VwGH 2012/21/0064

VwGH2012/21/006425.10.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 9. Februar 2012, Zl. VwSen-401066/24/Gf/Mu/Bu, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: Ch (auch K), vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6; weitere Partei:

Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §67a Z2;
B-VG Art11 Abs2;
B-VG Art129a Abs1 Z2;
FrPolG 2005 §82;
FrPolG 2005 §83;
SPG 1991 §88;
VwGG §42 Abs2 Z2;
AVG §67a Z2;
B-VG Art11 Abs2;
B-VG Art129a Abs1 Z2;
FrPolG 2005 §82;
FrPolG 2005 §83;
SPG 1991 §88;
VwGG §42 Abs2 Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, reiste (spätestens) am 16. September 2009 illegal von Polen kommend nach Österreich ein und beantragte hier die Gewährung von internationalem Schutz. Mit Bescheid vom 3. Februar 2010 wies das Bundesasylamt diesen Antrag gemäß § 5 AsylG 2005 zurück, stellte die Zuständigkeit Polens für die Prüfung des Antrages fest und wies den Mitbeteiligten nach Polen aus. Eine dagegen erhobene Beschwerde an den Asylgerichtshof blieb ohne Erfolg.

Die (für den 18. März 2010 am Luftweg) beabsichtigte Vollstreckung dieser Ausweisung konnte nicht durchgeführt werden, weil der Mitbeteiligte seine Betreuungsstelle am 10. März 2010 verlassen hatte und untergetaucht war. Nach eigener Aussage (vom 1. Juni 2010) war er am 24. Mai 2010 nach Polen ausgereist.

Am 31. Mai 2010 stellte der (jedenfalls damals wieder in Österreich aufhältige) Mitbeteiligte neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung am 1. Juni 2010 begründete er diesen damit, dass er in Polen von einem Landsmann als Beifahrer in dessen Auto mit einer Pistole bedroht worden sei, um auszusteigen. Danach sei er in einer Wohnung "geschlagen und mit einer Zigarette verletzt" worden.

Am 1. Juni 2010 teilte das Bundesasylamt der Fremdenpolizeibehörde mit, dass dem Mitbeteiligten gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005 (Stellung eines Folgeantrages nach zurückweisender Entscheidung) ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukomme.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 1. Juni 2010 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2a Z. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung.

Begründend bejahte sie nach Darstellung des bisherigen Verfahrens und der Rechtslage die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2a Z. 1 (zweiter Fall) FPG, wobei der Sicherungsbedarf nicht durch Anwendung gelinderer Mittel (etwa ein Wohnen bei seiner in Österreich aufhältigen Schwester) abgedeckt werden könne. Der Mitbeteiligte habe sich bereits einmal einer anberaumten Abschiebung durch Untertauchen und einen anschließenden, mehr als zweimonatigen illegalen Aufenthalt in der Anonymität entzogen. Es liege daher der Schluss nahe, dass er sich neuerlich durch Untertauchen dem behördlichen Zugriff zu entziehen versuche, zumal er nunmehr in Kenntnis darüber sei, dass ihm (gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005) kein faktischer Abschiebeschutz zukomme. Persönliche Umstände des Mitbeteiligten, insbesondere sein Alter und Gesundheitszustand, stünden einer Verhängung der Schubhaft nicht entgegen.

Dagegen erhob der - rechtsfreundlich vertretene - Mitbeteiligte am 8. Juni 2010 Schubhaftbeschwerde. Er brachte darin vor, nach der erwähnten Ausreise in Polen von seinen Verfolgern gefunden und vergewaltigt worden zu sein. Weiters sei er mit brennenden Zigaretten misshandelt worden und könne nach wie vor nicht schlafen. Er sei insgesamt traumatisiert und infolge seines Gesundheitszustandes nicht haftfähig. Es werde daher beantragt, ein fachärztliches Gutachten zur Frage der Haftfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen zu erstellen. Schließlich erscheine auch die Annahme, gelindere Mittel reichten nicht aus, rechtlich unrichtig, sodass sich die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft als rechtswidrig erweise.

Mit Bescheid vom 9. Juni 2010 wies die belangte Behörde diese Beschwerde gemäß § 83 FPG als unbegründet ab und stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen weiterhin vorlägen. In ihrer Begründung teilte die belangte Behörde im Wesentlichen die Ausführungen der Fremdenpolizeibehörde und vertrat den Mitbeteiligten betreffend - zusammengefasst - die Ansicht, "dass derzeit in seiner Person keine besonderen Umstände vorliegen, die der Anhaltung in Schubhaft entgegenstehen".

Mit hg. Erkenntnis vom 20. Oktober 2011, Zl. 2010/21/0503, dem die Einzelheiten dieses Verfahrens entnommen werden können, hob der Verwaltungsgerichtshof diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf und trug der belangten Behörde auf, die behauptete Haftunfähigkeit, deren Fehlen eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Anhaltung bilde, in einer mündlichen Verhandlung einer näheren Prüfung zu unterziehen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 9. Februar 2012 stellte die belangte Behörde gemäß § 67c Abs. 3 AVG "die Art und Weise der Anhaltung" des Mitbeteiligten in Schubhaft vom 1. bis zum 9. Juni 2010 als rechtswidrig fest und verhielt den Bund zum Kostenersatz.

In ihrer Begründung bejahte die belangte Behörde - nach mündlicher, am 18. Jänner 2012 durchgeführter Verhandlung - die Haftfähigkeit des (am 21. Juli 2010 nach Polen überstellten) Mitbeteiligten im gegenständlichen Zeitraum (also vom 1. bis zum 9. Juni 2010). Dabei bezog sie sich vor allem auf die Äußerungen von fünf den Mitbeteiligten damals untersuchenden Amtsärzten. Die Anhaltung in Schubhaft sei somit nicht rechtswidrig gewesen. Allerdings habe - so argumentierte die belangte Behörde weiter - die Vermutung des Vorliegens einer psychischen Erkrankung des Mitbeteiligten nicht schon von Anfang an mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, weil eine ordnungsgemäße Verständigung mit ihm ohne Dolmetscher damals nicht möglich gewesen sei. Ein solcher sei erst am 10. Juni 2010 beigezogen worden.

Wenn der Mitbeteiligte auch - über seine Haftunfähigkeit hinaus - keine anderen Gründe für die Rechtswidrigkeit seiner Anhaltung in Schubhaft vorgebracht habe, sei seine Beschwerde vom 8. Juni 2010 dennoch umfassend "auch gegen die Art und Weise der Anhaltung gerichtet" zu werten. Insoweit erweise sie sich im Ergebnis als berechtigt, weil sein Einwand, infolge Traumatisierung haftunfähig zu sein, nur ex post betrachtet richtig beurteilt worden sei. Dieses Ergebnis sei jedoch erst am zehnten Tag der Anhaltung - durch Beiziehung eines Dolmetschers - in einer berechtigte Zweifel ausschließenden Weise tatsächlich verifiziert worden. Die somit "gleichsam bloß auf Verdacht verfügte" Anordnung der Schubhaft widerspreche dem Grundsatz eines rechtsstaatlichen, dem Amtswegigkeitsprinzip verpflichteten umfassenden Ermittlungsverfahrens. "Die Art und Weise der Anhaltung" in Schubhaft vom 1. bis zum 9. Juni 2010 sei daher als rechtswidrig festzustellen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Amtsbeschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde und den Mitbeteiligten erwogen:

Die Bestimmungen der §§ 82 und 83 FPG, die als Sonderverfahrensrecht für die "Schubhaftbeschwerde" zu verstehen sind, finden ihre Rechtfertigung - vor dem Hintergrund des Art. 11 Abs. 2 B-VG auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht - darin, dass es sich bei der Beschwerde nach dem 9. Hauptstück des FPG um eine Haftbeschwerde handelt, die wesentlich im Sinn eines "habeascorpus-Verfahrens" auf die Prüfung der Zulässigkeit der Fortdauer der Haft gerichtet ist. Auch der Schubhaftbescheid selbst sowie eine bereits vollzogene Haft können Gegenstand der "Schubhaftbeschwerde" sein. Allerdings ist aus dem erwähnten Charakter dieser Beschwerde abzuleiten, dass sie - soweit es nicht um die strukturell anders zu betrachtende Bekämpfung des Schubhaftbescheides geht - nur die Haft als solche zum Thema haben soll und nicht auch deren Modalitäten. Soweit solche Umstände des Schubhaftvollzuges bzw. Vorkommnisse und Unterlassungen während des Schubhaftvollzugs (etwa das Unterbleiben einer ausreichenden medizinischen Versorgung) angefochten werden sollen, hätte dies mittels Beschwerde im Sinn des § 67a Z. 2 AVG bzw. § 88 SPG zu erfolgen (vgl. zum Ganzen etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 30. September 2002, B 423/01, = VfSlg. 16.638, sowie die hg. Erkenntnisse vom 29. Juli 1998, Zl. 97/01/0764, und vom 29. April 2010, Zl. 2008/21/0545, jeweils mwN).

Der Mitbeteiligte hat, abgesondert von der Bekämpfung der über ihn verhängten Schubhaft, keine weitere "Maßnahmenbeschwerde" (vgl. dazu etwa auch das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2006/21/0054) erhoben. Die belangte Behörde hätte daher über die Schubhaftbeschwerde (im Umfang der gesamten Haftdauer) abzusprechen und nicht über eine - tatsächlich nicht erhobene - "Maßnahmenbeschwerde" zu entscheiden gehabt. Ihren gegenteiligen Standpunkt stützende Argumente können der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, etwa dem von der belangten Behörde ins Treffen geführten Erkenntnis vom 20. Oktober 2011, Zl. 2008/21/0191, nicht entnommen werden.

Der angefochtene, nach dem Gesagten zu Unrecht "die Art und Weise der Anhaltung" des Mitbeteiligten in Schubhaft vom 1. bis zum 9. Juni 2010 als rechtswidrig feststellende Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.

Wien, am 25. Oktober 2012

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