung der Behandlung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (VfGH 8.6.2020, E 945/2020‑5) und ihrer nachträglichen Abtretung (VfGH 9.7.2020, E 945/2020‑7) ‑ fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, erwogen:
5 Die Revision ist ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch im angefochtenen Erkenntnis ‑ unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG aus nachstehenden Gründen zulässig und auch berechtigt.
6 Das BVwG stützte sich bei der Gefährdungsprognose auch auf eine getilgte strafgerichtliche Verurteilung des Revisionswerbers vom 23. März 2011 wegen Beteiligung an einem Raub, wobei gemäß § 13 Jugendgerichtsgesetz der Ausspruch einer zu verhängenden Freiheitsstrafe für eine Probezeit von drei Jahren vorbehalten worden war. Vor allem bezog sich das BVwG aber auf das gegen den Revisionswerber ergangene Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 7. Februar 2018, mit dem er wegen gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB, wegen Freiheitsentziehung nach § 99 Abs. 1 StGB, wegen schwerer Nötigung nach §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB, wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 4 Z 1 SMG, wegen unbefugten Waffenbesitzes nach § 50 Abs. 1 Z 1 WaffG, wegen Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und wegen Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten (davon zwölf Monate bedingt nachgesehen) rechtskräftig verurteilt wurde. Den unbedingten Strafteil verbüßte der Revisionswerber bis zu seiner bedingten Entlassung am 23. Februar 2018. Zu diesen Straftaten traf das BVwG dem Schuldspruch folgend nähere Feststellungen samt Anführung der bei der Strafbemessung maßgeblichen Erschwerungsgründe (Zusammentreffen eines Verbrechens mit mehreren Vergehen, Tatwiederholung, Ausnutzen des jungen Alters des Opfers und dessen körperliche Unterlegenheit) und der Milderungsgründe (bisher ordentlicher Lebenswandel). Überdies berücksichtigte das BVwG noch die rechtskräftige Verurteilung durch das Landesgericht für Strafsachen Wien vom 16. Juli 2019 „wegen §§ 127 und 129 Abs. 1 Z 1 StGB“ zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten. Diesbezüglich beschränkte sich das BVwG auf die Wiedergabe der vom Strafgericht angenommenen Erschwerungsgründe (einschlägige Vorstrafe, Tatbegehung in der Probezeit) und der Milderungsgründe (reumütiges Geständnis).
7 In diesem Zusammenhang wird in der Revision ‑ betreffend die Urteile aus 2011 und aus 2019: zu Recht ‑ bemängelt, das BVwG habe sich mit den „Tathandlungen an sich“ nicht ausreichend auseinander gesetzt. In Bezug auf Gefährdungsprognosen ist es nämlich ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 14, mwN), dass bei deren Erstellung das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zugrunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen.
8 Demzufolge reichte es nicht, dass das BVwG nur zum Strafurteil vom 7. Februar 2018 eine nähere, dem Schuldspruch entsprechende Beschreibung des zugrunde liegenden Verhaltens vornahm. Vielmehr wären auch Feststellungen zu Art und Schwere der dem Urteil vom 23. März 2011 zugrunde liegenden Tat erforderlich gewesen; und zwar schon deshalb, um überprüfen zu können, ob es ‑ auch wenn zur Begründung einer Gefährdung grundsätzlich auch das einer getilgten Verurteilung zugrunde liegende Verhalten berücksichtigt werden darf (vgl. etwa VwGH 20.8.2013, 2013/22/0113, mwN) ‑ gerechtfertigt war, im vorliegenden Fall diese schon lange zurückliegende, nicht zu einer Strafe führende und vom BFA auch nicht einbezogene Jugendstraftat für die Erlassung der gegenständlichen aufenthaltsbeendenden Maßnahmen als (auch) maßgeblich anzusehen. Träfe das nicht zu, so wäre nämlich der Sache nach auf die Wertungen des ehemaligen, mit dem FrÄG 2018 aufgehobenen Aufenthaltsverfestigungstatbestandes des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG Bedacht zu nehmen gewesen (siehe dazu noch einmal VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, nunmehr Rn. 12, mwN, und daran anschließend etwa VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0276, Rn. 7).
9 Nähere Feststellungen wurden aber auch zu der dem Schuldspruch vom 16. Juli 2019 zugrunde liegenden Tathandlung nicht getroffen; ebenso nicht zum ‑ so die Revision ‑ „Nachtatverhalten“. So konstatierte das BVwG zwar, der Revisionswerber befinde sich seit 24. Oktober 2019 in Therapie beim „Grünen Kreis“, einem Verein zur Rehabilitation und Integration suchtkranker Menschen. Eine Auseinandersetzung mit dem Ergebnis der Suchtgiftentwöhnungstherapie sowie mit dem weiteren Beschwerdevorbringen, dem Revisionswerber sei vom Strafgericht ein Strafaufschub gemäß § 39 SMG gewährt worden und er absolviere nach der sechsmonatigen stationären Drogenentzugstherapie noch eineinhalb Jahre eine ambulante „Betreuung“, erfolgte allerdings nicht. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass sich die an anderer Stelle des angefochtenen Erkenntnisses getroffene Feststellung, der Revisionswerber sei am 14. Oktober 2019 in den Herkunftsstaat abgeschoben worden (Seite 4 oben), als aktenwidrig erweist. Durch die Aktenlage nicht gedeckt ist auch die Bezugnahme des BVwG auf die besondere Gefährlichkeit der gewerbsmäßigen Eigentumskriminalität (an zwei Stellen auf Seite 20), weil der Revisionswerber wegen eines derartigen Deliktes nicht verurteilt wurde.
10 Das BVwG erachtete die Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Verhandlung für entbehrlich, weil ihm „die zur Klärung der Rechtsfrage nötige Aktenlage“ vorliege, eine mündliche Verhandlung auch keine weitere Klärung „der Rechtssache“ erwarten lasse und der Sachverhalt iSd § 24 Abs. 4 VwGVG entscheidungsreif sei. Dabei ließ das BVwG allerdings außer Acht, dass für den Anwendungsbereich der vom BFA‑VG erfassten Verfahren § 21 Abs. 7 BFA‑VG eigene Regelungen enthält, wann ‑ auch: trotz Vorliegens eines Antrags ‑ von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann, welche die bloß als subsidiär anwendbar ausgestaltete Norm des § 24 Abs. 4 VwGVG verdrängen (vgl. etwa VwGH 19.2.2020, Ra 2019/14/0509, Rn. 13, mwN). Eine Begründung dafür, dass im vorliegenden Fall die Voraussetzungen für das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG vorgelegen wären, enthält das angefochtene Erkenntnis aber nicht. Vor allem wurde die zu dieser Bestimmung ergangene ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht berücksichtigt, wonach bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen von einem geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs. 7 BFA‑VG ‑ außer in eindeutigen Fällen ‑ nur dann ausgegangen werden dürfe, wenn sich das BVwG vom betroffenen Fremden im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 10, mwN). Das Vorliegen eines solchen eindeutigen Falles kann aber schon angesichts des sehr langen Aufenthalts des Revisionswerbers in Österreich seit dem Kindesalter in der Dauer von fast zwanzig Jahren sowie wegen der angesprochenen offenen Fragen im Zusammenhang mit den Straftaten und der aktuellen Therapie nicht unterstellt werden.
11 Überdies ließ das BVwG außer Acht, dass dem Revisionswerber im Hinblick auf den ihm erteilten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ nach § 20 Abs. 3 NAG in Österreich ‑ unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesem Aufenthaltstitel entsprechenden Dokumentes ‑ ein unbefristetes Niederlassungsrecht zukommt. Demzufolge wäre die Zulässigkeit der gegen den Revisionswerber erlassenen Rückkehrentscheidung am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG zu prüfen gewesen (vgl. VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0067, Rn. 13). Daher trifft die in der rechtlichen Beurteilung vom BVwG vertretene Auffassung, das BFA habe die Rückkehrentscheidung zu Recht auf § 52 Abs. 1 Z 1 FPG gestützt, nicht zu, weil dieser Tatbestand nur Rückkehrentscheidungen gegen nicht rechtmäßig aufhältige Drittstaatsangehörige erfasst. Darüber hinaus wäre der in den Bescheid des BFA vom 7. Oktober 2019 aufgenommene Spruchteil über die (amtswegige) Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005, der gemäß dem im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen § 58 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 nur dann vorzunehmen ist, wenn sich der Fremde nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, vom BVwG ersatzlos zu beheben gewesen (vgl. VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0091, Rn. 12, mwN).
12 Schließlich ist zur Vollständigkeit noch anzumerken, dass das angefochtene Erkenntnis noch eine Begründung zur nach Auffassung des BVwG berechtigten Aberkennung der aufschiebenden Wirkung für die Beschwerde wegen Erforderlichkeit der sofortigen Ausreise des Revisionswerbers enthält (Seite 20/21), was jedoch auf der aktenwidrigen Annahme beruht, das BFA hätte in den Bescheid vom 7. Oktober 2019 einen derartigen Ausspruch aufgenommen (vgl. demgegenüber zum Inhalt des Spruchs dieses Bescheides die Wiedergabe oben in Rn. 2). Im Übrigen finden sich des Weiteren im angefochtenen Erkenntnis (Seite 20) Textteile zu „Familienmitgliedern (Eltern, Geschwister)“ in Deutschland, die in den vorgelegten Akten ebenfalls keine Grundlage haben.
13 Das angefochtene Erkenntnis war aber schon aus den vorgenannten Gründen vorrangig wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. November 2020
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