OGH 7Ob52/22f

OGH7Ob52/22f29.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Hofrätin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätin und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E* AG, *, vertreten durch Mag. Boris Knirsch und andere, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei E* GmbH, *, vertreten durch KS Kiechl Schaffer Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen (restlich) 9.487,35 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgerichtvom 18. Dezember 2021, GZ 60 R 122/21b‑17, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 8. September 2021, GZ 8 C 212/20i‑13, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00052.22F.0629.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Dieklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 833,88 EUR (darin enthalten 138,98 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte schloss bei der Klägerin für einen LKW einen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrag ab.

[2] Am 4. Februar 2020 fuhr ein Mitarbeiter der Beklagten mit dem LKW auf das Geländeeines Möbelhauses, um dort Waren abzuliefern. Dabei musste er mit dem LKW eine Schrankenanlage passieren. Im Zuge dessen streifte der Fahrer mit dem LKW das Bedienteil des Modulträgers und den Ticketnehmer der Schrankenanlage, wodurch der Schrankenautomat beschädigt wurde.

[3] Im Bereich der Schrankenanlage befindet sich eine Überwachungskamera, die den Unfall aufzeichnete. Nachdem das Möbelhaus den Schaden an der Schrankenanlage bemerkte, überprüfte es die Aufzeichnungen, stellte die Schadensursache fest und meldete am 5. Februar 2020 der Klägerin den Schaden. Dabei legte sie eine Schadensmeldung und ein Fotoprotokoll vor, auf welchem zu sehen ist, dass der LKW der Beklagten die Schrankenanlage beschädigte.

[4] Nachdem die Beklagte von ihrem Versicherungsmakler kontaktiert worden war, erstattete sie am 21. Februar 2020 eine Schadensmeldung an die Klägerin.

[5] Die Klägerin bezahlte der Geschädigten am 22. Mai 2020 9.487,35 EUR an Reparaturkosten.

[6] Die Klägerin begehrt Zahlung von 9.841,35 EUR und bringt – soweit für das Revisionsverfahren relevant – vor, die Beklagte habe die Anzeigeobliegenheit gemäß § 6 Abs 1 KHVG in Verbindung mit den anwendbaren Versicherungsbedingungen verletzt, weshalb die Klägerin leistungsfrei sei. Darüber hinaus habe sie einen Regressanspruch, weil der Fahrer den Schaden grob fahrlässig verursacht habe.

[7] Die Beklagte beantragt Klageabweisung und bringt – soweit für das Revisionsverfahren relevant – vor, die behauptete Obliegenheitsverletzung liege nicht vor, weil sie den Unfall nicht bemerkt und im Übrigen die Klägerin durch die Geschädigte rechtzeitig vom Eintritt des Versicherungsfalls Kenntnis erlangt habe.

[8] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 9.487,35 EUR und wies ein Mehrbegehren von 354 EUR ab. Da der Fahrer den Schaden grob fahrlässig verursacht habe, steheder Klägerin gegenüber der Beklagten ein Regressanspruch in Höhe der Reparaturkosten zu.

[9] Das Berufungsgericht änderte die Entscheidung im Sinne einer gänzlichen Klagsabweisung ab. Nach § 152 VersVG hafte der Versicherer nur dann nicht, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich gehandelt habe, was die Klägerin im Verfahren erster Instanz nicht behauptet habe. Die rechtzeitige Meldung des Schadensfalls durch den Geschädigten komme gemäß § 33 Abs 2 VersVG dem Schädiger in jedem Fall zugute, sodass die Behauptung der Klägerin, die Beklagte habe diese Meldung mit Täuschungs- und Verschleierungsvorsatz unterlassen, gar nicht geprüft werden müsse.

[10] Es ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob eine anderweitige Kenntniserlangung der Versicherung vom Schadensfall im Sinne des § 33 Abs 2 VersVG auch dann die Leistungsfreiheit ausschließe, wenn der Versicherungsnehmer seine Auskunftspflicht mit Täuschungs- und Verschleierungsvorsatz verletzt habe.

[11] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass ihr 9.487,35 EUR zugesprochen werden.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu, ihr keine Folge zu geben. Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[13] 1. Im Revisionsverfahren ist ausschließlich strittig, ob der Klägerin ein Regressanspruch wegen Verletzung der Obliegenheit zur Anzeige des Versicherungsfalls durch die Beklagte zusteht.

[14] 2.1. Gemäß § 6 Abs 1 Z 1 KHVG besteht für den Versicherungsnehmer nach Eintritt eines Versicherungsfalls die Obliegenheit, dem Versicherer längstens innerhalb einer Woche ab Kenntnis den Versicherungsfall unter möglichst genauer Angabe des Sachverhalts anzuzeigen.

[15] 2.2. Da das Gesetz bei Verletzung der Anzeigeobliegenheit die Sanktion der Anspruchsverwirkung nicht anordnet, muss diese erst vereinbart werden. § 6 Abs 1 Z 1 KHVG muss also, wie auch § 33 Abs 1 VersVG, durch Vereinbarung zu einer (sekundären) Obliegenheit erhoben werden, damit – innerhalb der Grenzen des § 6 Abs 3 VersVG – Leistungsfreiheit des Versicherers eintreten kann (vgl Schauer, Das Österreichische Versicherungs-vertragsrecht3 258 f; Ramharter in Fenyves/Perner/Riedler § 33 VersVG Rz 3; Wandt in MünchKommVVG3 § 30 VVG Rn 7 f; Armbrüster in Prölss/Martin 31 § 30 VVG Rn 10). Die Klägerin behauptet, ihre Leistungsfreiheit ergebe sich aus Art 9.3.3. bzw Art 9.3.4. AKHB in Verbindung mit § 6 Abs 3 VersVG. Sie hat zwar die anwendbaren AKHB weder vorgelegt noch hat das Erstgericht deren Inhalt festgestellt, da jedoch diese Behauptung der Klägerin von der Beklagten nicht substanziiert bestritten wurde, ist von einer entsprechenden Vereinbarung auszugehen (vgl RS0039927).

[16] 3.1. Gemäß § 33 Abs 2 VersVG kann sich der Versicherer aber auf eine Vereinbarung, nach welcher er von der Verpflichtung zur Leistung frei sein soll, wenn der Pflicht zur Anzeige des Versicherungsfalls nicht genügt wird, nicht berufen, sofern er in anderer Weise vom Eintritt des Versicherungsfalls rechtzeitig Kenntnis erlangt hat. Diese Bestimmung gilt auch für das Verhältnis Versicherungsnehmer und Kfz-Haftpflichversicherer, weil das KHVG diesbezüglich keine Sonderregelungen enthält und sich aus dem KHVG auch nicht Gegenteiliges ergibt (vgl Perner, Privatversicherungsrecht Kap 7 Rz 7.98; Vrba/Maurer, Schadenersatz in der Praxis C. VI. 1).

[17] 3.2. Im vorliegenden Fall hat der Geschädigte der Klägerin den Verkehrsunfall vom 4. Februar 2020 am 5. Februar 2020 unter Vorlage einer Schadensmeldung und Fotodokumentation angezeigt (vgl § 29 Abs 1 KHVG). Ausgehend vom Wortlaut des § 33 Abs 2 VersVG kann sich die Klägerin daher nicht auf eine Verletzung der Anzeigeobliegenheit der Beklagten stützen. Sie ist jedoch der Ansicht, § 33 Abs 2 VersVG sei teleologisch dahin zu reduzieren, dass sich Versicherungsnehmer, die mit Täuschungs‑ und Verschleierungsvorsatz im Sinn von § 6 Abs 3 VersVG handeln, nicht auf § 33 Abs 2 VersVG berufen dürfen, wenn der Versicherer in anderer Weise vom Eintritt des Versicherungsfalls rechtzeitig Kenntnis erlangt hat (idS etwa auch Ramharter in Fenyves/Perner/Riedler § 33 VersVG Rz 38; Wandt in MünchKommVVG3 § 30 VVG Rn 58; Armbrüster in Prölss/Martin 31 § 30 VVG Rn 19; aM Grubmann, KHVG5 § 6 Anm 3; Brömmelmeyer in Bruck/Möller 9 § 30 VVG Rn 43; offen lassend Piontek in BeckOK-VVG15 § 30 Rn 24).

[18] 3.3. Die teleologische Reduktion verschafft der ratio legis nicht gegen einen zu engen, sondern gegen einen überschießend weiten Gesetzeswortlaut Durchsetzung. Die (verdeckte) Lücke besteht im Fehlen einer nach der ratio notwendigen Ausnahme. Sie setzt voraus, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes entgegen seinem Wortlaut überhaupt nicht erfasst sein soll und sich diese von den eigentlich gemeinten Fallgruppen so weit unterscheidet, dass eine Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt und willkürlich wäre (RS0008979; Kodek in Rummel/Lukas 4 § 7 ABGB Rz 61; Posch in Schwimann/Kodek 5 § 7 ABGB Rz 20). Diese Voraussetzungen liegen hier jedoch nicht vor:

[19] 3.3.1. § 6 Abs 3 VersVG in der geltenden Fassung wurde durch die VersVG-Novelle 1994 (BGBl 1994/509) eingeführt. Er erlaubt es dem Versicherungsnehmer – anders als die davor geltende Regelung – auch bei einer „schlicht“ vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung nach Eintritt des Versicherungsfalls den Kausalitätsgegenbeweis zu führen (RV 1553 BlgNR 18. GP  15). Nur wenn der Versicherungsnehmer eine solche Obliegenheit mit dem Vorsatz verletzt, die Beweislage nach dem Versicherungsfall zu Lasten des Versicherers zu manipulieren („dolus coloratus“), scheidet der Kausalitätsgegenbeweis aus (vgl auch RS0109766). Diese damals neu geschaffene Differenzierung zwischen „schlichtem“ Vorsatz und dolus coloratus fand jedoch keinen Niederschlag in § 33 Abs 2 VersVG, obwohl der Gesetzgeber in den Materialien zu § 6 VersVG das Beispiel der verspäteten Meldung des Versicherungsfalls sogar ausdrücklich nennt (vgl RV 1553 BlgNR 18. GP  15), Auch in darauf folgenden Novellen erfolgte keine Änderung des § 33 Abs 2 VersVG.

[20] 3.3.2. Obliegenheiten nach dem Versicherungsfall dienen dem Zweck, den Versicherer vor vermeidbaren Belastungen und ungerechtfertigten Ansprüchen zu schützen (RS0116978 [T1]). Ziel der sekundären Obliegenheiten ist somit, die sichere Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der vom Versicherer zu erbringenden Leistungen, also die sachgemäße Abwicklung des Versicherungsfalls zu gewährleisten (Fenyves in Fenyves/Perner/Riedler § 6 VersVG Rz 100 mwN; Schauer, Versicherungsvertragsrecht3 258; Kath/Kronsteiner/Kunisch/Reisinger/Wieser, Handbuch Versicherungsvertragsrecht I Rz 920). Sie haben aber auch generalpräventive Funktion, weil die Drohung mit dem Anspruchsverlust den Versicherungsnehmer motivieren soll, die Verhaltensregeln ordnungsgemäß zu erfüllen (RS0116978).

[21] 3.3.3. Es ist unbestritten, dass die verspätete Meldung des Versicherungsfalls geeignet ist, dessen sichere Feststellung sowie die Feststellung des Umfangs der vom Versicherer zu erbringenden Leistungen zu beeinträchtigen und damit zu vermeidbaren Belastungen und ungerechtfertigten Ansprüchen des Versicherers führen kann. Dies ist bei Anwendung des § 33 Abs 2 VersVG aber gerade nicht möglich, setzt dieser doch voraus, dass der Versicherer rechtzeitig vom Versicherungsfall Kenntnis erlangt hat. Die Regelung widerspricht daher nicht dem Sinn und Zweck von sekundären Obliegenheiten. Aber auch die generalpräventive Funktion solcher Obliegenheiten wird nicht beeinträchtigt, kann der Versicherungsnehmer doch nicht antizipieren, ob der Versicherer in anderer Weise rechtzeitig Kenntnis vom Eintritt des Versicherungsfalls erlangen wird. Der Versicherungsnehmer hat daher entgegen der Ansicht der Klägerin auch keinen „Spekulationsfreibrief“. Sollte der Versicherer hingegen nicht rechtzeitig Kenntnis erlangt haben, kommt ohnehin § 6 Abs 3 VersVG zur Anwendung, sodass im Fall der Verletzung der Anzeigeobliegenheit mit dolus coloratus jedenfalls Leistungsfreiheit des Versicherers besteht. Es kommt daher auch nicht zu einer „Aushebelung“ von § 6 Abs 3 VersVG.

[22] 3.3.4. Es kann somit nicht davon gesprochen werden, dass die Anwendung des § 33 Abs 2 VersVG sowohl auf jene Fälle, in denen die Anzeigeobliegenheit des § 6 Abs 1 KHVG „schlicht“ vorsätzlich, als auch auf jene, in denen sie mit dolus coloratus verletzt wurde, nicht vom Zweck der Regelung erfasst sein sollte und deren Anwendung auf diese Fälle zu sachlich ungerechtfertigten und willkürlichen Ergebnissen führen würde.

[23] 3.4. Damit ist der Umstand, dass das Erstgericht nicht festgestellt hat, zu welchem Zeitpunkt die Beklagte Kenntnis vom Versicherungsfall erlangt hat und damit überhaupt eine Verletzung der Anzeigeobliegenheit gemäß § 6 Abs 1 KHVG vorliegt, nicht rechtserheblich.

[24] 4. Die Revision ist erfolglos.

[25] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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