VwGH 2008/22/0468

VwGH2008/22/046818.10.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des A, vertreten durch Dr. Bernhard Brehm, Rechtsanwalt in 1120 Wien, Schönbrunner Schloßstraße 46/19, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 5. Dezember 2007, Zl. 147.770/3-III/4/07, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

61983CJ0293 Gravier VORAB;
ARB1/80 Art7;
ARB1/80 Art9;
NAG 2005 §21 Abs1;
61983CJ0293 Gravier VORAB;
ARB1/80 Art7;
ARB1/80 Art9;
NAG 2005 §21 Abs1;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 57,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen, angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom 30. November 2005 auf Erteilung einer nach dem Inkrafttreten des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) am 1. Jänner 2006 für den Aufenthaltszweck "Schüler" zu wertenden Aufenthaltsbewilligung gemäß § 21 Abs. 1 NAG ab.

Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei mit einem von der Österreichischen Botschaft Ankara ausgestellten Visum C, gültig vom 16. Juni bis 1. Juli 2003, nach Österreich eingereist und halte sich seither in Wien auf. Sowohl seine Mutter als auch seine drei Brüder hielten sich seit Jahren rechtmäßig in Österreich auf, seine Mutter sei im Besitz einer "Niederlassungsbewilligung - Angehöriger", ein Bruder sei bereits österreichischer Staatsbürger. Der Vater des Beschwerdeführers, der am 1. Oktober 1999 verstorben sei, habe über einen unbefristeten Aufenthaltstitel für Österreich verfügt.

Der Beschwerdeführer sei seit Juni 2003 in Österreich aufhältig und seit 20. Juni 2003 durchgehend hier gemeldet; aus dem Akt gehe eindeutig hervor, dass er sich seit Ablauf seines Visums am 1. Juli 2003 - somit sowohl zum Zeitpunkt der Antragstellung als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den gegenständlichen Antrag - nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Daher stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung des gegenständlichen Antrages entgegen. Da keine der Voraussetzungen des § 21 Abs. 2 NAG gegeben seien, hätte der Beschwerdeführer seinen Antrag vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einbringen und die Entscheidung darüber im Ausland abwarten müssen.

In der Berufung habe der Beschwerdeführer vorgebracht, dass er sich seit Juni 2003 in Österreich aufhalte und eine kooperative Mittelschule in Wien besuche. Er habe seine gesamte Familie und seinen Lebensmittelpunkt in Österreich; die Brücken zu seiner Heimat habe er bereits abgebrochen, sodass er keine Möglichkeit habe, sich dort aufzuhalten.

In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde unter Hinweis auf die § 21 Abs. 1 sowie §§ 72 und 74 NAG aus, weder im Antrag noch im Berufungsschreiben hätten humanitäre Gründe festgestellt werden können; insbesondere habe der Beschwerdeführer erst nach mehr als zwei Jahren versucht, seinen seit Juli 2003 andauernden unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet zu legalisieren. Ein weiteres Eingehen auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers, auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK, sei entbehrlich.

Zwar hielten sich sowohl die Mutter als auch die Brüder des Beschwerdeführers in Österreich auf, es sei jedoch nicht nachvollziehbar, warum dem nunmehr volljährigen Beschwerdeführer eine Rückkehr in sein Heimatland zum Zweck der Antragstellung vom Ausland aus unzumutbar sein solle; er habe seinerzeit (nachdem sein Vater bereits längst in Österreich niedergelassen gewesen sei) als 13-Jähriger auch ohne seine Mutter, die im Jahr 2002 nach Österreich gekommen sei, bei Verwandten in der Türkei leben können. Allfällige schwierige Familienverhältnisse, die er in seinem Berufungsnachtrag releviert habe, stellten keine konkrete Gefahr gemäß § 50 FPG - wie in § 72 NAG bestimmt - dar. Eine Inlandsantragstellung bzw. die daraus resultierende Entgegennahme des Aufenthaltstitels im Inland werde daher gemäß § 74 NAG von Amts wegen nicht zugelassen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, den gegenständlichen Antrag, der als Erstantrag anzusehen war, entgegen § 21 Abs. 1 NAG im Inland gestellt und dessen Erledigung hier abgewartet zu haben.

Das Recht, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Inland zu stellen und die Entscheidung darüber hier abzuwarten, kommt daher im vorliegenden Fall nur gemäß § 74 NAG in Betracht. Liegen die Voraussetzungen des § 72 NAG vor, ist die in § 74 NAG ausnahmsweise vorgesehene Antragstellung im Inland zuzulassen.

§ 72 NAG stellt auf mit besonderen Gefährdungen bzw. Notlagen verbundene Lebensumstände eines Fremden ab, die dazu Anlass geben, diesem aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbewilligung zukommen zu lassen. Weiters liegen besonders berücksichtigungswürdige Fälle im Sinn dieser Bestimmung dann vor, wenn - ausnahmsweise - ein aus Art. 8 EMRK abzuleitender Anspruch (etwa auf Familiennachzug) besteht (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 22. September 2009, Zl. 2008/22/0766).

Die belangte Behörde führt diesbezüglich aus, es hätten keine humanitären Gründe festgestellt werden können. Dabei hat sie berücksichtigt, dass der zu ihrem Entscheidungszeitpunkt etwa viereinhalbjährige Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet beinahe vollständig rechtswidrig war und er erst nach etwa zweieinhalbjährigem rechtswidrigem Aufenthalt durch den gegenständlichen Antrag versucht hat, seinen Aufenthalt zu legalisieren. Hinsichtlich des Aufenthalts der Mutter wie auch der Brüder des Beschwerdeführers in Österreich wies die belangte Behörde zutreffend darauf hin, dass keine Gründe erkennbar sind, warum der nunmehr volljährige Beschwerdeführer nicht in sein Heimatland zurückkehren kann, obwohl er dort bereits ab seinem 13. Lebensjahr, nachdem nach seinem Vater auch seine Mutter die Türkei verlassen hatte, ohne seine Eltern bei Verwandten gelebt hat. Darauf geht die Beschwerde mit keinem Wort ein. Entgegen der Beschwerdeansicht ist die belangte Behörde auch nicht davon ausgegangen, dass den restlichen Familienmitgliedern eine Rückkehr in die Türkei zumutbar sei; vielmehr hat sie die Rückkehr des nunmehr volljährigen Beschwerdeführers in sein Heimatland und die damit verbundene Trennung der Familie für zumutbar erachtet. Dem in diesem Zusammenhang behaupteten Verfahrensmangel durch Verletzung des Rechtes auf Parteiengehör (§ 45 Abs. 3 AVG) kommt mangels Relevanzdarstellung keine Bedeutung zu.

Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die weitere Bescheidbegründung wendet, dass ein "weiteres Eingehen" auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers entbehrlich sei, ist ihm zu entgegnen, dass die belangte Behörde durch die Anwendung der §§ 72 und 74 NAG (jeweils in der Stammfassung) ohnedies eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK vorgenommen hat. Dem zitierten Teil der Bescheidbegründung kommt somit im vorliegenden Fall kein eigenständiger Begründungswert zu (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2010, Zl. 2009/22/0022).

Auch die Ausführungen in der Beschwerde zum Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 EWG-Türkei vom 19. September 1980 (ARB) sind - abgesehen davon, dass sie während des Verwaltungsverfahrens nicht vorgebracht wurden - nicht zielführend, weil damit nicht aufgezeigt wird, dass der Beschwerdeführer in den Anwendungsbereich des Assoziationsabkommens fiele. Einerseits vermag sich der Beschwerdeführer schon deshalb nicht auf Art. 7 ARB Nr. 1/80 zu berufen, weil - wie die Beschwerde auch selbst ausführt - ein Reisevisum keine Grundlage für die Tatbestandsvoraussetzung einer Genehmigung des Zuzuges im Sinn des Art. 7 ARB Nr. 1/80 darstellt (vgl. beispielsweise das hg. Erkenntnis vom 14. Oktober 2008, Zlen. 2008/22/0265 bis 267, mwN). Auch der Hinweis auf Art. 7 zweiter Satz ARB Nr. 1/80, wonach sich Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes in dem betreffenden Mitgliedstaat unter näher genannten Bedingungen auf jedes Stellenangebot bewerben können, vermag dem Beschwerdeführer nicht zum Ziel zu verhelfen, zumal er - unbestritten - einen Aufenthaltstitel zum Zweck des Schulbesuchs beantragt und nach der insoweit unbestrittenen Aktenlage in Österreich lediglich ein Jahr eine Kooperative Mittelschule (Hauptschule) besucht hat. Zwar verlangt der zweite Satz des Art. 7 ARB Nr. 1/80 anders als dessen erster Satz nicht, dass die Kinder die Genehmigung erhalten haben, zu ihren Eltern im Aufnahmestaat zu ziehen, doch darauf, dass der Beschwerdeführer eine Berufsausbildung im Sinne des Art. 7 zweiter Satz ARB Nr. 1/80 abgeschlossen hätte, findet sich kein Hinweis. Der Besuch einer Kooperativen Mittelschule (KMS) fällt jedenfalls nicht unter die durch den Gerichtshof der Europäische Union in der Rechtssache Gravier (Urteil vom 13. Februar 1985, Rs. C-293/83 , Randnr. 30) gegebene Definition der "Berufungsausbildung" im Sinn des Art. 7 zweiter Satz ARB Nr. 1/80 (vgl. in Bezug auf den Besuch eines - mit einer KMS insofern vergleichbaren - polytechnischen Lehrgangs das hg. Erkenntnis vom 1. Oktober 1997, Zl. 97/09/0131; siehe dazu auch Akyürek, Das Assoziationsabkommen EWG-Türkei, 2005, S. 104). Der Beschwerdeführer kann sich daher schon deshalb auch nicht erfolgreich auf diese Bestimmung berufen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. April 2004, Zl. 2001/09/0104, mwH).

Auch aus dem Beschwerdehinweis auf Art. 9 ARB Nr. 1/80 ist für den Beschwerdeführer nichts zu gewinnen, da das in dieser Bestimmung normierte Recht auf Ausbildung für türkische Kinder von Arbeitnehmern ausdrücklich voraussetzt, dass die Kinder "ordnungsgemäß bei ihren Eltern wohnen" müssen. Das bedingt aber, dass der Aufenthalt der türkischen Kinder auf einer rechtlichen Grundlage - einem bereits erteilten Aufenthaltstitel - beruht; Art. 9 ARB Nr. 1/80 räumt weder ein Kindernachzugsrecht noch ein sonstiges Einreiserecht ein. Da dem Beschwerdeführer aber, der unbestritten einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gestellt hat, noch nie zuvor ein Aufenthaltstitel erteilt worden ist, kann er aus dieser Bestimmung nichts ableiten.

Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, inwiefern durch die Anwendbarkeit der Stillhalteklauseln im Hinblick auf eine beabsichtigte Erwerbstätigkeit des Beschwerdeführers - Art. 13 ARB Nr. 1/80 für den Fall der beabsichtigten Aufnahme einer unselbständigen, Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für den Fall der beabsichtigten Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit (vgl. dazu das hg. Urteil vom 13. Dezember 2011, Zl. 2008/22/0180, mwH) - diesem eine rechtliche Grundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zugutekommen könnte.

Wenn die Beschwerde schließlich die Meinung vertritt, die belangte Behörde hätte den gegenständlichen Antrag als Feststellungsantrag gemäß § 73 Abs. 4 NAG werten müssen, ist damit für den Beschwerdeführer nichts gewonnen, hat doch die belangte Behörde ohnedies - wie oben dargestellt - die dort vorgesehene Beurteilung ihrem Inhalt nach vorgenommen. Hinweise auf einen Antrag nach § 73 Abs. 4 NAG ergaben sich aber nicht.

Die Abweisung des gegenständlichen Antrages gemäß § 21 Abs. 1 NAG durch die belangte Behörde erweist sich somit als unbedenklich, weshalb die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 18. Oktober 2012

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