OGH 9Ob69/22w

OGH9Ob69/22w26.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Dr. Hargassner, Mag. Korn und Dr. Annerl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei V*, vertreten durch Mag. Roland Seeger, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei R* GmbH, *, vertreten durch Lorenz & Strobl Rechtsanwälte GmbH in Innsbruck, wegen 50.000 EUR und Feststellung (Streitwert 40.000 EUR), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 1. Juni 2022, GZ 1 R 32/22y‑146, mit dem der Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 22. Dezember 2021, GZ 67 Cg 93/19i‑140, nicht Folge gegeben wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0090OB00069.22W.0726.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahingehend abgeändert, dass das Klagebegehren abgewiesen wird.

Die Kostenaussprüche der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Fällung einer neuen Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz aufgetragen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 8.446,70 EUR (darin enthalten 390,45 EUR USt und 6.104 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens dritter Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte wurde in einem öffentlichen Vergabeverfahren mit der Erbringung des öffentlichen Rettungsdienstes im Bundesland Tirol beauftragt. Die Entscheidung, welcher Rettungsdienst im Einzelfall beigezogen wird, trifft die L* GmbH. Sie ist für die Steuerung, Überwachung, Disposition und Koordination der rettungsdienstlichen Einsätze zuständig. Sie trifft die Entscheidung, ob ein Transportwagen mit Sanitätern oder zusätzlich auch ein Notarzt losgeschickt wird.

[2] Am 23. 1. 2013 wurde kurz vor 2:00 Uhr nach einem Notruf eine Rettungsdienstmannschaft der Beklagten, ein Transportwagen mit Sanitätern, zur damaligen Wohnung der Klägerin geschickt.

[3] Im Revisionsverfahren ist nicht mehr strittig, dass die Sanitäter den aufgrund eines von der Klägerin erlittenen Schlaganfalls gebotenen Transport in ein Krankenhaus rechtswidrig und schuldhaft unterlassen haben. Die Klägerin wurde erst aufgrund eines weiteren Notrufs um 8:21 Uhr desselben Tages nach Entsendung eines Notarztes in die Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie gebracht. Die Klägerin hatte gegen 2:00 Uhr morgens einen cerebralen Insult (Schlaganfall) rechtsseitig erlitten.

[4] Wäre die Klägerin gegen 2:00 Uhr nachts in die Klinik gebracht worden, hätte sich ihr Zustand nur dann gebessert, wenn eine systemische Lyse‑Therapie oder Thrombektomie durchgeführt worden wäre und dadurch eine rechtzeitige und ausreichende Rekanalisation erreicht worden wäre, wobei diese Behandlungsmethoden nicht immer zum erhofften Erfolg führen.

[5] Die mechanische Thrombektomie war zu diesem Zeitpunkt noch kein Standardverfahren, insbesondere bei einem wie im gegenständlichen Fall vorliegenden eher distal/peripher gelegenen Gefäßverschluss und bei bereits schwer vorerkrankten und multimorbiden Patienten. Es handelte sich um ein überwiegend individuelles Heilverfahren, durchgeführt vor allem bei Patienten mit großen arteriellen Gefäßverschlüssen und vor allem bei jüngeren und in der Regel nicht bereits schwer vorerkrankten und multimorbiden Patienten mit potentiell besserer Gesamtprognose.

[6] Zum Zeitpunkt der Akuterkrankung der Klägerin 2013 war die Situation leitliniengemäß so, dass eine systemische Thrombolyse bei Diabetes mellitus und früherem Schlaganfall bei Zustand nach einem Erstereignis 2010, wie bei der Klägerin, (allenfalls) in einer Risiko‑Nutzen‑Abwägung erwogen werden konnte. Auch wenn eine absolute Kontraindikation gegen die Durchführung einer intravenösen systemischen Thrombolyse nicht vorlag, war 2013 eine Lyse‑Behandlung bei einer Patientin wie der Klägerin keine Selbstverständlichkeit, sondern – unter Berücksichtigung der begleitenden und vorbestehenden Pathologien und des Akutbefundes – allenfalls eine individuelle Therapieentscheidung des diensthabenden behandelnden Arztes.

[7] Eine systemische Lyse‑Therapie war bei der Klägerin daher 2013 nicht kontraindiziert, aber aufgrund eines bereits stattgehabten Schlaganfallereignisses, des schlecht eingestellten Diabetes mellitus Typ II und zahlreicher weiterer Vorerkrankungen, aber auch des konkreten Infarktgeschehens selbst mit daraus resultierend zumindest nicht schwerer Symptomatik, eine Behandlung, die allenfalls erwogen werden konnte. Schlussendlich blieb diese Behandlung einer individuellen Einschätzung des Behandlers vorbehalten.

[8] Nur im Fall einer zeitgerechten Behandlung im Lyse‑Fenster von 4,5 Stunden nach dem Schlaganfallereignis hätte unter Umständen bei rechtzeitiger und ausreichender Rekanalisierung und entsprechend geringer Ausdehnung des unwiderruflich infizierten Hirnareals ein besseres Outcome resultieren können. Rein statistisch bestehen bei einem von vier Patienten Erfolgsaussichten, wenn das Lyse‑Fenster eingehalten wird. Bei vollständiger Lyse hätte im Optimalfall und vorausgesetzt, dass sie so früh durchgeführt worden wäre, dass noch kaum oder keine Hirnzellen untergegangen wären, sogar eine vollständige Remission erreicht werden können.

[9] Nicht festgestellt werden kann, ob die systemische Thrombolyse‑Therapie bei der Klägerin durchgeführt worden wäre, wäre sie um 2:00 Uhr nachts am 23. 1. 2013 sofort in die Klinik eingeliefert worden. Nicht festgestellt werden konnte, ob bei Durchführung einer Thrombolyse das neurologische Defizit der Klägerin vermieden hätte werden können oder weitere Defizite verblieben wären, zumal im Falle einer systemischen Thrombolyse sehr häufig neurologische Defizite bleiben, es im Idealfall aber auch zu einer rechtzeitigen und ausreichenden Rekanalisierung kommen kann. Im Worst‑Case kann eine Thrombolyse auch letal sein, wenn es zu Blutungskomplikationen kommt.

[10] Am 6. 3. 2013 erlitt die Klägerin einen zweiten Schlaganfall. Ab diesem Zeitpunkt sind nur 50 % der Schmerzen auf den ersten Schlaganfall zurückzuführen. Unter Berücksichtigung dieses Umstands hat die Klägerin aufgrund des Schlaganfallereignisses vom 23. 1. 2013 sieben Tage starke, 21 Tage mittlere und 379 Tage leichte Schmerzen erlitten, dies in komprimierter Form.

[11] Der zweite Schlaganfall ist nicht auf den ersten zurückzuführen, vielmehr haben beide ihre Ursache in einem kardioembolischen Ereignis.

[12] Es besteht eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin durch den Schlaganfall vom 23. 1. 2013 Spät- und Dauerfolgen erleidet.

[13] Die Klägerin begehrt die Zahlung eines Schmerzengeldes von 50.000 EUR sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle zukünftigen, noch nicht vorhersehbaren Schäden aus dem Rettungseinsatz vom 23. 1. 2013, 2:00 Uhr nachts. Sie sei gegen 2:00 Uhr nachts aus dem Bett gestürzt. Trotz Hilfe ihres Mannes sei es ihr nicht gelungen, wieder aufzustehen. Die Leitstelle habe aufgrund eines Notrufs ihres Sohnes einen Rettungswagen mit zwei Sanitätern, aber keinem Arzt geschickt. Die Sanitäter hätten sie zurück ins Bett gehoben, jedoch einen Transport ins Krankenhaus verweigert. Erst um 8:00 Uhr morgens sei es aufgrund eines neuerlichen Notrufs zu einer Einlieferung ins Spital gekommen. Aufgrund der verzögerten Behandlung des Schlaganfalls sei sie gelähmt und mittlerweile in einem Pflegeheim untergebracht. Wäre der Transport schon um 2:00 Uhr morgens erfolgt, hätten Spät‑ und Dauerfolgen vermieden werden können. Der spätere Schlaganfall vom 6. 3. 2013 wäre rechtsseitig folgenlos geblieben. Der überwiegende und wesentliche Teil der Schäden sei beim Insult vom 23. 1. 2013 aufgetreten. Durch die Unterlassung des Transports sei dem behandelnden Arzt und der Klägerin sowie deren Familienangehörigen eine individuelle Entscheidung zur Lyse‑Therapie genommen worden. Die Frage, welchen Erfolg eine solche Therapie gehabt hätte, sei fiktiv, weil der Klägerin die Möglichkeit dazu von vornherein nicht offen gestanden sei.

[14] Die Beklagte bestreitet und bringt vor, dass ein Fehlverhalten ihrer Mitarbeiter nicht vorliege. Das Verhalten der Sanitäter sei auch nicht kausal für den eingetretenen Schaden. Die Klägerin hätte diesen auch bei einer sofortigen Einlieferung erlitten. Während ihrer späteren Behandlung habe sie einen weiteren Schlaganfall erlitten, weshalb ein Fall der überholenden Kausalität vorliege. Aufgrund der massiv krankhaften Veranlagung der Klägerin liege auch eine alternative Kausalität vor. Sowohl beim ersten als auch beim zweiten Schlaganfall finde sich in der Krankengeschichte keine Lyse‑Indikation. Offenbar seien bei ihr Kontraindikationen vorgelegen. Zum Zeitpunkt des Rettungseinsatzes habe die Klägerin aufgrund ihrer Vorerkrankungen zwar keine absolute Kontraindikation gegen die Durchführung einer Lyse‑Therapie gehabt, aufgrund der Risikofaktoren sei aber nicht klar, ob eine solche auch durchgeführt worden wäre. Bei Abwägung aller Risiken hätten die Ärzte von einer solchen Therapie abgesehen und die Klägerin konservativ behandelt. Damit hätten sich die Folgen aber auch bei einer sofortigen Einlieferung in die Klinik eingestellt. Der Klägerin sei ein Mitverschulden anzulasten, dies aufgrund schlechter Therapieadhärenz.

[15] Das Erstgericht erkannte im nunmehr dritten Rechtsgang die Beklagte schuldig, der Klägerin 50.000 EUR sA zu zahlen. Weiters stellte es die Haftung der Beklagten für zukünftige, noch nicht vorhersehbare Schäden aus diesem Rettungseinsatz fest. Die Beklagte hafte der Klägerin für die Folgen aus dem rechtswidrig und schuldhaft nicht durchgeführten Krankentransport. Es wäre an der Beklagten gelegen zu beweisen, dass die Klägerin auch bei sofortiger Einlieferung und daher bei rechtmäßigem Alternativverhalten der Sanitäter dieselben Beeinträchtigungen erlitten hätte. Aufgrund der getroffenen Negativfeststellung sei der Beklagten dieser Beweis nicht gelungen. Sie hafte daher der Klägerin für den eingetretenen Schaden bis zum zweiten Schlaganfallereignis zur Gänze, ab diesem Zeitpunkt zur Hälfte. Ausgehend von einer Globalbemessung würden die festgestellten Schmerzen und Schmerzperioden die Zuerkennung des geltend gemachten Betrags von 50.000 EUR rechtfertigen. Spät‑ und Dauerfolgen seien nicht auszuschließen, weshalb auch das Feststellungsbegehren berechtigt sei.

[16] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten gegen diese Entscheidung nicht Folge. Die Sanitäter der Beklagten hätten für eine sofortige medizinische Erstversorgung der Klägerin zu sorgen gehabt. Ihr Schaden sei aus dieser Unterlassung entstanden. Der Nachweis des Kausalzusammenhangs sei gelungen. Mehr als sechs Stunden nach dem Schlaganfallereignis sei eine mögliche medizinische Versorgung mit einer Lyse‑Therapie nicht mehr möglich gewesen, weshalb der derzeitige Zustand der Klägerin dadurch mitverursacht worden sei. Wenn eine Pflichtverletzung der Rettungssanitäter eine Verzögerung der dringend gebotenen ärztlichen Behandlung zur Folge habe, sei der Beweis eines Kausalzusammenhangs zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem durch die Verzögerung eingetretenen Schaden gegeben. Es sei nicht richtig, dass die Klägerin zumindest mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit auch nachzuweisen gehabt hätte, dass bei einem sofortigen Transport die behaupteten Schmerzen und Nachteile unterblieben wären. Der Beweis für den Eintritt des gleichen Schadens bei rechtmäßigem Alternativverhalten liege bei der Beklagten. Dieser sei ihr nicht gelungen. Zu Recht habe daher das Erstgericht dem Klagebegehren stattgegeben.

[17] Die Revision wurde vom Berufungsgericht nicht zugelassen, da keine über den Einzelfall hinausgehenden Rechtsfragen zu entscheiden gewesen seien.

[18] Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit dem Antrag die Entscheidungen dahingehend abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen wird. In eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[19] Die Klägerin beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

[20] Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[21] 1. Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, dass durch Anrufen in der Notrufzentrale und Ausfahrt des Rettungswagens zum konkreten Ziel ein Vertragsverhältnis zwischen den Parteien zustande gekommen ist, weshalb die Beklagte für ein Verschulden ihrer Rettungssanitäter bei Erfüllung der sich daraus ergebenden Pflichten haftet. Dagegen wendet sich im Revisionsverfahren keine der Parteien, ebensowenig dagegen, dass bei dem Rettungseinsatz um 2:00 Uhr morgens rechtswidrig und schuldhaft ein Transport der Klägerin ins Spital unterlassen wurde.

[22] Zu prüfen bleibt daher, ob der Nachweis gelungen ist, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen der Klägerin aus dieser unterlassenen sofortigen Einlieferung ins Spital resultieren.

[23] 2. Grundsätzlich obliegt dem Geschädigten der Beweis für den Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Schädigers und dem Eintritt des Schadens. Dies gilt auch für Unterlassungen (RS0022686 [T8]; RS0022900). Eine Unterlassung ist dann für den Schadenserfolg kausal, wenn die Vornahme einer bestimmten aktiven Handlung das Eintreten des Erfolgs verhindert hätte (RS0022913) bzw der Schaden bei pflichtgemäßem Verhalten nicht eingetreten wäre (RS0022913 [T6]). Die Kausalität der Unterlassung für den Schaden ist demnach nicht gegeben, wenn derselbe Nachteil auch bei pflichtgemäßem Tun entstanden wäre (RS0022913 [T8]; Koziol, Wegdenken und Hinzudenken bei der Kausalitätsprüfung, RdW 2007, 12).

[24] Dabei genügt der Nachweis, dass der Schaden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unterlassen des pflichtgemäßen Handelns zurückzuführen ist (RS0022900 [T41]). Dem kann der Gegner den Beweis der höheren Wahrscheinlichkeit eines anderen Verlaufs entgegenhalten.

[25] 3. Bei einer Schädigung durch Unterlassung kann sich daher aber die Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens als vom Schädiger als gesondert zu erhebender Einwand nicht stellen. Sie geht in der Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen der Unterlassung und dem Schadenseintritt auf (6 Ob 64/22p [Rz 32]; 5 Ob 231/21p [Rz 18]; 7 Ob 238/07m; 1 Ob 40/99k; RS0022913 [T9]; Kodek in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.03 § 1295 Rz 9 mwN [Stand 1. 1. 2018, rdb.at]; Karner in KBB7 § 1295 ABGB Rz 14 mwN; Harrer/Wagner in Schwimann/Kodek, ABGB Praxiskommentar4 [2016] § 1295 ABGB Rz 40b). Es fehlt nämlich ohnehin schon an der Kausalität für den Schaden, soweit derselbe Nachteil auch bei pflichtgemäßem Tun entstanden wäre. Schon im Rahmen der Kausalitätsprüfung ist daher der hypothetische Ablauf bei Hinzudenken des gebotenen Verhaltens zu klären.

[26] 4. Bei Verletzung eines Schutzgesetzes iSd § 1311 ABGB fordert die ständige Rechtsprechung keinen strengen Beweis des Kausalzusammenhangs (RS0027640; RS0027462). Das darf aber nicht dahin verstanden werden, dass im Falle einer Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 1311 ABGB die Vermutung besteht, die Verletzung des Schutzgesetzes sei für den Eintritt des Schadens ursächlich gewesen. Es kommt zu keiner umgekehrten Beweislast (RS0027517; RS0022599 [T1]). Vielmehr spricht in diesen Fällen der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der von der Norm zu verhindernde Schaden durch das verbotene Verhalten verursacht wurde. Es obliegt dann dem Schädiger, die Kausalität der Pflichtwidrigkeit – durch Außerkraftsetzen des ihn belastenden Anscheinsbeweises – ernstlich zweifelhaft zu machen (RS0022599 [T3]; RS0027640 [T3, T6, T9, T12]). Die Entkräftung des prima‑facie‑Beweises erfolgt durch den Beweis des Gegners, dass der typische formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zutrifft, sondern dass die ernstliche Möglichkeit eines atypischen Ablaufs besteht.

[27] 5. An möglicherweise mit ärztlichen Behandlungsfehlern zusammenhängenden Gesundheitsschäden von Patienten sind wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises an den Kausalitätsbeweis geringere Anforderungen zu stellen (RS0038222). In der Rechtsprechung wird darauf verwiesen, dass wegen der in diesen Fällen besonders vorhandenen Beweisschwierigkeiten des Patienten, die Kausalität nachzuweisen, nur dem zur Haftung herangezogenen Arzt die Mittel und Sachkunde zum Beweis zur Verfügung stehen, daher von einer „prima‑facie‑Kausalität“ auszugehen ist (vgl RS0106890). Für den dem Patienten obliegenden Beweis der Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden genügt der Nachweis, dass die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts durch den Fehler der Ärzte nicht bloß unwesentlich erhöht wurde (RS0106890 [T18]). Ist dieser Beweis gelungen, hat der Geschädigte zu beweisen, dass im konkreten Behandlungsfall das Fehlverhalten mit größter Wahrscheinlichkeit für den Schaden unwesentlich geblieben ist (RS0026768 [T7]). Insbesondere dann, wenn das schwerwiegende Verhalten in Unterlassungen besteht, genügt ein sehr hoher Grad von Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs für die Haftung (RS0022825; RS0022900 [T3]). Das gilt auch dann, wenn dem Patienten eine Maßnahme vorenthalten wird, die dem in Fachkreisen anerkannten Standard der besten Versorgung entspricht (4 Ob 28/20a; 7 Ob 88/17t Pkt 4.3 mwN).

[28] 6. Von diesen Grundsätzen ausgehend, ist entgegen der Ansicht der Vorinstanzen der Klägerin der Nachweis, dass ihre aus dem Schlaganfall resultierenden Folgen bei Einlieferung in ein Spital bereits gegen 2:00 Uhr nachts hätten verhindert werden können, nicht gelungen.

[29] Da es sich beim vorgeworfenen schädigenden Verhalten um eine Unterlassung handelt (Nichteinlieferung in ein Spital), stellt sich, wie ausgeführt, die Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens nicht. Vielmehr liegt die Beweislast für den Kausalzusammenhang zwischen der Unterlassung und dem Schadenseintritt bei der Klägerin.

[30] Bei einer Gesamtbeurteilung der Feststellungen ist der Klägerin zwar der Nachweis gelungen, dass bei einer früheren Einlieferung grundsätzlich die Möglichkeit einer Lyse-Behandlung bestanden hätte, die zumindest (mit einer theoretischen Wahrscheinlichkeit von 25 %) zu einer Verbesserung ihres Zustands hätte führen können. Es ist ihr jedoch nicht der Nachweis gelungen, dass diese Behandlung tatsächlich durchgeführt worden wäre oder lege artis hätte durchgeführt werden müssen.

[31] 2013 konnte leitliniengemäß eine systemische Thrombolyse bei Patienten wie bei der Klägerin, (allenfalls) in einer Risiko‑Nutzen‑Abwägung erwogen werden. Aus den Feststellungen lässt sich aber nicht ableiten, dass auch nur mit einer gewissen, schon gar nicht mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit nach einer derartigen Risikoabwägung eine solche Therapie bei der Klägerin durchgeführt worden wäre. Vielmehr wies die Klägerin eine Vielzahl von gegen die Therapie sprechende Indikationen (Alter, Gesamtzustand, Vorerkrankung, Art des Schlaganfallereignisses) auf.

[32] Da die Durchführung der Lyse‑Behandlung 2013 nicht bei jedem Schlaganfallpatienten, der zeitgerecht ins Spital eingeliefert wurde, durchgeführt wurde, sondern abhängig von unterschiedlichen Kriterien auf Basis einer jeweils individuellen Entscheidung des behandelnden Arztes, kann auch nicht von einem typischen Geschehensablauf im Sinn eines Anscheinbeweises ausgegangen werden. Insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob das schädigende Verhalten als Schutzgesetzverletzung zu qualifizieren ist.

[33] Damit ist aber, der in diesem Fall der Klägerin obliegende Kausalitätsnachweis zwischen Unterlassung und Schadensfolge nicht gelungen.

[34] 7. Auf die in der Revision aufgeworfene Frage, ob die Beweiserleichterungen im Zusammenhang mit der Arzthaftung auf die Haftung von Rettungssanitätern übertragen werden könne, kommt es nicht an, weil tatsächlich auch unter Berücksichtigung der zuvor dargestellten Beweiserleichterungen der Klägerin der Nachweis der Kausalität nicht gelungen ist.

[35] 8. Damit kann aber die weitere Entwicklung des Schlaganfallereignisses bei der Klägerin nicht zu einer Haftung der Beklagten führen. Den Feststellungen des Erstgerichts zu Schmerzperioden der Klägerin aufgrund des Schlaganfallereignisses liegt offenkundig die fiktive Annahme einer erfolgreichen Lyse‑Therapie zugrunde. Da aber der Klägerin der Nachweis nicht gelungen ist, dass eine solche Therapie durchgeführt worden wäre, besteht dafür kein Ersatzanspruch.

[36] 9. In Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen war das Klagebegehren daher abzuweisen.

[37] 10. Die Kostenentscheidung für das Revisionsverfahren gründet sich auf §§ 50, 43 Abs 1 ZPO.

[38] Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein lang andauerndes, umfangreiches Verfahren mit drei Rechtsgängen und Klagsänderungen sowie umfangreichen Einwendungen jeweils gegen das Kostenverzeichnis der Gegenseite. In einem derartigen Fall kann der Oberste Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung in sinngemäßer Anwendung des § 510 Abs 1 letzter Satz ZPO die Kostenentscheidungen beider Vorinstanzen aufheben und – hier zweckmäßigerweise – dem Erstgericht eine neuerliche Kostenentscheidung auftragen (RS0124588 [T1]).

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