VwGH Ra 2019/19/0440

VwGHRa 2019/19/044016.2.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. August 2019, L507 2129137‑1/37E, idF des Berichtigungsbeschlusses vom 9. Oktober 2020, L507 2129137‑1/55Z, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: A H A A, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx in 1090 Wien, Pulverturmgasse 4/2/R01), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019190440.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A) II., soweit damit der Beschwerde stattgegeben wurde (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), sowie seines Spruchpunktes A) III. (Aufhebung der Frist für die freiwillige Ausreise), wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 17. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 16. Juni 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. August 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten teilweise als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I. sowie den ersten Teil des Spruchpunktes A) II.). Im Übrigen stellte es in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, erteilte dem Mitbeteiligten den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten (restlicher Teil Spruchpunkt A) II.) und behob die Frist für die freiwillige Ausreise ersatzlos (Spruchpunkt A) III.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B).

4 Begründend hielt das BVwG fest, dass die Tochter des Mitbeteiligten sowie seine Eltern und mehrere Geschwister weiterhin in seiner Heimatstadt im Irak lebten. Der Mitbeteiligte halte sich seit etwas mehr als vier Jahren im Bundesgebiet auf und habe seit Beginn seines Aufenthaltes erkennbare Anstrengungen unternommen, sich in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht zu integrieren. Er verfüge über sehr gute Deutschkenntnisse, zumal er erfolgreich an „Deutschqualifizierungsmaßnahmen“ teilgenommen und sich die deutsche Sprache insbesondere auch im Weg seiner sozialen Kontakte selbst beigebracht habe. Der Mitbeteiligte sei immer wieder gemeinnützigen Tätigkeiten nachgegangen und im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten als Helfer in einem Weingut tätig gewesen. Von diesem Arbeitgeber bestehe für den Fall der Erlangung einer Arbeitsbewilligung auch eine Einstellungszusage, sodass jedenfalls von einer künftigen Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden könne. Der Mitbeteiligte habe die Zeit seines Aufenthaltes dahingehend zu nutzen vermocht, sich einen Freundeskreis in Österreich aufzubauen, der nicht auf die irakische bzw. arabisch sprechende Gesellschaft reduziert sei. Besonders positiv sei auch das Engagement des Mitbeteiligten in seiner Wohngemeinde hervorzuheben, wo er aktiv am Vereinsleben sowie bei unterschiedlichsten Veranstaltungen nicht nur teilnehme, sondern auch tatkräftig mithelfe. Freilich sei das Privatleben des Mitbeteiligten zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem er sich noch seines unsicheren Aufenthaltsstatus habe bewusst sein müssen. Dessen ungeachtet würden die vom Mitbeteiligten durch aktive Teilnahme am Gemeinschaftsleben und die von ihm ergriffenen Integrationsbestrebungen geschaffenen Anknüpfungspunkte stark ins Gewicht fallen. Der sozialen Verfestigung in Österreich gegenüber stellten sich die Bindungen des Mitbeteiligten zu seinem Herkunftsstaat auf Grund der längeren Abwesenheit als abnehmend dar.

5 Im Ergebnis habe der Mitbeteiligte somit nicht nur im Zeitraum seit seiner Einreise eine maßgebliche Integration im Bundesgebiet vollzogen, sondern sei darüber hinaus auch in Hinblick auf seine weitere soziale, sprachliche und berufliche Integration eine günstige Zukunftsprognose zu treffen gewesen. In einer Gesamtabwägung der für das Privatleben des Mitbeteiligten in Österreich maßgeblichen Aspekte mit den öffentlichen Interessen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und des wirtschaftlichen Wohles sei daher der Schluss zu ziehen, dass das Interesse des Mitbeteiligten an der Fortsetzung seines in Österreich etablierten Privatlebens das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthaltes im Entscheidungszeitpunkt bereits überwiege, weshalb sich die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in den Herkunftsstaat als auf Dauer unzulässig erweise. Es sei daher von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten zu erteilen. Da keine der alternativen Voraussetzungen der Erteilung einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 vorläge, sei eine „Aufenthaltsberechtigung“ nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005 zu erteilen.

6 Gegen Spruchpunkt A) II., soweit damit der Beschwerde stattgegeben wurde, und Spruchpunkt A) III. des angefochtenen Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Amtsrevision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von den in der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätzen für die bei Rückkehrentscheidungen im Sinn des Art. 8 EMRK vorzunehmende Interessenabwägung abgewichen, weil es dem Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG nicht die ihm zukommende Bedeutung beigemessen habe. Vielmehr sei vom BVwG die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt worden. Eine außergewöhnliche Konstellation, in der trotz des erst circa vierjährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten in Österreich das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung von der Integration des Mitbeteiligten überwogen werden würde, liege nicht vor.

8 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und auch berechtigt.

9 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2020/20/0066, mwN).

10 Es entspricht ‑ wie die Revision zutreffend aufzeigt ‑ der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 21.1.2020, Ra 2020/14/0011; 15.3.2016, Ra 2016/19/0031, jeweils mwN).

11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist. Liegt ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. etwa VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN).

12 Desgleichen darf nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG („Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren“) zwar nicht in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt werden. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Sinn wiederholt klargestellt, dieser Aspekt habe schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung führen könne. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

13 Im vorliegenden Fall zeigt die Amtsrevision in Zusammenhang mit dem erst etwas mehr als vierjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden kann, weshalb schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste. Das BVwG hat insbesondere dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, zu wenig Beachtung geschenkt. Die Interessenabwägung des BVwG erweist sich daher als unvertretbar (vgl. zu ähnlichen Konstellationen VwGH 20.11.2019, Ra 2019/20/0269; 21.2.2020, Ra 2019/18/0337; 27.2.2020, Ra 2019/01/0471; 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, alle mwN).

14 Das Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 16. Februar 2021

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