Normen
62001CJ0317 Abatay VORAB;
62003CJ0383 Dogan VORAB;
62007CJ0092 Kommission / Niederlande;
62009CJ0300 Toprak und Oguz VORAB;
62010CJ0007 Kahveci und Inan VORAB;
62011CJ0451 Dülger VORAB;
ARB1/80 Art13;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7 Abs1;
EURallg;
MRK Art8;
NAG 2005 §21a Abs1 idF 2017/I/145;
NAG 2005 §21a Abs4 Z2 idF 2017/I/145;
NAG 2005 §21a;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220004.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die Mitbeteiligte ist türkische Staatsangehörige und seit 1978 mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratet. Mit Schriftsatz vom 1. September 2016 beantragte sie die Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck "Familienangehöriger"; mit Zusatzantrag vom 10. Oktober 2016 beantragte die Mitbeteiligte die Nachsicht vom Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse, weil sie Analphabetin sei.
2 Nachdem der Landeshauptmann von Wien (Behörde, Revisionswerber) den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen fehlender Deutschkenntnisse abgewiesen hatte, gab das Verwaltungsgericht Wien (VwG) der Beschwerde der Mitbeteiligten statt und erteilte ihr gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) den Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" mit 12-monatiger Gültigkeit.
Eine ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt.
Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, die erforderlichen finanziellen Mittel, eine ausreichende Unterkunft und eine alle Risken abdeckende Krankenversicherung seien vorhanden. Selbst wenn die Mitbeteiligte (vorläufig) angegeben habe, keine Beschäftigung in Österreich anzustreben, sei sie daran aufgrund ihres Alters und der bestehenden Möglichkeit, die deutsche Sprache - wenn auch nicht schriftlich - zu erlernen, nicht gebunden. Eine künftige (allenfalls geringfügige) Beschäftigung sei nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch möglich. Gemäß Art. 7 des Beschlusses 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei, der Judikatur des EuGH (Hinweis auf EuGH 10.7.2014, Dogan, C-138/13 ) und der "historisch anzuwendende(n) Rechtslage" sei die Abweisung des Antrages der Mitbeteiligten wegen mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache zu Unrecht erfolgt.
3 Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
4 Die Mitbeteiligte beteiligte sich nicht am Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
5 In ihrer Zulässigkeitsbegründung bringt die Revision vor, das angefochtene Erkenntnis weiche von der hg. Rechtsprechung (Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2007/18/0430; 19.1.2012, 2011/22/0313) und jener des EuGH ab. Demnach komme die Stillhalteklausel im Fall eines Familiennachzugs von türkischen Staatsangehörigen zu österreichischen Ankerpersonen nur dann zur Anwendung, wenn der Familienangehörige künftig (auch) am Erwerbsleben teilnehmen wolle. Nur bei Erwerbsabsicht seien die günstigeren Bestimmungen des Fremdengesetzes 1997 (FrG 1997) maßgeblich, anderenfalls sei ausschließlich das NAG - fallbezogen auch betreffend den erforderlichen Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse - anzuwenden.
6 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 7 Art. 6, Art. 7 und Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) lauten (auszugsweise):
"Artikel 6
1. Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
...
Artikel 7
Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
- haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
- haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.
...
Artikel 13
Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen."
§ 21a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 145/2017, lautet auszugsweise:
"Nachweis von Deutschkenntnissen
§ 21a. (1) Drittstaatsangehörige haben mit der Stellung eines Erstantrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, 4, 5, 6, 8, 9 oder 10 Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen. Dieser Nachweis hat mittels eines allgemein anerkannten Sprachdiploms einer durch Verordnung gemäß Abs. 6 oder 7 bestimmten Einrichtung zu erfolgen, in welchem diese schriftlich bestätigt, dass der Drittstaatsangehörige über Kenntnisse der deutschen Sprache zumindest zur elementaren Sprachverwendung auf einfachstem Niveau verfügt. Das Sprachdiplom darf zum Zeitpunkt der Vorlage nicht älter als ein Jahr sein.
(2) ...
(4) Abs. 1 gilt nicht für Drittstaatsangehörige,
1. ...
2. denen auf Grund ihres physischen oder psychischen
Gesundheitszustandes die Erbringung des Nachweises nicht zugemutet
werden kann; dies hat der Drittstaatsangehörige durch ein
amtsärztliches Gutachten oder ein Gutachten eines Vertrauensarztes
einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde nachzuweisen;
steht kein oder kein geeigneter Vertrauensarzt zur Verfügung, hat
der Drittstaatsangehörige diesen Nachweis durch ein Gutachten
eines sonstigen von der österreichischen Berufsvertretungsbehörde
bestimmten Arztes oder einer von dieser bestimmten medizinischen
Einrichtung zu erbringen,
3. ...
(5) Die Behörde kann auf begründeten Antrag eines
Drittstaatsangehörigen von einem Nachweis nach Abs. 1 absehen:
1. ...
2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im
Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).
Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Drittstaatsangehörige zu belehren; § 13 Abs. 3 AVG gilt.
(6) ..."
8 Zunächst ist festzuhalten, dass die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 grundsätzlich der Anwendung von neuen Beschränkungen wie etwa eines neu eingeführten Erfordernisses des Nachweises von Deutschkenntnissen für die Ermöglichung des Familiennachzuges für Ehegatten von in Österreich lebenden türkischen Staatsangehörigen entgegensteht (etwa VwGH 24.3.2015, Ro 2014/09/0057, mit Hinweis auf EuGH 10.7.2014, Dogan, C- 138/13 ).
9 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Familienzusammenführung gemäß Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 vorteilhaft für die Qualität des Aufenthalts und die Integration des türkischen Arbeitnehmers in dem Mitgliedstaat, in dem er arbeitet und wohnt (vgl. EuGH 19.7.2012, Dülger, C-451/11 , Rn. 47). Entscheidungsrelevant für die Anwendung des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ist einerseits die Eigenschaft als Familienangehöriger und andererseits die Staatsangehörigkeit des im Mitgliedstaat dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden Arbeitnehmers. Letzterer - nicht der Drittstaatsangehörige - muss (zumindest auch, vgl. EuGH 29.3.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C- 9/10 ) die türkische Staatsbürgerschaft besitzen.
Dass der Ehemann der Mitbeteiligten neben der österreichischen auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, wurde weder festgestellt noch vorgebracht. Die Mitbeteiligte kann sich daher nicht auf Art. 7 ARB 1/80 stützen, weil sie keine Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers, sondern eines Österreichers ist.
10 Auch aus Art. 6 ARB 1/80 ist für die Mitbeteiligte nichts zu gewinnen.
Der Verwaltungsgerichtshof hielt in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 iVm Art. 13 ARB 1/80 - nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Judikatur des EuGH - fest, dass diese Klausel zwar nicht nur auf die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates integrierten türkischen Staatsangehörigen anzuwenden sei, allerdings müsse die Absicht vorhanden sein, sich in den Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaates zu integrieren (vgl. nochmals VwGH 24.3.2015, Ro 2014/09/0057, mit Hinweis auf EuGH 21.10.2003, Abatay und Sahin, C- 317/01 und C-369/01 ; ebenso VwGH 21.2.2012, 2011/23/0671; 19.5.2014, Ro 2014/09/0016, jeweils mwN). Der EuGH betonte im Urteil Abatay, aus dem Aufbau und der Zielsetzung des ARB 1/80 ergebe sich, dass dieser Beschluss die schrittweise Integration türkischer Arbeitnehmer in den Aufnahmestaat durch die Ausübung einer ordnungsgemäßen und grundsätzlich ununterbrochenen Beschäftigung von einem, drei oder vier Jahren zum wesentlichen Ziel habe; Art. 13 ARB 1/80 sei nicht anzuwenden, wenn türkische Staatsangehörige nicht die Absicht hätten, sich in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates zu integrieren (vgl. insbesondere Rn. 89 bis 91).
11 Fallbezogen stellte das VwG fest, die Mitbeteiligte strebe eigenen Angaben zufolge (vorläufig) keine Beschäftigung in Österreich an. Dass eine künftige (allenfalls geringfügige) Beschäftigung der Mitbeteiligten nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch möglich sei, ist nicht entscheidungsrelevant.
12 Ausgehend davon ist die Stillhalteklausel des ARB 1/80 auf die Mitbeteiligte nicht anzuwenden. Dies hat zur Folge, dass ihr Antrag vom 1. September 2016 nach geltendem Recht zu beurteilen ist. § 21a Abs. 1 NAG, wonach Drittstaatsangehörige Kenntnisse der deutschen Sprache nachzuweisen haben, ist somit ebenfalls relevant. Ein von der Mitbeteiligten vorgelegtes amtsärztliches Gutachten oder ein Gutachten eines Vertrauensarztes einer österreichischen Berufsvertretungsbehörde gemäß § 21a Abs. 4 Z 2 NAG, wonach ihr aufgrund ihres physischen oder psychischen Gesundheitszustandes die Erbringung des Nachweises nicht zugemutet werden könne, ist den Verfahrensunterlagen nicht zu entnehmen. Analphabetismus macht für sich genommen den Erwerb von Deutschkenntnissen noch nicht unzumutbar (vgl. VwGH 30.7.2015, Ro 2014/22/0019).
13 Aufgrund Verkennung der Rechtslage hinsichtlich der Anwendung des ARB 1/80 war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 18. April 2018
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