VwGH Ra 2016/19/0036

VwGHRa 2016/19/003625.5.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Mag. Stickler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Tanzer, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 169, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Jänner 2016, W115 1424709-1/16E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005 (mitbeteiligte Partei: R alias R B in W, vertreten durch Dr. Alfred Steffek, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §8 Abs1;
MRK Art3;
AsylG 2005 §8 Abs1;
MRK Art3;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A. I., A. II. sowie A. III. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 22. Oktober 2011 nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) wies den Antrag mit Bescheid vom 27. Jänner 2012 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005)) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab und die mitbeteiligte Partei gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nach Afghanistan aus.

2 Hinsichtlich der Versagung von subsidiärem Schutz führte die Verwaltungsbehörde aus, dass der Mitbeteiligte gesund, erwachsen und arbeitsfähig sei und in Afghanistan über ein soziales Netz verfüge. Ihm sei jedenfalls zumutbar, im Falle der Rückkehr in den Familienverband in Kabul selbst für sein Auskommen zu sorgen. Die Behörde gehe davon aus, dass im Herkunftsstaat keine Gefahr drohe, die eine Zuerkennung des subsidiären Schutzes rechtfertigte. In der rechtlichen Beurteilung wurde weiter ausgeführt, die Verwaltungsbehörde verkenne keineswegs, dass die Sicherheitslage in manchen Provinzen in Afghanistan mitunter prekär sei, dies gelte aber nicht für ganz Afghanistan. Aus den Feststellungen zur Lage in Kabul ergebe sich, dass der Mitbeteiligte in der Lage sei, wenn auch unter Schwierigkeiten, für sein Auslangen zu sorgen. Abgesehen von den dort gegebenen Hilfestellungen wie Wohnungen für Rückkehrer, bestehe auch die Möglichkeit, sich im Bedarfsfall in Moscheen mit Nahrung zu versorgen. Der Mitbeteiligte verfüge über familiäre Kontakte und habe vor seiner Ausreise in Kabul gelebt. Unter Berücksichtigung der individuellen Ressourcen des Mitbeteiligten, des sozialen Netzwerks, aber insbesondere auch unter Berücksichtigung der in Kabul existierenden Hilfseinrichtungen sei in einer Gesamtschau davon auszugehen, dass dem Mitbeteiligen kein reales Risiko drohe, im Fall der Rückkehr in eine ausweglose Situation zu geraten.

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an den Asylgerichtshof. Das Beschwerdeverfahren wurde ab 1. Jänner 2014 vom Bundesverwaltungsgericht weitergeführt. Aus dem angefochtenen Erkenntnis ergibt sich, dass der Mitbeteiligte in der mündlichen Verhandlung am 22. Dezember 2015 seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 27. Jänner 2012 hinsichtlich der Versagung des Status eines Asylberechtigten zurückgezogen hat. Im Übrigen wurde die Beschwerde aufrechterhalten.

4 Mit dem im angefochtenen Erkenntnis enthaltenen Beschluss stellte das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren über die Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 28 Abs. 1 iVm. § 31 Abs. 1 VwGVG ein. Es erkannte dem Mitbeteiligten den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zu (Spruchpunkt I). Weiters erteilte es dem Mitbeteiligten eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigtem (Spruchpunkt II) und behob die von der Behörde ausgesprochene Ausweisung nach Afghanistan (Spruchpunkt III).

5 Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

6 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Mitbeteiligte habe bis zu seiner im Jahr 2011 erfolgten Ausreise in Kabul gelebt. Der Vater sei bereits verstorben. Wo sich die Mutter und Geschwister sowie weitere Verwandte des Mitbeteiligten aufhalten, könne nicht festgestellt werden. Es bestehe seit mehreren Jahren kein Kontakt mehr zu den Familienmitgliedern. Der Mitbeteiligte verfüge über keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung. Dass ein berufliches oder familiäres Netz in Kabul zur Verfügung stehe, könne nicht festgestellt werden. Im Falle seiner Verbringung in den Herkunftsstaat drohe dem Mitbeteiligten aufgrund seiner individuellen Situation im Zusammenhang mit der Sicherheits- und Versorgungslage in seiner Herkunftsregion ein reales Risiko einer Verletzung des Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung. In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Sicherheitslage in Kabul sei zwar im Landesvergleich relativ sicher, allerdings sei den zugrunde gelegten Länderfeststellungen zu entnehmen, dass es vor allen in den Jahren 2014 und 2015 zu zahlreichen sicherheitsrelevanten Vorfällen gekommen sei und eine positive Zukunftsprognose im Sinne einer Verbesserung der Sicherheitslage nach den derzeit vorhandenen Quellen nicht in Sicht sei. Die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung, sei häufig nur sehr eingeschränkt möglich, die soziale Absicherung liege traditionell in Familien und Stammesverbänden. Bei dem Mitbeteiligten handle es sich zwar um einen arbeitsfähigen und gesunden Mann, er habe Afghanistan aber bereits in jungen Jahren verlassen und verfüge über keine abgeschlossene Schulausbildung. Er habe keinen Beruf erlernt und in Afghanistan noch nie gearbeitet. Es sei daher mehr als fraglich, ob er nach seiner langen Abwesenheit als quasi Fremder aus dem Westen eine Beschäftigung finden und ein ausreichendes Einkommen erzielen könne. Darüber hinaus verfüge der Mitbeteiligte über keine ausreichenden familiären Kontakte in Afghanistan. Es sei nicht davon auszugehen, dass sich der Mitbeteiligte eigenständig versorgen und eine neue Existenz aufbauen könne. Die Versorgung mit Wohnraum und Nahrungsmitteln stelle sich insbesondere für alleinstehende Rückkehrer ohne hinreichenden familiären Rückhalt meist nur unzureichend dar. Angesichts der derzeitigen politischen Lage in Afghanistan sei zudem ausreichende staatliche Unterstützung sehr unwahrscheinlich. Es könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte im Falle der Rückkehr einer realen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre, welche unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und der derzeit in Afghanistan vorherrschenden Sicherheits- und Versorgungslage mit hoher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde.

7 Gegen diese Entscheidung erhob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Amtsrevision, welche sich ausdrücklich gegen die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten und einer befristeten Aufenthaltsberechtigung sowie gegen die Behebung der Ausweisung nach Afghanistan richtet.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Amtsrevision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht sowie nach Einleitung des Vorverfahrens und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen:

9 In der Amtsrevision wird - soweit relevant - in der Begründung der Zulässigkeit geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Es habe eine fehlerhafte Gefährdungsprognose nach Art. 3 EMRK durchgeführt, indem es anhand der getroffenen Feststellungen zu den individuellen Verhältnissen des Mitbeteiligten sowie zur Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan bloß die Möglichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK aufzeige, nicht aber, dass für den Mitbeteiligten im Falle der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage im Sinn des Art. 3 EMRK iVm. § 8 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 gegeben wäre. Dadurch verfehle es den für die Beurteilung einer realen Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK maßgeblichen Wahrscheinlichkeits- und Prognosemaßstab.

10 Außerdem verletzte das Bundesverwaltungsgericht Verfahrensvorschriften, weil es seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen sei. Aus den Feststellungen ergebe sich, dass die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Afghanistan zwar mit Schwierigkeiten und praktischen Hürden verbunden, sehr wohl aber grundsätzlich gesichert sei. Aus den Feststellungen ergebe sich auch, dass alleinstehende Männer wie der Mitbeteiligte in der Lage seien, ohne Unterstützung der Familie in städtischen Gegenden mit entwickelter Infrastruktur und unter effektiver Kontrolle der Regierung zu leben. Die Ermittlungsergebnisse der Verwaltungsbehörde sowie Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis, welche für das Bestehen alternativer sozialer Anknüpfungspunkte, etwa bei ehemaligen (Schul‑) Kollegen oder im Rahmen der Gemeinschaftsstrukturen der afghanischen Gesellschaft, sowie auch für die Möglichkeit einer Wiederherstellung des verlorengegangenen Kontaktes zu den Angehörigen sprechen würden, habe das Bundesverwaltungsgericht missachtet.

11 Mit der Frage, ob es dem Mitbeteiligten als Alternative zu einer Unterkunft möglich wäre, auf komplementäre Auffangmöglichkeiten etwa in Lagern zurückzugreifen, habe sich das Bundesverwaltungsgericht nicht auseinandergesetzt. Diese Begründungsmängel seien relevant, weil nicht auszuschließen sei, dass das Bundesverwaltungsgericht andernfalls zu einem anderen Erkenntnis gelangt wäre, weil es von einer bloßen Wahrscheinlichkeit, nicht aber einer extremen Gefahrenlage im Sinn des Art. 3 EMKR hätte ausgehen müssen.

12 Die Amtsrevision ist zulässig, sie ist auch berechtigt.

§ 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 lautet:

"Status des subsidiär Schutzberechtigten"

§ 8. (1) Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden zuzuerkennen,

1. der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird oder

2. dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde."

13 Bei Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiären Schutz ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. die hg. Beschlüsse vom 23. September 2014, Ra 2014/01/0060, und vom 24. März 2015, Ra 2014/19/0021, mwN). Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (vgl. das hg. Erkenntnis vom 6. November 2009, 2008/19/0174). Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. August 2001, 2000/01/0443).

14 Auf der Grundlage der vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zur Person der Mitbeteiligten und unter Einbeziehung der im angefochtenen Erkenntnis ebenfalls enthaltenen Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat teilt der Verwaltungsgerichtshof die Auffassung der Amtsrevision, dass die Schwelle des Art. 3 EMRK im vorliegenden Fall keinesfalls erreicht ist.

15 Das Bundesverwaltungsgericht orientiert sich in seinen Feststellungen zur Sicherheitslage in der afghanischen Hauptstadt Kabul und zur Situation von Rückkehrern an den Länderberichten, zu den in der Person des Mitbeteiligten liegenden Rückkehrhindernissen an dessen Angaben (unter Rz 6 im Wesentlichen wiedergegeben). Zusammenfassend geht das Bundesverwaltungsgericht in seiner Conclusio davon aus, dass nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden könne, dass der Mitbeteiligte einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.

16 Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Prüfung des Vorliegens einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 eine rechtliche Beurteilung darstellt, die auf Basis der getroffenen Feststellungen zu erfolgen hat.

17 Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinen Feststellungen zwar die Möglichkeit einer schwierigen Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat aufgezeigt, dies bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht. Die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit einer Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Rechtsgrundsätze wird damit aber nicht dargetan.

18 Im Ergebnis ist das Bundesverwaltungsgericht von der hg. Rechtsprechung abgewichen und war die Entscheidung daher - im Umfang der Anfechtung - wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 25. Mai 2016

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