VwGH Ra 2021/14/0096

VwGHRa 2021/14/009621.6.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie die Hofrätinnen Mag. Schindler und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, in den Revisionssachen 1. der A B, 2. des C D, 3. des E F, 4. des G H, und 5. der I J, alle vertreten durch Dr. Manfred Fuchsbichler, Rechtsanwalt in 4600 Wels, Traunaustraße 23/8/5, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts je vom 11. September 2020, 1. W232 2191448‑1/14E, 2. W232 2191437‑1/15E, 3. W232 2191445‑1/15E, 4. W232 2191433‑1/17E und 5. W232 2191440‑1/9E, jeweils betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140096.L00

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der Zweit- bis Fünftrevisionswerber. Sie alle sind Staatsangehörige der Ukraine und Angehörige der Volksgruppe der Jesiden und stellten gemeinsam mit dem Gatten bzw. Vater am 13. Oktober 2015 Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachten sie vor, in der Ukraine herrschten Kämpfe zwischen der russischen und der ukrainischen Armee, wodurch die Familie nicht mehr sicher gewesen sei. Die ukrainische Armee habe sie aufgefordert, den Herkunftsort zu verlassen.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies sämtliche Anträge mit Bescheiden vom 1. März 2018 ab, erteilte den Revisionswerbern ‑ ebenso wie deren Gatten bzw. Vater ‑ keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie jeweils eine Rückkehrentscheidung und stellte jeweils fest, dass ihre Abschiebung in die Ukraine zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit den angefochtenen Erkenntnissen als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 Die Revisionswerber erhoben gegen die Erkenntnisse Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 18. Jänner 2021, E 1‑5/2021‑5, die Behandlung derselben ablehnte und sie aufgrund der nachträglichen Anträge mit Beschluss vom 10. Februar 2021, E 1‑5/2021‑7, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurden die vorliegenden außerordentlichen Revisionen eingebracht.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Die Revisionswerber machen zur Zulässigkeit ihrer Revisionen geltend, das BVwG habe sich nicht ausreichend mit der aktuellen Lage der Jesiden in der Ukraine auseinandergesetzt, keine aktuellen Länderberichte verwendet sowie die in diesem Zusammenhang beantragte Anfrage an die Staatendokumentation nicht eingeholt. Sie wenden sich weiters gegen die Anwendung der Herkunftsstaaten-Verordnung, wonach die Ukraine ein sicherer Herkunftsstaat sei und verweisen dazu auf Berichte zur Situation in den umkämpften Ostgebieten der Ukraine. Zudem habe sich das BVwG im Rahmen seiner Beweiswürdigung unreflektiert auf Widersprüche zwischen den Angaben in der niederschriftlichen Einvernahme und den Angaben in der Erstbefragung gestützt. Im Zusammenhang mit den Rückkehrentscheidungen habe das BVwG eine mangelhafte Interessenabwägung vorgenommen und die Interessen der minderjährigen Fünftrevisionswerberin unzureichend einbezogen.

9 Wenn die Revisionen die Einbeziehung von Widersprüchen zwischen der Erstbefragung und Einvernahme rügen, ist darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof zwar wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben hat, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat. Gleichwohl ist es aber nicht generell unzulässig, sich auf eine Steigerung des Fluchtvorbringens zwischen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. VwGH 14.4.2021, Ra 2021/14/0051, mwN). Das BVwG hat den Revisionswerbern in nachvollziehbarer Weise die Glaubhaftigkeit des Fluchtvorbringens abgesprochen und sich dabei tragend auf die Widersprüche zwischen der Einvernahme vor dem BFA und dem BVwG und sowie zwischen den den Angaben der Revisionswerber untereinander gestützt.

10 Werden Verfahrensmängel ‑ wie hier Feststellungs- und Ermittlungsmängel ‑ als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 25.3.2021, Ra 2021/20/0062 bis 0064, mwN). Diesen Anforderungen werden die Revisionen nicht gerecht.

11 Das BVwG kam ausgehend von den getroffenen Feststellungen zur Situation in der Ukraine zur Auffassung, dass den Revisionswerbern durch die bloße Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Jesiden in ihrem Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung drohe (siehe dazu etwa VwGH 30.11.2020, Ra 2020/19/0342). Eine staatliche oder staatlich geduldete generelle (Gruppen‑)Verfolgung von Angehörigen der Volksgruppe der Jesiden sei nicht erkennbar. Dem vermögen die Revisionen nicht substantiiert entgegen zu treten.

12 Soweit sich die Revisionen in diesem Zusammenhang darauf stützen, das BVwG habe veraltete Berichte herangezogen und hätte die beantragte Anfrage an die Staatendokumentation einholen müssen, machen die Revisionswerber bloß allgemein gehalten Verfahrensmängel geltend, ohne deren Relevanz darzutun. Zudem zog das BVwG das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 6. Juli 2020 und damit das im Entscheidungszeitpunkt aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation heran. Die Revisionswerber legen ebenfalls nicht dar, welche über die vom BVwG getroffenen Feststellungen hinausgehenden oder davon abweichenden Sachverhaltselemente von der beantragten Anfrage an die Staatendokumentation konkret zu erwarten und warum diese geeignet gewesen wären, zu einem für die Revisionswerber günstigeren Ergebnis kommen zu können.

13 Das BVwG hat ungeachtet der mit der Festlegung der Ukraine als sichererem Herkunftsstaat verbundenen gesetzlichen Vermutung (vgl. dazu etwa VwGH 25.6.2020, Ra 2019/18/0441, mwN) die Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit ‑ jedenfalls außerhalb der von den Separatisten besetzten Teile der Ostukraine ‑ angenommen und dargetan, dass die Revisionswerber fallbezogen keine spezifischen Umstände aufgezeigt hätten, die dazu führen können, dass die nach Art. 2 und 3 EMRKgeschützten Rechte im Fall ihrer Rückführung in ‑ nach dem AsylG 2005 ‑ maßgeblicher Weise verletzt würden.

14 Soweit sich die Revisionswerber gegen die Rückkehrentscheidungen wenden, ist darauf hinzuweisen, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist (vgl. für viele VwGH 18.3.2019, Ra 2019/01/0068, mwN).

15 Es entspricht weiters der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass bei der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) vorzunehmenden Abwägung auch das Kindeswohl der minderjährigen revisionswerbenden Parteien in Betracht zu ziehen ist. Dabei sind insbesondere das Maß an Schwierigkeiten, denen die Kinder im Heimatstaat begegnen, sowie die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen sowohl zum Aufenthaltsstaat als auch zum Heimatstaat zu berücksichtigen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Fragen zu, wo die Kinder geboren wurden, in welchem Land und im welchem kulturellen und sprachlichen Umfeld sie gelebt haben, wo sie ihre Schulbildung absolviert haben, ob sie die Sprache des Heimatstaats sprechen, und insbesondere, ob sie sich in einem anpassungsfähigem Alter befinden (vgl. etwa VwGH 5.5.2021, Ra 2021/18/0050 bis 0053, mwN).

16 Das BVwG hat im Rahmen der Interessensabwägung unter anderem den fünfjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet, die rudimentären Deutschkenntnisse der Erstrevisionswerberin sowie die Sprachkenntnisse der übrigen Revisionswerber auf A1‑Niveau, den Umstand, dass Familienangehörige noch in der Ukraine leben, die fehlende Selbsterhaltungsfähigkeit sowie die fehlenden besonderen privaten, familiären oder beruflichen Bindungen der Revisionswerber im Bundesgebiet und die Vorstrafe des Drittrevisionswerbers berücksichtigt. Betreffend die minderjährige Fünftrevisionswerberin erwog es, dass sich diese in einem anpassungsfähigen Alter befinde, sie die ersten Jahre ihres Lebens in der Ukraine verbracht habe und aufgrund des Lebens im Familienverband davon auszugehen sei, dass sie mit den kulturellen Gegebenheiten der Ukraine und der Muttersprache vertraut sei. Sie kehre im Familienverband zurück, wodurch eine neuerliche Eingliederung in den Herkunftsstaat erleichtert werde.

17 In den Revisionen wird nicht dargetan, dass die vom BVwG nach § 9 BFA‑VG durchgeführte Interessenabwägung ‑ auch unter dem Aspekt der Berücksichtigung des Kindeswohls ‑ mit einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit belastet wäre.

18 In den Revisionen werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revisionen waren daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 21. Juni 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte