Normen
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180390.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Spruchpunkte A.II. und A.III.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 24. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 29. März 2018 zur Gänze abwies. Dem Mitbeteiligten wurde kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt, gegen ihn wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, es wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 52 Abs. 9 FPG zulässig sei, und es wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.
2 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), die mit dem gegenständlichen Erkenntnis nach Durchführung einer Verhandlung in Bezug auf die Nichtgewährung von internationalem Schutz (Spruchpunkt A.I.) abgewiesen wurde. In Erledigung der Beschwerde gegen die übrigen Spruchpunkte sprach das BVwG aus, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei (Spruchpunkt A.II.), und dem Mitbeteiligten eine "Aufenthaltsberechtigung plus" für 12 Monate zu erteilen sei (Spruchpunkt A.III.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Zur Begründung der Spruchpunkte A.II. und A.III. führte das BVwG aus, dass der Mitbeteiligte zwar über kein Familienleben in Österreich verfüge, jedoch sei sein Privatleben schützenswert. Der Mitbeteiligte sei selbsterhaltungsfähig aufgrund seiner Beschäftigung als Gartenarbeiter, arbeite laufend an seiner Integration, beziehe seit April 2018 keine Grundversorgung mehr, habe die Deutschprüfung A2 absolviert und einen Deutschkurs B1 besucht, arbeite freiwillig als Übersetzer in einer Flüchtlingsunterkunft, habe österreichische Freunde und Bekannte und gehe in seiner Freizeit in ein Fitnessstudio. Er habe telefonischen Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan und zu seiner afghanischen Verlobten in der Russischen Föderation und zeige durch seine legale Arbeit, sein Bestreben, die deutsche Sprache zu lernen, sein Bemühen um Integration in Österreich. Es sei von einem ausreichenden Grad an Integration auszugehen. Seine Bindung an den Heimatstaat wiege angesichts dieses Integrationsgrades nicht derart schwer, um sein Interesse am Verbleib in Österreich zu verneinen. Vielmehr würde eine Rückkehrentscheidung schwerer in das Privatleben des Mitbeteiligten eingreifen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Der Mitbeteiligte habe seine Aufenthaltsdauer von rund vier Jahren genützt, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sein Verhalten gefährde auch nicht die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Er habe einen entsprechend hohen Grad an Integration erreicht, sodass seine privaten Interessen die öffentlichen Interessen überwiegen würden. Die drohende Verletzung seines Privatlebens sei auch nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft. Aus diesen Gründen sei die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig. Der Mitbeteiligte würde auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" erfüllen, welche ihm vom BVwG mit konstitutiver Wirkung erteilt werde. Die Revision sei nicht zulässig.
4 Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. des Erkenntnisses wendet sich die vorliegende Amtsrevision, die mit näherer Begründung geltend macht, dass das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den maßgeblichen Interessen bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK abgewichen sei. Ein außergewöhnliches Maß an Integration liege im vorliegenden Fall nicht vor, auch hätte sich der Mitbeteiligte stets seines unsicheren Aufenthalts bewusst sein müssen.
5 Der Mitbeteiligte hat zu dieser Revision eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der beantragt wird, die Amtsrevision zurück- oder allenfalls abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
6 Die Revision ist zulässig und begründet.
7 Der Revisionsfall gleicht in seinen entscheidungsrelevanten
Fragen jenem, der mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 18. September 2019, Ra 2019/18/0212, entschieden worden ist. Zur Begründung wird daher gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf dieses Erkenntnis verwiesen.
8 Zusammengefasst sprach der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung aus, dass bei einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung, eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden muss. Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes allerdings regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen. Im Übrigen werden integrationsbegründende Schritte eines Fremden in einem Zeitraum, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, maßgeblich relativiert. Dieser Umstand darf bei der Interessenabwägung nicht außer Acht gelassen werden (vgl. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0212, mwN).
9 Die Amtsrevision moniert zu Recht, dass die im angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen die Annahme einer außergewöhnlichen Integration im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht decken. Das BVwG beschreibt den Mitbeteiligten in seiner Entscheidung unbestritten als fleißigen und arbeitswilligen, unbescholtenen jungen Mann, der innerhalb seiner relativ kurzen Aufenthaltsdauer in Österreich Arbeit gefunden hat, soziale Kontakte aufgenommen und die deutsche Sprache verhältnismäßig gut erlernt hat. Dass diese vom Mitbeteiligten gesetzten Integrationsschritte eine außergewöhnliche Konstellation bilden, lässt die Begründung der angefochtenen Entscheidung nicht erkennen (vgl. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0349).
10 Da das angefochtene Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, war es - im Anfechtungsumfang - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 18. Mai 2020
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