Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung
Der Minderjährige und seine Eltern sind serbisch-montenegrinische (vormals: jugoslawische) Staatsangehörige. Die Ehe der Eltern wurde mit Urteil eines Gerichts in Belgrad vom 9. 3. 2000 geschieden, wobei der Mutter die Obsorge über den Minderjährigen übertragen wurde. Nach der Scheidung lebte der Minderjährige abwechselnd im Haushalt seiner mütterlichen Großeltern in Serbien oder bei seiner Mutter in Österreich. Auch der Vater des Minderjährigen wohnte eine Zeit lang im Haushalt seiner ehemaligen Schwiegereltern, weil er ebenfalls nach Österreich reisen wollte, jedoch auf sein Visum warten musste. Von Oktober 2000 bis Dezember 2000 lebte der Minderjährige gemeinsam mit seinem Vater im Haushalt der mütterlichen Großeltern. Ende Dezember 2000 holte die Mutter das Kind zu sich nach Österreich, wo es bis Mai 2001 blieb. In dieser Zeit brachte die Mutter den Minderjährigen immer wieder über die jugoslawische Grenze, damit der Minderjährige seinen Vater besuchen konnte. Im Mai 2001 weigerte sich der Vater nach einer derartigen Besuchswoche, das Kind der Mutter wieder zurückzubringen und berief sich dabei auf einen Bescheid des Jugendamtes, mit welchem ihm die einstweilige Obsorge über das Kind übertragen wurde. In der Folge lebte der Minderjährige bis Anfang des Jahres 2002 bei seinem Vater in Belgrad. Anfang des Jahres 2002 zog der Vater mit dem Kind nach Österreich und verbrachte nun der Minderjährige abwechselnd eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter. Danach erklärte der Vater, mit dem Kind auf Urlaub fahren zu wollen und brachte es in der Folge im Juli 2002 zu den mütterlichen Großeltern nach Serbien. Diesen erklärte der Vater, dass er das Kind nun bei ihnen lassen würde, bis er in Belgrad ein Geschäftslokal und eine Wohnung gefunden habe. Als die Mutter erfuhr, dass sich das Kind bei ihren Eltern befinde, holte sie dieses am 6. oder 7. 8. 2002 wieder zu sich nach Österreich zurück.
Mit Urteil eines serbischen Gerichts vom 31. 1. 2002 wurde dem Vater die Obsorge über den Minderjährigen zugesprochen. Mit Beschluss dieses Gerichts vom 6. 3. 2003 wurde der von der Mutter eingebrachte Antrag "auf Wiederholung des Verfahrens" als begründet angenommen und das Urteil vom 31. 1. 2002 aufgehoben. Über das vom Vater dagegen erhobene Rechtsmittel wurde bislang noch nicht entschieden. Mit Urteil eines anderen serbischen Gerichts vom 7. 3. 2003 wurde die Mutter schuldig erkannt, am 7. 8. 2002 den Minderjährigen vom Vater gesetzwidrig weggenommen und dadurch die Straftat der Entführung des minderjährigen Kindes nach Art 116 Abs 2 iVm Abs 1 des Strafgesetzes der Republik Serbien begangen zu haben.
Seit August 2002 lebt der Minderjährige im Haushalt der Mutter. Diese hat im November 2002 in Österreich geheiratet. Die Familie lebt nunmehr in einem Einfamilienhaus nahe Wien. Der Minderjährige besucht seit September 2002 den örtlichen Kindergarten. Er spricht sehr gut Deutsch und ist in seiner Gruppe gut integriert. Er ist ein lebhaftes, aber unauffälliges Kind. Er spricht manchmal von seinen mütterlichen Großeltern, seinen leiblichen Vater erwähnt er nach den Angaben der Kindergärtnerin nicht. Das Kind macht einen fröhlichen und ausgeglichenen Eindruck; seine Hauptbezugsperson ist die Mutter. Aus der Sicht der Sozialarbeiterin ist das Herausnehmen des Minderjährigen aus dem derzeitigen Familienverband für seine Entwicklung und Stabilität nicht förderlich, weshalb die Jugendabteilung einer Rückführung entgegentritt.
Am 2. 9. 2002 übermittelte das Bundesministerium für Justiz das Ersuchen des Justizministeriums der Republik Serbien aufgrund Rückgabeantrages des Vaters auf Rückführung des Minderjährigen nach dem Haager Übereinkommen vom 25. 10. 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung. Dem Vater sei nach dem vorgelegten Gerichtsurteil vom 31. 1. 2002 die Aufsicht, Pflege und Erziehung des Minderjährigen anvertraut worden, es stehe ihm zumindest die Mitobsorge zu.
Die Mutter sprach sich gegen eine Rückführung aus, da diese eine schwere seelische Bedrohung für das Kind darstellen würde. Der Anwendungsbereich des Haager Übereinkommens sei nicht gegeben, da der Vater ebenfalls in Österreich wohne. Der Minderjährige habe sich seit März 2000 überwiegend bei der Mutter aufgehalten und sei nach Aufenthalten beim Vater äußerst verstört zurückgekehrt. Das Kind lebe mit der Mutter in geordneten Verhältnissen, für seinen Unterhalt sei ausreichend gesorgt.
Das Erstgericht wies im zweiten Rechtsgang den Antrag des Vaters, den Minderjährigen rückzuführen, ab. Es traf die eingangs wiedergegebenen Feststellungen und führte zur rechtlichen Beurteilung aus, der Vater habe zur Zeit des Verbringens des Kindes durch die Mutter das Sorgerecht im Sinn des Art 3 des Übereinkommens tatsächlich nicht ausgeübt, weil er das Kind auf unbestimmte Zeit bei den mütterlichen Großeltern zurückgelassen habe. Zudem habe sich der Minderjährige in seiner derzeitigen familiären Situation gut eingelebt und sei die Mutter seine Hauptbezugsperson. Eine neuerliche Herausnahme des Minderjährigen aus dieser familiären Situation würde seiner Entwicklung und Stabilität schaden und ihn daher in eine unzumutbare Lage bringen. Maßgebliches Kriterium bei der Entscheidung über die Rückgabe eines Kindes sei stets das Kindeswohl und nicht so sehr das Fehlverhalten eines Elternteiles.
Das Gericht zweiter Instanz gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Es sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Der Vater habe das Kind den mütterliche Großeltern für eine unbestimmte Zeit überlassen, sodass er in Wahrheit die Obsorge zum Zeitpunkt, als die Mutter das Kind zu sich holte, tatsächlich nicht ausgeübt habe. Es seien daher gemäß Art 13 lit a des Übereinkommens die Voraussetzungen für eien Rückführung nicht erfüllt. Auch dürfe nicht unbeachtet bleiben, dass seit der Verbringung des Kindes nach Österreich einige Zeit verstrichen ist und sich das Kind mit seiner Mutter am neuen Aufenthaltsort eingelebt hat. Eine Rückführung des Minderjährigen würde diesen daher in eine unzumutbare Lage im Sinn des Art 13 lit b des Übereinkommens versetzen. Hiezu komme noch, dass die Obsorgeentscheidung, auf die der Vater seinen Rückführungsantrag ursprünglich gestützt habe, von den serbischen Behörden inzwischen aufgehoben worden sei. Bis zur Rechtskraft dieses Erkenntnisses könne somit nicht gesagt werden, ob nicht dem Vater letztlich die Obsorge entzogen würde. Müsste aber das Kind im Falle seiner Rückführung dann wieder an die Mutter herausgegeben werden, käme es zu einem zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgenden "Hin- und Herreißen" des Kindes von einem Elternteil zum anderen, was ebenfalls als unzumutbare Lage im Sinne des Übereinkommens zu werten sei.
Der dagegen erhobene Revisionsrekurs des Vaters ist zwar zulässig, weil die Vorinstanzen Art 13 lit a des Haager Kindesentführungsübereinkommens unrichtig auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt angewendet haben, es kommt ihm jedoch keine Berechtigung zu.
Rechtliche Beurteilung
Gemäß Art 13 lit a des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ist das Gericht des ersuchten Staates unter anderem dann nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat. Nach den im Verfahren getroffenen Feststellungen hat der Vater den Minderjährigen "auf unbestimmte Zeit bei den mütterlichen Großeltern zurückgelassen, bis er in Belgrad eine Wohnung und ein Geschäftslokal gefunden hat." Diese Feststellung reicht für die von den Vorinstanzen gezogene Schlussfolgerung, der Vater habe sein Sorgerecht tatsächlich nicht ausgeübt, nicht aus. Es ist gesicherte Rechtsprechung, dass der Obsorgeberechtigte keineswegs die Pflege und Erziehung seines Kindes selbst wahrnehmen muss, vielmehr kann er sie auch Dritten überlassen (RIS-Justiz RS0047941). Es muss ihm nur die Oberaufsicht über die Betreuung und die verantwortliche Leitung der Erziehung vorbehalten bleiben. Das setzt voraus, dass der Obsorgeberechtigte nach den örtlichen und sonstigen Verhältnissen auch in der Lage ist, diesen Pflichten angemessen nachzukommen und gegebenenfalls im Interesse des Minderjährigen entsprechenden Einfluss auf die Erziehung zu nehmen bzw die Fremderziehung wegen wahrgenommener Missstände unverzüglich zu beenden (SZ 69/20 mwH). Für den Bereich des Übereinkommens wird in dessen Art 5 lit a das "Sorgerecht" als die Sorge für die Person des Kindes und insbesondere das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, definiert. Der Oberste Gerichtshof hat in seiner Entscheidung SZ 70/27 ausführlich dargelegt, dass bei der Bestimmung des Begriffes "Sorgerecht" von der Zielsetzung des Art 1 des Übereinkommens auszugehen ist. Danach strebe das Übereinkommen die Sicherstellung der tatsächlichen Beachtung des in einem Vertragsstaat bestehenden Sorgerechts oder Umgangsrechts in allen anderen Vertragsstaaten an. Durch einen Aufenthaltswechsel des Kindes solle also die Rechtsstellung des Sorge- oder Umgangsberechtigten nicht verschlechtert werden. Voraussetzung für die Anwendung des Art 3 des Übereinkommens sei daher die Verletzung eines tatsächlich ausgeübten Obsorge- oder Mitobsorgerechtes. Bei der Trennung der Eltern erfülle diese Voraussetzung in der Regel nur der Elternteil, bei dem das Kind wohne, die Ausübung eines bloßen Umgangsrechtes genüge nicht. Ein (Mit-)Obsorgerecht müsse zumindest die Befugnis einschließen, den Aufenthaltsort des Kindes mit zu bestimmen. Daraus ist zwanglos zu schließen, dass auch für den Bereich des Übereinkommens die eingangs dargestellten allgemeinen Grundsätze über die Ausübung des Obsorgerechts durch Dritte Geltung haben, sodass allein die Tatsache der Unterbringung des Kindes bei den mütterlichen Großeltern nicht die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts ausschließt.
Obwohl es somit zu diesem Punkt noch ergänzender Feststellungen bedürfte, kann dennoch schon jetzt in der Sache selbst entschieden werden: Erklärtes Ziel des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ist es, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen (Art 1 lit a; 1 Ob 51/02k). Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt gemäß Art 3 des Übereinkommens als widerrechtlich, wenn a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
Ein widerrechtlich verbrachtes oder zurückgehaltenes Kind ist an den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts zurückzugeben (Schütz, Zwischenstaatliche Vereinbarungen, die für Familienrichter bedeutsam sein könnten, RZ 2001, 54, hier: 56). Aus der Präambel des Übereinkommens ("... um eine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen ...") ergibt sich, dass die Rückkehr des Kindes in den Staat seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts zu gewährleisten ist (1 Ob 51/02k). Das Kind, das sich an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort befindet, kann daher dorthin weder verbracht noch im Sinn des Art 3 des Übereinkommens dort zurückgehalten werden. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes im Sinn des Art 3 des Übereinkommens ist gleich auszulegen wie in den diesen Begriff enthaltenden Bestimmungen der JN und des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens (1 Ob 220/02p). Demgemäß kommt es für die Ermittlung des "gewöhnlichen Aufenthaltes" darauf an, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehung macht. Der Aufenthalt bestimmt sich ausschließlich nach tatsächlichen Umständen. Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein kein ausschlaggebendes Moment, doch ist im Allgemeinen nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten anzunehmen, dass ein "gewöhnlicher Aufenthalt" vorliegt. Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch gegen den Willen eines Sorgeberechtigten begründet werden, weil es auf den tatsächlichen Daseinsmittelpunkt ankommt (1 Ob 220/02p; 2 Ob 80/03h; vgl auch RIS-Justiz RS0109515).
Aus den Feststellungen ergibt sich, dass ab Beginn des Jahres 2002 beide Elternteile die Obsorge hinsichtlich des Minderjährigen gemeinsam wahrgenommen haben. Nachdem die Mutter im Juni 2002 mit dem Minderjährigen auf Urlaub war, brachte der Vater im Juli 2002 den Minderjährigen zu den mütterlichen Großeltern nach Serbien, von wo die Mutter das Kind bereits am 6. oder 7. 8. 2002 wieder nach Österreich holte. Diese kurze Zeitspanne, die vom mütterlichen Großvater bei seiner Vernehmung mit 10 Tagen präzisiert wurde (AS 177) und von der mütterlichen Großmutter im Bereich zwischen einer Woche und drei Wochen bezeichnet wurde (AS 179), vermag gerade auch wegen der erklärtermaßen nur vorübergehenden Dauer der Unterbringung die Annahme des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht zu begründen. Da somit der Minderjährige im Zeitpunkt der Rückholung durch seine Mutter einen gewöhnlichen Aufenthalt in Serbien nicht hatte, sondern dieser vielmehr in Österreich gelegen war, haben die Vorinstanzen den Rückführungsantrag im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
Dem Revisionsrekurs ist ein Erfolg zu versagen.
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