VwGH Ra 2020/19/0147

VwGHRa 2020/19/01475.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 2020, W209 2174233‑1/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: F J, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190147.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A.III., wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte ‑ als in diesem Zeitpunkt noch Minderjähriger ‑ am 30. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 5. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. dieses Bescheides als unbegründet ab (Spruchpunkte A.I. und II.), gab der Beschwerde jedoch hinsichtlich von Spruchpunkt III. dieses Bescheides statt, stellte fest, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA‑VG auf Dauer unzulässig sei, und erteilte dem Mitbeteiligten den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ (Spruchpunkt A.III.). Unter einem sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

4 Begründend führte das BVwG ‑ soweit hier wesentlich ‑ aus, der Mitbeteiligte sei als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist. Er sei zum damaligen Zeitpunkt Analphabet gewesen und leide an Legasthenie und Dyskalkulie. Zwischenzeitlich habe er die Pflichtschulabschluss‑Prüfung bestanden, spreche sehr gut Deutsch, habe eine Ausbildung als „Gastronomiehilfskraft“ absolviert und sich in verschiedenen Bereichen ehrenamtlich engagiert. Er strebe eine Lehre an, habe die ÖSD‑Integrationsprüfung zur Sprachkompetenz B1 und zum Werte‑ und Orientierungswissen bestanden und sei unbescholten. Inzwischen lebe der Mitbeteiligte seit fast fünf Jahren im Bundesgebiet und habe somit über ein Viertel seines Lebens in Österreich verbracht. Die Zeit in Österreich habe er von Anfang an genutzt, um seine Integration voranzutreiben, wovon sich das BVwG auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung habe überzeugen können. Obwohl seine schulische Ausbildung infolge der persönlichen Voraussetzungen des Mitbeteiligten mit erhöhten Schwierigkeiten verbunden gewesen sei, habe er beachtliche Erfolge erreicht und sich in vielerlei Hinsicht in die österreichische Gesellschaft integriert. Es sei davon auszugehen, dass der Mitbeteiligte seinen Lebensunterhalt in Österreich unabhängig von staatlichen Unterstützungsleistungen werde bestreiten können. Insgesamt sei von einem ausreichenden Grad an Integration auszugehen. Vor dem Hintergrund des bald fünfjährigen Aufenthalts des Mitbeteiligten im Bundesgebiet könne nicht gesagt werden, dass seine in diesem Zeitraum erlangte Integration keine außergewöhnliche, für die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen könne. Auch die mit der fortgeschrittenen Aufenthaltsdauer korrelierende abnehmende Bindung zu seinem Herkunftsstaat begründe angesichts der intensiven sozialen Kontakte des Mitbeteiligten ein überwiegendes Interesse am Verbleib im Inland. Die integrationsbegründenden Umstände seien auch nicht dadurch gemindert, dass sich der Mitbeteiligte seines unsicheren Aufenthaltsstatus hätte bewusst sein müssen und nicht damit hätte rechnen dürfen, in Österreich bleiben zu können. Diesem Umstand komme im konkreten Einzelfall nämlich weniger Gewicht zu, da er als Minderjähriger eingereist und die ersten Jahre seines Aufenthalts noch minderjährig gewesen sei. Es könne ihm daher nicht angelastet werden, dass er seinen unsicheren Aufenthaltsstatus nicht habe erkennen können. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung würde sich im konkreten Einzelfall daher als unverhältnismäßig erweisen.

5 Gegen Spruchpunkt A.III. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels) richtet sich die vorliegende Amtsrevision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in welchem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

6 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung zur Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK abgewichen, indem es dem Bewusstsein über den unsicheren Aufenthaltsstatus und dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens nicht die ihm nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen habe. Zudem liege im gegenständlichen Fall keine derartige außergewöhnliche Konstellation vor, dass die Integration des Mitbeteiligten trotz seines Aufenthalts von weniger als fünf Jahren zu einem Überwiegen von dessen Interessen am Verbleib im Inland führen würde.

7 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und auch begründet.

8 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2020/20/0066 bis 0070, mwN).

9 Es entspricht ‑ wie die Revision zutreffend aufzeigt ‑ der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 15.3.2016, Ra 2016/19/0031, 21.1.2020, Ra 2020/14/0011; jeweils mwN).

10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist. Liegt ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).

11 Desgleichen darf nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG („Frage, ob das Privat‑ und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) zwar nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Sinn wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinn des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003), wobei diesem Umstand allerdings bei Minderjährigen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0405, mwN).

12 Im vorliegenden Fall zeigt die Amtsrevision in Zusammenhang mit dem weniger als fünfjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden kann, weshalb schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste.

13 Die Interessenabwägung des BVwG erweist sich daher als unvertretbar (vgl. zu ähnlichen Konstellationen etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN; 18.5.2020, Ra 2019/18/0390; 30.7.2020, Ra 2020/20/0130; 17.11.2020, Ra 2020/19/0139; 16.2.2021, Ra 2019/19/0440).

14 Das Erkenntnis war daher im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 43 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 5. März 2021

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