Erhöhte Familienbeihilfe - ist die dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, vor Vollendung des 21. Lebensjahres eingetreten?
Entscheidungstext
Der Unabhängige Finanzsenat hat über die Berufung des Bw., R., vertreten durch Mag. Johann Juster, Rechtsanwalt, 3910 Zwettl, Landstraße 52, gegen den Bescheid des Finanzamtes Waldviertel betreffend erhöhte Familienbeihilfe ab 1. Juni 2000 entschieden:
Der Berufung wird teilweise Folge gegeben.
Der angefochtene Bescheid wird insoweit abgeändert, als der Antrag auf Familienbeihilfe nebst Erhöhungsbetrag für den Zeitraum 1. Juni 2000 bis 31. Dezember 2004 zurückgewiesen wird.
Soweit der angefochtene Bescheid über den Zeitraum ab 1. Jänner 2005 abspricht, wird er aufgehoben.
Entscheidungsgründe
Bei vorliegendem Berufungsfall handelt es sich um das fortgesetzte Verfahren nach Aufhebung der Entscheidung des UFS 28.9.2006, RV/1294-W/06, durch VwGH 21.9.2009, 2009/16/0090.
Der Gerichtshof begründete sein Erkenntnis wie folgt:
"Im Beschwerdefall ist ausschließlich strittig, ob der Beschwerdeführer iSd § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967 infolge einer vor Vollendung seines 21. Lebensjahres eingetretenen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Nach § 8 Abs. 6 leg. cit. in der - von der belangten Behörde bereits anzuwendenden - Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 105/2002 ist der Grad der Behinderung oder die voraussichtliche dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, durch eine Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen auf Grund eines ärztlichen Sachverständigengutachtens nachzuweisen.
Das nach dieser Bestimmung abzuführende qualifizierte Nachweisverfahren durch ein ärztliches Gutachten (vgl. dazu das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10. Dezember 2007, B 700/07 , und die hg. Erkenntnisse vom 27. April 2005, Zl. 2003/14/0105, und vom 20. Dezember 2006, Zl. 2003/13/0123) hat sich darauf zu erstrecken, ob der Beschwerdeführer wegen einer vor Vollendung seines 21. Lebensjahres (oder - für den Beschwerdefall offenbar nicht relevant - während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres) eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 18. November 2008, Zl. 2007/15/0019).
Dem ergänzten Gutachten vom 15. November 2005 ist zu entnehmen, dass die Behinderung des Beschwerdeführers "seit Kindesalter" bestehe und dieser voraussichtlich (auch weiterhin) dauernd außer Stande sein werde, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen.
Die belangte Behörde hat dennoch den Anspruch auf die (erhöhte) Familienbeihilfe verneint und sich dabei auf die vom Beschwerdeführer erworbenen Versicherungszeiten als Beschäftigter in der elterlichen Fleischhauerei und das Alter des Beschwerdeführers bei der erstmaligen Antragstellung gestützt und ist dem ergänzten Gutachten deshalb nicht gefolgt.
Diesen von der belangten Behörde ins Treffen geführten Umständen kommt aber nach dem klaren Wortlaut des § 8 Abs. 6 in der angeführten Fassung des FLAG 1967 keine Bedeutung zu. Die hg. Rechtsprechung, wonach eine mehrjährige berufliche Tätigkeit des Kindes die für den Anspruch auf Familienbeihilfe notwendige Annahme, das Kind sei infolge seiner Behinderung nicht in der Lage gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, widerlege, hat im Rahmen der durch das Bundesgesetz, BGBl. I Nr. 105/2002, geschaffenen Rechtslage keinen Anwendungsbereich mehr (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. November 2008, Zl. 2007/15/0019).
Eine in § 8 Abs. 6 FLAG geforderte Bescheinigung des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen ist in den vorgelegten Verwaltungsakten nicht enthalten. Dem angefochtenen Bescheid ist auch keine Feststellung zu entnehmen, wonach eine solche Bescheinigung der belangten Behörde zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung vorgelegen wäre. Schon deshalb erweist sich der angefochtene Bescheid als rechtswidrig.
Dass die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe im Beschwerdefall nicht erfüllt wären, etwa im Hinblick auf den eigenen Pensionsanspruch von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen wäre, hat die belangte Behörde nicht in einer den Bescheid tragenden Weise festgestellt.
Der angefochtene Bescheid ist demnach mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet und war gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben."
Über die Berufung wurde erwogen:
1. Zeitraum von 1. Juni 2000 bis 31. Dezember 2004
Der unabhängige Finanzsenat hat bereits in seiner aufgehobenen Entscheidung vom 28.9.2006, RV/1294-W/06, darauf hingewiesen, dass einem Abspruch über obigen Zeitraum das Hindernis der entschiedenen Sache entgegensteht. Der angefochtene Bescheid war daher insoweit abzuändern, als der Antrag auf Familienbeihilfe nebst Erhöhungsbetrag für diesen Zeitraum zurückgewiesen wird.
2. Zeitraum ab 1. Jänner 2005
Der angefochtene Bescheid des Finanzamtes ist am 31. August 2005 ergangen. Im Rahmen dieses Berufungsverfahrens kann daher nur darüber abgesprochen werden, ob Familienbeihilfe nebst Erhöhungsbetrag für Jänner bis August 2005 zusteht.
Zunächst sei festgehalten, dass die vom VwGH vermisste Bescheinigung nach § 8 Abs. 6 FLAG 1967 in Form der mehrmaligen Begutachtung des Bw. und der Bestätigung durch die leitende Ärztin vorliegt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem obigen Erkenntnis ausdrücklich auf den klaren Wortlaut des § 8 Abs. 6 FLAG 1967 in der Fassung BGBl. I Nr. 105/2002 verwiesen. Die bisherige Judikatur, wonach eine mehrjährige berufliche Tätigkeit des Kindes die für den Anspruch auf Familienbeihilfe notwendige Annahme, das Kind sei infolge seiner Behinderung nicht in der Lage gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, widerlege, habe im Rahmen der durch das BGBl. I Nr. 105/2002 geschaffenen neuen Rechtslage (ab 1. Jänner 2003) keinen Anwendungsbereich.
Der Gerichtshof (sh. auch VwGH 18.11.2008, 2007/15/0019; 18.12.2008, 2007/15/0151) bezieht sich dabei offensichtlich auf das Erkenntnis des VfGH 10.12.2007, B 700/07, in dem der VfGH ausführt, dass sich aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 8 Abs. 6 FLAG 1967 ergebe, dass der Gesetzgeber nicht nur die Frage des Grades der Behinderung, sondern (bereits seit 1994) auch die (damit ja in der Regel unmittelbar zusammenhängende) Frage der voraussichtlich dauernden Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, der eigenständigen Beurteilung der Familienbeihilfenbehörden entzogen und dafür ein qualifiziertes Nachweisverfahren eingeführt habe, bei dem eine für diese Aufgabenstellung besonders geeignete Institution eingeschaltet werde und der ärztliche Sachverstand die ausschlaggebende Rolle spiele. Dem dürfte die Überlegung zugrunde liegen, dass die Frage, ob eine behinderte Person voraussichtlich dauernd außerstande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, nicht schematisch an Hand eines in einem bestimmten Zeitraum erzielten Einkommens, sondern nur unter Berücksichtigung von Art und Grad der Behinderung bzw. der medizinischen Gesamtsituation der betroffenen Person beurteilt werden könne. Damit könne auch berücksichtigt werden, dass gerade von behinderten Personen immer wieder - oft mehrmals - Versuche unternommen werden, sich in das Erwerbsleben einzugliedern, bei denen jedoch die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass sie aus medizinischen Gründen auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt sein würden. Der Gesetzgeber habe daher mit gutem Grund die Beurteilung der Selbsterhaltungsfähigkeit jener Institution übertragen, die auch zur Beurteilung des Behinderungsgrades berufen sei. Die Beihilfenbehörden hätten bei ihrer Entscheidung jedenfalls von dieser durch ärztliche Gutachten untermauerten Bescheinigung auszugehen und könnten von ihr nur nach entsprechend qualifizierter Auseinandersetzung abgehen.
Der VwGH hat sich somit der Rechtsansicht des VfGH angeschlossen; daraus folgt, dass auch der unabhängige Finanzsenat für seine Entscheidungsfindung ausschließlich die so erstellten ärztlichen Sachverständigengutachten heranzuziehen hat, sofern diese als schlüssig anzusehen sind. Es ist also im Rahmen dieses Berufungsverfahrens zu überprüfen, ob die Sachverständigengutachten diesem Kriterium entsprechen.
Der der Berufung beigelegte Bescheid der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft vom 3. Mai 2005, mit dem die Waisenpension ab 1. August 2004 zuerkannt wurde, lautet wie folgt:
"Die Kindeseigenschaft besteht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Wenn das Kind jedoch seit Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf einer darüber hinaus andauernden Schul- oder Berufsausbildung infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist, besteht Kindeseigenschaft für die Dauer dieser Erwerbsunfähigkeit auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres weiter ( § 128 GSVG )."
Den Ausführungen der leitenden Ärztin im ergänzten Gutachten vom 15. November 2005, es sei anzunehmen, dass die Behinderung des Bw. "seit Kindesalter" bestehe und dieser voraussichtlich (auch weiterhin) dauernd außer Stande sein werde, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, ist die erforderliche Schlüssigkeit nicht abzusprechen. Die leitende Ärztin stützt sich dabei nämlich auf den aktenkundigen Bezug von Waisenpension durch den Bw., wobei hinzuzufügen ist, dass die Beschäftigungszeiten im elterlichen Betrieb zurückgelegt wurden.
Der VwGH hat allerdings im aufhebenden Erkenntnis ausgeführt, es sei zu überprüfen, ob etwa im Hinblick auf den eigenen Pensionsanspruch von einer Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen wäre. Diese Aussage ist jedoch nunmehr durch die geänderte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 27.1.2010, 2009/16/0087) überholt. Diesem Erkenntnis ist Folgendes zu entnehmen:
"Nach dieser im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung des § 6 Abs. 5 FLAG haben somit Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden, unter denselben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat (Abs. 1 bis 3).
Der Wortlaut dieser Fassung des § 6 Abs. 5 FLAG legt bereits nahe, dass es ausschließlich auf das tatsächliche (überwiegende) Leisten oder Nichtleisten von Unterhalt durch die Eltern ankommen soll und zwar nunmehr unabhängig davon, ob diese eine Unterhaltspflicht trifft oder ob die allfällige Leistung eines Unterhalts freiwillig, d. h. ohne rechtliche Verpflichtung, erfolgt.
Eine andere Deutung dieser Bestimmung würde zu dem gleichheitswidrigen Ergebnis führen, dass beispielsweise einer Person, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausübung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außer Stande ist, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und die sich in keiner Anstaltspflege befindet (vgl. § 6 Abs. 2 lit. d FLAG), kein Eigenanspruch auf Familienbeihilfe zustünde, wenn sie ein zu versteuerndes jährliches Einkommen hätte, das zwar die in § 6 Abs. 3 FLAG genannte Grenze nicht übersteigt, das aber dennoch eine Höhe erreicht, bei welcher wegen Selbsterhaltungsfähigkeit von keinem Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern ausgegangen werden kann, während bei derselben Sachlage derselben Person, wäre sie Vollwaise (§ 6 Abs. 4 FLAG), ein solcher Eigenanspruch zustünde.
Ist eine verfassungskonforme Auslegung möglich, dann ist diese vorzunehmen, selbst dann, wenn in den Materialien entgegenstehende Aussagen enthalten sind (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Juni 2008, Zl. 2006/11/0222, welches auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19. Juni 1998, VfSlg. 15.199, verweist).
Daraus folgt für den Beschwerdefall, dass der Auslegung, wonach es bei der Anwendung des § 6 Abs. 5 FLAG auf das Bestehen einer Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber dem Kind nicht ankommt, der Vorzug zu geben ist."
Im Erkenntnis VwGH 24.6.2010, 2009/16/0130, hat der Gerichtshof die Rechtsansicht, wonach es auf die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht ankommt, auch auf Vollwaisen angewandt. Zu überprüfen sei ausschließlich, ob die Einkommensgrenzen des § 6 Abs. 3 FLAG 1967 überschritten sind.
In Judikatur und Literatur ist strittig, ob die Ausgleichszulage als steuerpflichtig anzusehen und somit bei Berechnung der Einkommensgrenze zu berücksichtigen ist (die Steuerpflicht bejahend zB Fuchs in Hofstätter/Reichel, § 3 Tz 6.3). Im Streitfall kann jedoch diese Frage auf sich beruhen. Da - wie oben erwähnt - nur über die Monate Jänner bis August 2005 abgesprochen werden kann, ist zu ermitteln, ob die für 2005 geltende Einkommensgrenze von 8.725 € überschritten ist. Dies ist nicht der Fall; selbst unter Einbeziehung der Ausgleichszulage haben die Einkünfte des Bw. in diesem Jahr nämlich nur 8.318,54 € betragen.
Soweit der angefochtene Bescheid des Finanzamtes also über den Zeitraum ab 1. Jänner 2005 abspricht, war der Berufung Folge zu geben und der Bescheid aufzuheben.
Wien, am 29. Juli 2010
Zusatzinformationen | |
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Materie: | Steuer, Finanzstrafrecht Verfahrensrecht |
betroffene Normen: | § 6 Abs. 2 lit. d FLAG 1967, Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376/1967 |
Verweise: | VwGH 21.09.2009, 2009/16/0090 |