VwGH Ra 2020/11/0034

VwGHRa 2020/11/003430.9.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und die Hofräte Dr. Grünstäudl und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der N S in W, vertreten durch Ing. Dr. Wolfgang Gappmayer, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Margaretenstraße 22/12, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Jänner 2020, Zl. W265 2225383‑1/3E, betreffend Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6
VOG 1972 §2 Z10

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020110034.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht, einen Bescheid der belangten Behörde vom 17. Oktober 2019 bestätigend, den Antrag der Revisionswerberin auf Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) durch Kostenübernahme für psychotherapeutische Krankenbehandlung sowie durch Pauschalentschädigung für Schmerzengeld ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und sprach aus, das die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

2 Das Verwaltungsgericht stellte nach Wiedergabe des Verfahrensgangs fest, die Revisionswerberin sei mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit am 23. Dezember 2017 in ihrer Wohnung tätlich angegriffen worden und Opfer einer versuchten Vergewaltigung gewesen, wodurch sie Prellungen der linken Schulter, im Oberarmbereich, des Thorax links und des Kopfes erlitten habe. Durch die Tat sei auch ihre Brille beschädigt worden. Sie leide derzeit an keiner verbrechenskausalen psychischen Gesundheitsschädigung.

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die Feststellungen zu den körperlichen Verletzungen ergäben sich aus einer Ambulanzkarte des Wspitals, einem polizeiamtsärztlichen Befund und Gutachten, einem Befund eines Reha‑Zentrums sowie aus einem von der belangten Behörde eingeholten ‑ im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen ‑ Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Unfallchirurgie. Bei Prellungen mit Bluterguss handle es sich um keine an sich schwere Körperverletzung iSd § 84 Abs. 1 StGB. Auch nach dem polizeiamtsärztlichen Befund und Gutachten handle es sich um eine an sich leichte Körperverletzung mit Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit von nicht mehr als 14‑tägiger Dauer. Zum Vorbringen der Revisionswerberin, nach der Tat monatelang arbeitsunfähig gewesen zu sein, führte das Verwaltungsgericht aus, aus den vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsmeldungen gehe nicht hervor, auf Grund welcher Diagnose die Arbeitsunfähigkeit bestanden habe.

4 Die Feststellungen zu den psychischen Leiden beruhten auf einem von der belangten Behörde eingeholten ‑ im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen ‑ nervenfachärztlichen Sachverständigengutachten, in dem eine histrionische Persönlichkeitsakzentuierung und eine transiente Tic‑Störung im Bereich des rechten Auges diagnostiziert worden seien, bei denen es sich jedoch nicht um verbrechenskausale Gesundheitsschädigungen handle (Das Gutachten kommt, vom Verwaltungsgericht nicht in seine Feststellungen übernommen, weiters zum Ergebnis, dass die Persönlichkeitsakzentuierung keine Dimension von Krankheitswert erreiche). Bei dem im Strafverfahren gegen den Angreifer eingeholten psychiatrischen Sachverständigengutachten sei bei der Revisionswerberin ebenfalls eine histrionische Persönlichkeitsakzentuierung und ein ängstlich‑depressives Zustandsbild diagnostiziert worden.

5 Die Revisionswerberin sei den Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten.

6 Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, gemäß § 1 Abs. 1 VOG lägen die grundsätzlichen Voraussetzungen für Leistungen nach dem VOG vor. Da es sich bei den festgestellten Körperverletzungen jedoch nicht um eine schwere Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 1 StGB handle, sei der Antrag auf Pauschalentschädigung für Schmerzengeld abzuweisen gewesen. Mangels verbrechenskausaler psychischer Beeinträchtigung sei die Kostenübernahme für psychotherapeutische Krankenbehandlung nicht möglich.

7 Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG entfallen können, weil der Sachverhalt aus dem Akt zu klären gewesen sei, sich alle notwendigen Unterlagen im Akt befunden hätten und „ansonsten“ rechtliche Fragen zu klären gewesen seien. Ein Beschwerdevorbringen, das mit der Revisionswerberin mündlich zu erörtern gewesen wäre, sei dem Verwaltungsgericht nicht vorgelegen. Auch habe die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt. Die mündliche Erörterung hätte daher eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lassen.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, die das Verwaltungsgericht unter Anschluss der Akten vorgelegt hat. Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Das Verbrechensopfergesetz ‑ VOG, BGBl. Nr. 288/1972 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 105/2019, lautet auszugsweise:

„Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

...

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist. ...

...

Hilfeleistungen

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

...

2. Heilfürsorge;

...

10. Pauschalentschädigung für Schmerzengeld.

...

Heilfürsorge

§ 4. ...

(5) Erbringt der Träger der Krankenversicherung auf Grund der Satzung dem Opfer oder dem Hinterbliebenen einen Kostenzuschuß für psychotherapeutische Krankenbehandlung infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1, so sind die Kosten für die vom Träger der Krankenversicherung bewilligte Anzahl der Sitzungen, die das Opfer oder der Hinterbliebene selbst zu tragen hat, bis zur Höhe des dreifachen Betrages des Kostenzuschusses des Trägers der Krankenversicherung zu übernehmen. ...

...

Pauschalentschädigung für Schmerzengeld

§ 6a. (1) Hilfe nach § 2 Z 10 ist für eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB) infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 als einmalige Geldleistung im Betrag von 2 000 Euro zu leisten; sie beträgt 4 000 Euro, sofern die durch die schwere Körperverletzung verursachte Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit länger als drei Monate andauert.

...“

11 Das StGB lautet auszugsweise:

„Schwere Körperverletzung

§ 84. (1) Hat die Tat eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit zur Folge oder ist die Verletzung oder Gesundheitsschädigung an sich schwer, so ist der Täter mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

...“

12 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Sie ist auch begründet.

13 Vorauszuschicken ist, dass es sich bei der von der Revisionswerberin beantragten Pauschalentschädigung für Schmerzengeld iSd § 2 Z 10 VOG, wie bei den anderen Hilfeleistungen nach dem VOG, um einen verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch aus der Übernahme eines fremden Risikos (vgl. VwGH 20.11.2012, 2011/11/0102) und somit um ein „civil right“ iSd Art. 6 Abs. 1 EMRK handelt.

14 Die im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich nicht vertretene Revisionswerberin hatte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zwar nicht beantragt, auf eine solche aber auch nicht ausdrücklich verzichtet.

15 Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es diese für erforderlich hält; damit steht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichts (vgl. VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036, mwN; 11.11.2015, Ra 2014/11/0109).

16 Davon, dass (im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG) eine weitere Klärung der Rechtssache durch die mündliche Erörterung nicht zu erwarten war, konnte im vorliegenden Fall allerdings keine Rede sein:

17 Die Revisionswerberin hat in ihrer (selbstverfassten) Beschwerde vorgebracht, dass verschiedene von ihr im verwaltungsbehördlichen Verfahren vorgelegte medizinische Unterlagen in dem von der belangten Behörde eingeholten nervenfachärztlichen Sachverständigengutachten nicht gewürdigt worden seien. Auch rügte die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde, dass im unfallchirurgischen Sachverständigengutachten die Schwere der Prellungen nicht angegeben worden sei, und die Gutachterin ihre Arbeitsunfähigkeitsmeldungen nicht berücksichtigt habe, aus denen hervorgehe, dass sie eine mehr als 24‑tägige Gesundheitsschädigung erlitten habe.

18 Angesichts dieses Vorbringens konnte das Verwaltungsgericht nicht davon ausgehen, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Anwesenheit der nervenfachärztlichen und der unfallchirurgisch‑orthopädischen Sachverständigen nicht zur weiteren Klärung der Rechtssache führen hätte können. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass insbesondere die Vernehmung der unfallchirurgischen Sachverständigen zum Ausmaß der Prellungen das Vorliegen einer an sich schweren Verletzung iSd § 84 StGB ergeben hätte.

19 Auch bringt die Revision zu Recht vor, dass sowohl im angefochtenen Erkenntnis als auch im nervenfachärztlichen Sachverständigengutachten, auf welches das Verwaltungsgericht seine Feststellung, die Revisionswerberin leide an keiner verbrechenskausalen psychischen Gesundheitsschädigung, stützt, eine Auseinandersetzung mit dem von der Revisionswerberin vorgelegten Befundbericht des Kriseninterventionszentrums vom 16. Jänner 2018 sowie dem Schreiben der die Revisionswerberin behandelnden Psychotherapeutin vom 11. April 2018 fehlt, in denen jeweils eine schwere bzw. vollständig ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörung nach versuchter Vergewaltigung und massiver Gewalthandlung diagnostiziert wird. Das Verwaltungsgericht hat sein Erkenntnis dadurch mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet.

20 Sollte das Verwaltungsgericht im fortzusetzenden Verfahren nicht schon auf Grund der körperlichen Verletzungen der Revisionswerberin zum Ergebnis kommen, dass die Voraussetzungen für eine Pauschalentschädigung für Schmerzengeld vorliegen, wird es ‑ gestützt auf ein vollständiges und schlüssiges Gutachten ‑ zunächst zu ermitteln haben, an welchen psychischen Gesundheitsschädigungen die Revisionswerberin leidet. Sodann wird das Verwaltungsgericht ‑ sofern ein Anspruch nach dem VOG nicht schon wegen der mangelnden Schwere der Gesundheitsschädigungen ausscheidet (vgl. VwGH 26.9.2013, 2010/11/0063) ‑ zu beurteilen haben, ob die festgestellten psychischen Gesundheitsschädigungen mit ausreichender Wahrscheinlichkeit iSd. § 1 Abs. 1 VOG ursächlich auf den tätlichen Angriff vom 23. Dezember 2017 zurückzuführen sind (vgl. VwGH 6.3.2014, 2013/11/0219). Bei dieser Beurteilung handelt es sich nicht bloß um eine Frage technischer Natur, sodass das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung schon aus diesem Grund gerechtfertigt wäre (vgl. näher VwGH 27.4.2015, Ra 2015/11/0004).

21 Da das Verwaltungsgericht die Rechtslage in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen vorrangig wahrzunehmender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

22 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. September 2020

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