VwGH 2010/21/0503

VwGH2010/21/050320.10.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des C, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 9. Juni 2010, Zl. VwSen-401066/4/Gf/Mu, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §5;
B-VG Art130 Abs2;
FrÄG 2009;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §76 Abs2a Z1 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1;
PersFrSchG 1988 Art1 ;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §5;
B-VG Art130 Abs2;
FrÄG 2009;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76 Abs2a idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §76 Abs2a Z1 idF 2009/I/122;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1;
PersFrSchG 1988 Art1 ;
PersFrSchG 1988 Art2 Abs1 Z7;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, reiste (spätestens) am 16. September 2009 illegal von Polen kommend nach Österreich ein und beantragte hier die Gewährung von internationalem Schutz. Mit Bescheid vom 3. Februar 2010 wies das Bundesasylamt diesen Antrag gemäß § 5 AsylG 2005 zurück, stellte die Zuständigkeit Polens für die Prüfung des Antrages fest und wies den Beschwerdeführer nach Polen aus. Eine dagegen erhobene Beschwerde an den Asylgerichtshof blieb ohne Erfolg.

Die (für den 18. März 2010 am Luftweg) beabsichtigte Vollstreckung dieser Ausweisung konnte nicht durchgeführt werden, weil der Beschwerdeführer seine Betreuungsstelle am 10. März 2010 verlassen hatte und untergetaucht war. Nach eigener Aussage (vom 1. Juni 2010) ist der Beschwerdeführer am 24. Mai 2010 nach Polen ausgereist.

Am 31. Mai 2010 stellte der (jedenfalls damals wieder in Österreich aufhältige) Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung am 1. Juni 2010 begründete er diesen damit, dass er in Polen von einem Landsmann als Beifahrer in dessen Auto mit einer Pistole bedroht worden sei, um auszusteigen. Danach sei er in einer Wohnung "geschlagen und mit einer Zigarette verletzt" worden.

Am 1. Juni 2010 teilte das Bundesasylamt der Fremdenpolizeibehörde mit, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005 (Stellung eines Folgeantrages nach zurückweisender Entscheidung) ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukomme.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 1. Juni 2010 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck über den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 2a Z. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung.

Begründend bejahte sie nach Darstellung des bisherigen Verfahrens und der Rechtslage die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2a Z. 1 FPG, wobei der Sicherungsbedarf nicht durch Anwendung gelinderer Mittel (etwa ein Wohnen bei seiner in Österreich aufhältigen Schwester) abgedeckt werden könne. Der Beschwerdeführer habe sich bereits einmal einer anberaumten Abschiebung durch Untertauchen und einen anschließenden, mehr als zweimonatigen illegalen Aufenthalt in der Anonymität entzogen. Es liege daher der Schluss nahe, dass er sich neuerlich durch Untertauchen dem behördlichen Zugriff zu entziehen versuche, zumal er nunmehr in Kenntnis darüber sei, dass ihm (gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005) kein faktischer Abschiebeschutz zukomme. Persönliche Umstände des Beschwerdeführers, insbesondere sein Alter und Gesundheitszustand, stünden einer Verhängung der Schubhaft nicht entgegen.

Dagegen erhob der - rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer am 8. Juni 2010 Schubhaftbeschwerde. Er brachte darin vor, nach der erwähnten Ausreise in Polen von seinen Verfolgern gefunden und vergewaltigt worden zu sein. Weiters sei er mit brennenden Zigaretten misshandelt worden und könne nach wie vor nicht schlafen. Er sei insgesamt traumatisiert und infolge seines Gesundheitszustandes nicht haftfähig. Es werde daher beantragt, ein fachärztliches Gutachten zur Frage der Haftfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen zu erstellen. Schließlich erscheine auch die Annahme des Fehlens eines Ausreichens gelinderer Mittel rechtlich unrichtig.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 9. Juni 2010 wies die belangte Behörde diese Beschwerde gemäß § 83 FPG als unbegründet ab und stellte fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen weiterhin vorlägen.

In ihrer Begründung teilte die belangte Behörde im Wesentlichen die Ausführungen der Fremdenpolizeibehörde. Der Beschwerdeführer habe nicht vorgebracht, dass sich zwischen der Ausreise nach Polen und seiner am 31. Mai 2010 erfolgten Wiedereinreise nach Österreich die Flucht- oder Verfolgungsgründe in entscheidender Weise geändert hätten. Gleiches gelte "hinsichtlich seiner Traumatisierung". Entsprechendes Vorbringen habe lediglich "seine Rechtsvertretung" über Vermittlung der in Österreich lebenden Schwester des Beschwerdeführers erstattet, "allerdings jeweils ohne diese jeweils unter Vorlage konkreter Beweismittel auch entsprechend belegen zu können". Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme am 1. Juni 2010 habe der Beschwerdeführer ausgesagt, keine Beschwerden oder Krankheiten zu haben. Entsprechende Wahrnehmungen habe auch die Rechtsvertreterin nicht selbst getätigt, sodass die beantragte Erstellung eines fachärztlichen Gutachtens über die Haftfähigkeit mangels konkreter objektiver Anhaltspunkte oder Belege "auf die Erstellung eines Erkundungsbeweises" hinausliefe. Vielmehr hätte der Beschwerdeführer selbst "entsprechend stichhaltige Belege für seine Haftuntauglichkeit beizubringen" gehabt. Da Derartiges jedoch nicht erfolgt sei, sei davon auszugehen, "dass derzeit in seiner Person keine besonderen Umstände vorliegen, die der Anhaltung in Schubhaft entgegenstehen". Die Beschwerde sei daher gemäß § 83 FPG abzuweisen. Gleichzeitig sei gemäß § 83 Abs. 4 FPG festzustellen, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen weiterhin vorlägen. Von der Durchführung einer Verhandlung habe abgesehen werden können, weil sich bereits aus dem vorgelegten Akt der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck der entscheidungswesentliche Sachverhalt habe klären lassen.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 9. Oktober 2010, B 832/10-5, ablehnte und sie mit weiterem Beschluss vom 3. Dezember 2010 dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

Über die im vorliegenden Verfahren ergänzte Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Zunächst wird zu dem bei Verhängung der Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2a Z. 1 FPG erforderlichen Sicherungsbedarf und zur Möglichkeit seiner Abdeckung durch Anwendung (bloß) gelinderer Mittel gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die grundlegenden Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 26. August 2010, Zl. 2010/21/0234, insbesondere Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, verwiesen.

Unabhängig davon, ob das oben wiedergegebene Vorbringen zur Begründung einer (bereits am 1. Juni 2010 bestehenden) Haftunfähigkeit vom Beschwerdeführer persönlich oder von seiner Rechtsvertreterin erstattet wurde, wäre es - als eine der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Anhaltung - einer näheren Prüfung zu unterziehen gewesen.

Von daher hätte die belangte Behörde auch nicht von einem aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen. Sie wäre daher verpflichtet gewesen, gemäß § 83 Abs. 2 Z. 1 FPG eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 29. September 2011, Zl. 2011/21/0099).

Indem sie dies unterlassen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit einem Verfahrensmangel belastet, bei dessen Vermeidung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 20. Oktober 2011

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