VwGH Ra 2015/22/0075

VwGHRa 2015/22/007516.9.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des E B in Wien, vertreten durch Mag.a Irene Oberschlick, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Weyrgasse 8/6, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 18. Juni 2014, Zl. VGW- 151/081/21020/2014-12, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
AVG §68 Abs1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
NAG 2005 §44b Abs1 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 17. Dezember 2013 wurde der Antrag des Revisionswerbers, eines vormals georgischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 41a Abs. 9 iVm § 44b Abs. 1 Z 1 NAG zurückgewiesen.

Das Verwaltungsgericht Wien wies mit dem angefochtenen Erkenntnis die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte eine ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig.

Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der Revisionswerber sei am 8. November 2003 illegal nach Österreich eingereist und habe einen Asylantrag gestellt, der letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 21. Dezember 2009 abgewiesen worden sei. Weiters sei mit diesem Erkenntnis die vom Bundesasylamt mit Bescheid vom 20. Oktober 2009 ausgesprochene Ausweisung des Revisionswerbers bestätigt worden.

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass der Revisionswerber seit 2006 im Kolpinghaus in Wien wohne, dort Hilfstätigkeiten verrichte und viele Freunde in Österreich habe. Er verfüge über eine Einstellungszusage vom 23. Juli 2012 betreffend eine Anstellung als "Vollzeit-Angestellter" in einer Tabaktrafik und weise gute Deutschkenntnisse auf, sodass es ihm möglich sei, sich im alltäglichen Leben in deutscher Sprache zu verständigen. Er habe an zahlreichen Deutschkursen, insbesondere für das Niveau A2+, teilgenommen.

In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, es sei hinsichtlich des Zeitraumes seit dem Eintritt der Rechtskraft der letztinstanzlichen Ausweisungsentscheidung zu prüfen, ob bis zur erstinstanzlichen Zurückweisung eine maßgebliche Sachverhaltsänderung eingetreten sei.

Zur Frage, ob die vom Revisionswerber geltend gemachten Sachverhaltsänderungen sich als derart wesentlich im Sinn des Art. 8 EMRK darstellten, führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus:

Der bloße Erwerb von Sprachkenntnissen stelle für sich genommen keine wesentliche Sachverhaltsänderung dar. Soweit sich der Revisionswerber einen Freundes- und Bekanntenkreis im Bundesgebiet aufgebaut habe, sei anzumerken, dass "es auf der Hand liege", dass bei einem Aufenthalt über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren hinweg Bekanntschaften und Freundschaften entstünden. Eine weitergehende soziale Integration, etwa durch ehrenamtliche Tätigkeiten in einem Verein seien vom Revisionswerber nicht behauptet worden. Die von ihm ins Treffen geführten Hilfstätigkeiten, die er im Kolpinghaus verrichtet habe, hätten bereits im Jahr 2008 und somit außerhalb des verfahrensgegenständlichen Zeitraumes stattgefunden. Auch die sonstigen Hilfstätigkeiten, wie etwa die Mitarbeit bei Flohmärkten, stellten zwar Indizien für einen gewissen Grad an sozialer Integration im Bundesgebiet dar, jedoch nicht solch einen Grad, dass diese Tätigkeiten bei einer Abwägung nach Art. 8 EMRK besonders zu berücksichtigen wären. Die durch die vorgelegte Einstellungszusage geringe berufliche und soziale Integration im Bundesgebiet könne nicht im Sinn einer entscheidungswesentlichen Aufenthaltsverfestigung aufgewogen werden.

Bei Erlassung des angefochtenen Bescheides - so das Verwaltungsgericht in seiner Begründung weiter - sei der Revisionswerber bereits mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet aufhältig gewesen, davon jedoch nahezu vier Jahre unrechtmäßig. Auch wenn die Dauer des Asylverfahrens, die der Revisionswerber nicht zu verantworten habe, die überwiegende Dauer seines Aufenthaltes zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides darstellte, sei zu berücksichtigen, dass der Revisionswerber trotz Vorliegens einer rechtskräftigen Ausweisungsentscheidung das Bundesgebiet nicht verlassen habe. Vielmehr habe der Revisionswerber im Jahr 2010, nachdem fremdenpolizeiliche Schritte für seine Rückführung nach Georgien gesetzt worden seien, seine georgische Staatsbürgerschaft niedergelegt und sich somit den aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entzogen. Der Revisionswerber habe damit einen groben Verstoß gegen die öffentliche Ordnung und das öffentliche Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften begangen.

Insgesamt sei festzustellen, dass das in Österreich entfaltete Privat- und Familienleben des Revisionswerbers nicht eine solche Intensität aufweise, dass das persönliche Interesse des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich jedenfalls stärker zu gewichten wäre, als das öffentliche Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision. Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist. Sie ist demnach auch berechtigt.

Der Revisionswerber reiste am 8. November 2003 nach Österreich ein und wurde in Verbindung mit der Abweisung seines Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 21. Dezember 2009rechtskräftig ausgewiesen. Zu Recht erachtete das Verwaltungsgericht den letztgenannten Zeitpunkt als relevant dafür, ob sich bis zur Zurückweisung des Antrages der Sachverhalt in Bezug auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK maßgeblich geändert habe.

Mit einer Antragszurückweisung gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG (in der hier gemäß § 81 Abs. 25 NAG anzuwendenden Fassung vor BGBl. I Nr. 87/2012) darf nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nach Erlassung einer Ausweisung nur dann vorgegangen werden, wenn im Hinblick auf das Antragsvorbringen eine Neubeurteilung unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK nicht erforderlich ist (vgl. etwa das Erkenntnis vom 9. November 2011, 2011/22/0260).

Ein maßgeblich geänderter Sachverhalt liegt nur dann nicht vor, wenn die geltend gemachten Umstände von vornherein keine solche Bedeutung aufweisen, die eine Neubeurteilung aus dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK geboten hätte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2011, 2011/22/0127).

Im vorliegenden Fall hat sich der Revisionswerber bis zur Erlassung der Ausweisung etwas mehr als sechs Jahre im Bundesgebiet aufgehalten. Seit der Ausweisung bis zur Erlassung des Bescheides des Landeshauptmannes von Wien sind aber weitere vier Jahre vergangen, sodass sich der Revisionswerber mittlerweile mehr als zehn Jahre in Österreich aufhielt. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. März 2015, Ra 2014/22/0078, mwN).

Angesichts des Zeitablaufes von etwa vier Jahren zwischen der rechtskräftigen Ausweisung und der gegenständlichen Zurückweisung des Antrages und der geltend gemachten integrationsbegründenden Umstände, ist dem Verwaltungsgericht ein Rechtsirrtum dahin vorzuwerfen, dass es hinsichtlich der im Regelfall - auf Grund des mittlerweile mehr als zehnjährigen Aufenthaltes des Revisionswerbers im Bundesgebiet - vorzunehmenden (Neu‑)Bewertung im Sinn der angeführten hg. Judikatur schon die Möglichkeit einer anderen Beurteilung nach Art. 8 EMRK ausgeschlossen hat. Ein maßgeblich geänderter Sachverhalt liegt nämlich nicht erst dann vor, wenn der vorgebrachte Sachverhalt auch konkret dazu führt, dass nunmehr der begehrte Aufenthaltstitel erteilt werden müsste (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2011, 2011/22/0127).

Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. September 2015

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