VwGH Ra 2016/18/0324

VwGHRa 2016/18/032430.8.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Wech, über die Revision

1. des A H, und 2. des mj. A H H, beide in W, beide vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. September 2016, 1) Zl. W161 2135024-1/2E (ad 1., hg. prot. zu Ra 2016/18/0324) und 2) Zl. W161 2135026-1/2E (ad 2., hg. prot. zu Ra 2016/18/0325), jeweils betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird hinsichtlich des Erstrevisionswerbers als

gegenstandslos geworden erklärt und das Verfahren eingestellt.

II. zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §10 Abs6;
VwGG §42 Abs2 Z2;
VwGG §53 Abs1;
VwGVG 2014 §28 Abs1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerber sind irakische Staatsangehörige und beantragten am 15. Februar 2016 internationalen Schutz in Österreich. Der 2005 geborene Zweitrevisionswerber ist der minderjährige Bruder des volljährigen Erstrevisionswerbers.

2 Im Verwaltungsakt des Zweitrevisionswerbers befindet sich ein mit "Stellungnahme - Vollmachtsbekanntgabe" tituliertes Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 24. Februar 2016.

Darin heißt es:

"Die Bezirkshauptmannschaft Baden als regionale Organisationseinheit des Landes Niederösterreich als Kinder und Jugendhilfeträger stellt hinsichtlich des Minderjährigen H A H (...) nach Rücksprache mit dem Minderjährigen und dem Bevollmächtigten fest, dass H A (...) durch den Obsorgeberechtigten des Minderjährigen mit Pflege und Erziehung betraut wurde.

Hinweis für den Bevollmächtigten: Es wird empfohlen, die Übertragung der Obsorge beim zuständigen Bezirksgericht zu beantragen."

3 Aus dem Verwaltungsakt ergibt sich weiter keine Bestellung eines Rechtsberaters (als gesetzlicher Vertreter gemäß § 10 Abs. 6 BFA-VG) für den Zweitrevisionswerber.

4 Mit Bescheiden vom 24. August 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - jeweils ohne in die Sache einzutreten - die Asylanträge der Revisionswerber zurück und sprach aus, dass Kroatien zur Prüfung der Anträge zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Außerlandesbringung der Revisionswerber angeordnet und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Kroatien zulässig sei. Beide Bescheide wurden dem Erstrevisionswerber zugestellt; der den Zweitrevisionswerber betreffende Bescheid erging an den Erstrevisionswerber als dessen "gesetzlicher Vertreter".

5 Dagegen erhob der Erstrevisionswerber sowohl im eigenen Namen, als auch im Namen des Zweitrevisionswerbers Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

6 Mit Erkenntnis vom 23. September 2016 wies das BVwG die Beschwerden gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Die Zustellung an den Erstrevisionswerber sowie betreffend den Zweitrevisionswerber an ihn als dessen "gesetzlicher Vertreter" erfolgte am 3. Oktober 2016. Dem BFA wurde das Erkenntnis am 28. September 2016 zugestellt.

7 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die Revisionswerber sowohl Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof als auch außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

8 Die Übertragung der Obsorge für den Zweitrevisionswerber auf den Erstrevisionswerber erfolgte mit pflegschaftsgerichtlichem Beschluss vom 10. März 2017.

9 Mit Eingabe vom 20. Juni 2017 teilte der Erstrevisionswerber im Wege seines rechtsfreundlichen Vertreters mit, dass er die Erhebung der außerordentlichen Revision und die Führung des Revisionsverfahrens durch den Zweitrevisionswerber nachträglich genehmige.

10 Mit Erkenntnis vom 9. Juni 2017, Zl. E 2923-2924/2016-20, hob der Verfassungsgerichtshof das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich des Erstrevisionswerbers wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens auf und wies die Beschwerde des Zweitrevisionswerbers zurück, weil das Erkenntnis diesem nicht wirksam zugestellt worden sei und ihm gegenüber daher keine Rechtswirkungen entfalte.

11 Das BFA nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zu Spruchpunkt I:

12 Der Erstrevisionswerber wurde durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2017, Zl. E 2923-2924/2016- 20, mit welchem das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Erstrevisionswerber aufgehoben wurde, klaglos gestellt. Mit an den Verwaltungsgerichtshof gerichtetem Schreiben vom 17. Juli 2017 bestätigte dies auch der Vertreter des Erstrevisionswerbers. Die Revision war daher in Anwendung des § 33 Abs. 1 erster Satz VwGG in diesem Umfang als gegenstandslos geworden zu erklären und das Verfahren einzustellen.

Zu Spruchpunkt II:

13 Die Revision ist hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers

zulässig und begründet.

14 Sie macht in ihrer Zulässigkeitsbegründung unter anderem geltend, dass das BVwG - ohne darzulegen auf welcher Rechtsgrundlage es diese Vertretungsbefugnis angenommen habe - zu Unrecht von einer Vertretungsbefugnis des Erstrevisionswerbers im Asylverfahren des minderjährigen Zweitrevisionswerbers ausgegangen sei. Die Eltern des Zweitrevisionswerbers seien bekannt und würden sich im Irak aufhalten, weshalb die Übertragung der Vertretungsbefugnis durch konstitutiven Beschluss des Pflegschaftsgerichts hätte erfolgen müssen. Durch das formlose Schreiben der Bezirkshauptmannschaft sei hingegen keine Übertragung erfolgt und der Bescheid folglich nicht rechtswirksam zugestellt worden. Für unbegleitete Minderjährige sei in Art. 8 Dublin III-VO ein gesonderter Zuständigkeitstatbestand geschaffen worden, welcher dem vom BVwG herangezogenen - Art. 13 Dublin III-VO - vorgehe und anzuwenden gewesen wäre.

15 § 10 Abs. 6 BFA-VG lautet:

"Handlungsfähigkeit

§ 10. (1) Für den Eintritt der Handlungsfähigkeit in Verfahren vor dem Bundesamt, vor den Vertretungsbehörden gemäß dem

11. Hauptstück des FPG und in einem Verfahren gemäß § 3 Abs. 2 Z 1 bis 6 vor dem Bundesverwaltungsgericht ist ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Fremden österreichisches Recht maßgeblich.

(...)

(6) Ein unmündiger Minderjähriger, dessen Interessen von seinem gesetzlichen Vertreter nicht wahrgenommen werden können, ist berechtigt einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen sowie Verfahrenshandlungen gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu seinem Vorteil zu setzen. Abweichend von § 17 Abs. 2 AsylG 2005 gilt der Antrag auf internationalen Schutz solcher Fremder als eingebracht, wenn die Antragstellung im Beisein des Rechtsberaters (§ 49) in der Erstaufnahmestelle (§ 4 BFA-Einrichtungsgesetz (BFA-G), BGBl. I Nr. 87/2012) bestätigt wird. Bei einem unmündigen Minderjährigen, dessen Interessen von seinen gesetzlichen Vertretern nicht wahrgenommen werden können, ist der Rechtsberater ab Ankunft in der Erstaufnahmestelle gesetzlicher Vertreter. Solche Fremde dürfen nur im Beisein des Rechtsberaters befragt (§ 19 Abs. 1 AsylG 2005) werden. Im Übrigen gelten die Abs. 3 und 5."

16 Die Revision zeigt zutreffend auf, dass das BVwG zu Unrecht eine Vertretungsbefugnis des Erstrevisionswerbers für den Zweitrevisionswerber angenommen hat.

17 Der Zweitrevisionswerber ist ein unmündiger Minderjähriger. Minderjährige werden grundsätzlich durch ihre Eltern oder den Obsorgeberechtigten vertreten. § 10 Abs. 6 BFA-VG sieht für den Fall, dass die Interessen eines unmündigen Minderjährigen im Asylverfahren nicht von seinen gesetzlichen Vertretern wahrgenommen werden können, vor, dass der Rechtsberater ab Ankunft des minderjährigen Asylwerbers in der Erstaufnahmestelle dessen gesetzlicher Vertreter ist (vgl. VwGH vom 25. Februar 2016, Ra 2016/19/0007, mwN). Im Verwaltungsakt ist eine solche Bestellung eines Rechtsberaters nicht dokumentiert.

18 Eine Übertragung der Obsorge für den Zweitrevisionswerber auf den Erstrevisionswerber durch das zuständige Pflegschaftsgericht fand erst mit Beschluss vom 10. März 2017 statt. Da dem Erstrevisionswerber somit vor diesem Zeitpunkt keine Vertretungsbefugnis für seinen Bruder zukam, konnte die Zustellung des den Zweitrevisionswerber betreffenden Bescheids des BFA an den Erstrevisionswerber dem Zweitrevisionswerber gegenüber keine Wirkungen entfalten. Folglich wurde ihm gegenüber der erstinstanzliche Bescheid nicht rechtswirksam erlassen und es war dieser Mangel jedenfalls bis zur Entscheidung des BVwG (also bis zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung) nicht geheilt.

19 Ist der behördliche Bescheid nicht rechtswirksam erlassen worden, so hat dies den Mangel der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zu einem meritorischen Abspruch über das Rechtsmittel zur Folge. Die Zuständigkeit reicht in derartigen Fällen nur so weit, das Rechtsmittel wegen Unzulässigkeit zurückzuweisen (vgl. dazu VwGH vom 22. Dezember 2009, 2007/08/0329, mwN).

20 Das Verfahren vor dem BVwG ist ein Zwei-Parteien-Verfahren. Das hier angefochtene Erkenntnis wurde nach der Aktenlage dem BFA, dem als belangter Behörde vor dem BVwG Parteistellung gemäß § 21 Abs. 1 Z 2 VwGG zukam, am 28. September 2016 zugestellt. Aufgrund der rechtswirksamen Zustellung an das BFA erlangte das den Zweitrevisionswerber betreffende Erkenntnis daher rechtliche Existenz und konnte Gegenstand einer Revision sein.

21 Da der Bescheid betreffend den Zweitrevisionswerber nicht rechtswirksam erlassen wurde, hätte das BVwG die Beschwerde wegen Unzulässigkeit zurückweisen müssen und wäre nicht zu einem meritorischen Abspruch befugt gewesen. Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufzuheben.

22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff, insbesondere auf §§ 53 und 55 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

23 Gemäß § 53 Abs. 1 VwGG ist bei Anfechtung eines Erkenntnisses oder Beschlusses durch mehrere Revisionswerber in einer Revision die Frage des Anspruches auf Aufwandersatz so zu beurteilen, als ob die Revision nur vom erstangeführten Revisionswerber eingebracht worden wäre. Diese Bestimmung gilt jedoch nur für den Fall, dass die Revisionen aller Revisionswerber dasselbe Schicksal teilen (vgl. VwGH vom 15. März 2013, 2008/17/0186, mwN, vom 14. Dezember 2004, 2003/05/0194, mwN, vom 18. November 2015, Ra 2014/18/0139).

Dies ist fallgegenständlich zu bejahen, da es hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers zu einer Aufhebung des Erkenntnisses kommt und der Erstrevisionswerber klaglos gestellt ist, was gemäß § 55 VwGG so zu beurteilen ist wie ein Fall des § 47 Abs. 2 Z 1 VwGG, also der Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses oder Beschlusses oder der Entscheidung in der Sache selbst.

Wien, am 30. August 2017

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