Normen
ARB1/80 Art6 Abs1
AuslBG §17
AuslBG §4c Abs1
NAG 2005 §41a
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RO2017220009.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Begründung
1. Die Mitbeteiligte, eine türkische Staatsangehörige, verfügte über eine zuletzt bis zum 29. Oktober 2016 verlängerte Aufenthaltsbewilligung "Studierende" gemäß § 64 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG, in der fallbezogen maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 70/2015). Am 2. September 2016 stellte sie einen Verlängerungsantrag, verbunden mit einem Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a NAG. Sie bezog sich in Ansehung des Zweckänderungsantrags (im Ergebnis) auf Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80).
2.1. Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde wies den (hier gegenständlichen) Zweckänderungsantrag mit Bescheid vom 13. Jänner 2017 ab. Das NAG sehe keine Zweckänderung von einer Aufenthaltsbewilligung "Studierende" auf einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" vor. Eine solche sei zur Wahrung der Rechte aus dem ARB 1/80 auch nicht erforderlich, könne die Mitbeteiligte doch ihre Erwerbstätigkeit weiterhin neben dem Studium im Rahmen ihrer Aufenthaltsbewilligung "Studierende" uneingeschränkt ausüben.
2.2. Der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis Folge und erteilte den beantragten Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" für die Dauer von zwölf Monaten. Die Mitbeteiligte sei eine dem regulären Arbeitsmarkt angehörende Arbeitnehmerin, die durchgehend seit dem 7. April 2015 beim selben Arbeitgeber auf Grund entsprechender Beschäftigungsbewilligungen ordnungsgemäß beschäftigt sei und daher die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erfülle. Mit den im Bereich der Beschäftigung verliehenen Rechten gehe ein Aufenthaltsrecht einher, das ex lege bestehe. Der Mitbeteiligten sei daher ein entsprechender Aufenthaltstitel zu erteilen, der ihr die Möglichkeit verschaffe, ihre Beschäftigung ohne Einschränkungen auszuüben; die Aufenthaltsbewilligung "Studierende" könne dem im Hinblick auf den notwendigen Nachweis eines fortwährenden Studienerfolgs nicht genügen. Einen gesonderten Aufenthaltstitel für türkische Staatsangehörige, die Ansprüche aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 ableiten könnten, kenne das NAG nicht. Mangels einer innerstaatlichen Regelung betreffend eine für diese Fälle auszustellende Dokumentation sei daher jener nationale Aufenthaltstitel zu erteilen, der den türkischen Staatsangehörigen bestmöglich in die Lage versetze, von seinen aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ableitbaren Rechten Gebrauch zu machen. Das Verwaltungsgericht verkenne nicht, dass die Mitbeteiligte nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 noch keinen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt erworben habe, allerdings komme entsprechend dem beantragten Aufenthaltszweck kein anderer Aufenthaltstitel als eine "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" in Betracht.
Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision zulässig sei. Es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, welcher Aufenthaltstitel nach dem NAG einem türkischen Staatsangehörigen, der Ansprüche nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erworben habe und beabsichtige, weiter einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, zu erteilen sei.
3.1. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die ordentliche Revision, in der zusammengefasst im Wesentlichen ausgeführt wird, die Mitbeteiligte erfülle die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80, sodass ihr ein unmittelbar aus dem ARB 1/80 ableitbares Aufenthaltsrecht zukomme, ein gesondertes Recht auf Erteilung eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem NAG stehe ihr indessen nicht zu. Die Ausübung der gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 zustehenden Rechte könne unter Beibehaltung des ursprünglichen Aufenthaltszwecks durch Verlängerung des Aufenthaltstitels "Studierende" gewahrt werden, wobei zum Teil die Erteilungsvoraussetzungen unangewendet zu bleiben hätten. Indes könne ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" nicht erteilt werden, weil dieser das Recht auf unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt umfasse, wohingegen Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 nur ein Recht auf Verlängerung der Arbeitserlaubnis bei demselben Arbeitgeber beinhalte.
3.2. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag auf Zurück- bzw. Abweisung der Revision.
4. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
5.1. Die gegenständliche Rechtssache gleicht in Ansehung sowohl des relevanten Sachverhalts als auch der maßgeblichen Rechtsfragen jenem Fall, über den der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 9. August 2018, Ro 2017/22/0015, entschieden hat. Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird auf die eingehenden Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.
5.2. Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall zusammengefasst, dass der Mitbeteiligten die ihr aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 zukommenden individuellen Rechte unmittelbar und unabhängig davon zustehen, ob die Behörden eine Aufenthaltsbewilligung ausstellen. Dem Interesse an einer Bescheinigung der aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Berechtigung wird durch die Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung (§ 4c Abs. 1 AuslBG), auf deren Ausstellung ein türkischer Arbeitnehmer bei Erfüllen der Voraussetzungen des ersten Spiegelstrichs des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 einen Rechtsanspruch hat, Rechnung getragen (vgl. etwa VwGH 3.9.2018, Ro 2017/22/0012).
Indessen würden die Rechte aus dem beantragten Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" über die Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 hinausgehen (vgl. § 17 AuslBG). Folglich hat die Mitbeteiligte keinen Anspruch auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels, mit dem ein unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt verbunden ist, der aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 nicht abgeleitet werden kann (vgl. etwa VwGH 13.12.2018, Ro 2018/22/0009; 13.12.2018, Ro 2018/22/0004).
6. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben
Wien, am 29. Jänner 2020
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