European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00144.24P.1023.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der mittlerweile fast 12‑jährige Minderjährige ist das Kind von Mag. C* K*. Der leibliche Vater ist ein Universitätsprofessor an der Universität Ankara für Islamische Theologie und Philosophie. Seine Vaterschaft ist weder anerkannt noch festgestellt. Die Eltern der Mutter sind verstorben.
[2] Im Sommer 2018 unterzog sich die Mutter einer Wirbelsäulen-Operation. Der Krankenhausaufenthalt und die damit verbundene Genesung dauerten 10 Wochen. In diesem Zeitraum war der Minderjährige in drei verschiedenen Haushalten untergebracht (Taufpatin, Cousine, jetzige Pflegeeltern).
[3] Als der Minderjährige wieder in den Haushalt der Mutter zurückgekehrt war, hatte sich sein Verhalten verändert. Er wurde schnell aggressiv und beschimpfte die Mutter immer wieder. Auch kam es regelmäßig zu schwierigen Situationen vor dem Kindergartenbesuch. Die Mutter war mit der Erziehung des Minderjährigen zunehmend belastet und überfordert. Die Situation spitzte sich im Zeitraum zwischen Dezember 2018 und Jänner/Februar 2019 zu. Die Mutter reagierte oft impulsiv gegenüber dem Minderjährigen, verlor schnell die Geduld und schrie mit ihm. Es kam so weit, dass sie den Minderjährigen in zumindest vier Situationen mit der flachen Hand auf den Rücken schlug.
[4] Neben den herausfordernden Situationen mit dem Minderjährigen hatte die Mutter auch gesundheitliche und finanzielle Probleme. Sie besprach ihre finanziellen und gesundheitlichen Probleme mit dem Minderjährigen sehr offen. Dies belastete den Minderjährigen sehr, weil er sich mitverantwortlich für diese Probleme sah. Die Mutter realisierte nicht, dass sie mit ihrer Offenheit den Minderjährigen belastete.
[5] Die Mutter nahm psychologische Hilfe in Anspruch, um ihr und dem Minderjährigen zu helfen. Es fanden fünf Termine statt, bis es im April 2019 zu einer Gefährdungsmeldung durch eine Kinderpsychologin kam, weil die Mutter überfordert schien und die Mutter-Kind-Dynamik verstrickt sowie konflikthaft sei.
[6] Schließlich eskalierte am 30. April 2019 die Situation. Die Mutter stand auf und bereite das Frühstück. Während des Frühstücks schüttete der Minderjährige unabsichtlich ein Glas Wasser aus. Die Mutter bat ihn, das Wasser aufzuwischen. Dies tat er nicht, sondern nahm ein weiteres Glas mit Wasser und schüttete es in das Gesicht der Mutter. Die Mutter versuchte ruhig zu bleiben. Als es Zeit war, in den Kindergarten zu gehen, wollte sich der Minderjährige nicht anziehen und auch die Wohnung nicht verlassen. Die Situation wurde immer schwieriger. Der Minderjährige nahm ein Spielschwert in die Hand und stach damit auf den Rücken der Mutter ein. Die Mutter war mit der Situation überfordert und rief ihre Freundin an. Auf deren Anraten blieb sie mit dem Minderjährigen zu Hause. Allerdings beruhigte sich die Situation nicht. Daraufhin kam die Freundin zu Hause vorbei. Aber auch dadurch ließ sich die Situation nicht deeskalieren, die Mutter und der Minderjährige schrien miteinander. Die Mutter besprach mit ihrer Freundin, dass der Minderjährige für mehrere Tage bei jemand anderem übernachten sollte, um die Situation zu entspannen. Daraufhin rief sie die jetzige Pflegemutter an und vereinbarte, dass diese am Abend den Minderjährigen abhole. Die Freundin rief die Pflegemutter allerdings kurz darauf nochmals an. Sie erklärte, dass sie die Mutter mit dem Minderjährigen nicht alleine lassen könne und dass diese sofort kommen müsse, ansonsten müsse sie das Krisenzentrum einschalten. Die Pflegemutter arrangierte alles und übernahm den Minderjährigen von der Mutter noch an diesem Tag. Seitdem lebt er bei den Pflegeeltern.
[7] Die psychische Situation der Mutter besserte sich nicht, weshalb sie die Hilfe einer Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Anspruch nahm. Dort war sie von Mai bis September 2019 stationär aufhältig und wurde mit folgender zusammengefasster Diagnose entlassen: Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig gemischte Episode, Autoimmunthyreoiditis und essentielle primäre Hypertonie.
[8] Während des stationären Aufenthalts fanden zwischen der Mutter und dem Minderjährigen alle 14 Tage Kontakte statt. Sie waren zunächst unbegleitet und für den Minderjährigen teilweise sehr schwierig, weil die Mutter ihn nicht loslassen und gehen lassen wollte. Sowohl die Mutter als auch der Minderjährige weinten. Die Mutter gab gegenüber dem Minderjährigen an, sie sei im Krankenhaus eingesperrt, es gehe ihr aber gut. Der Minderjährige machte sich für die damalige Situation verantwortlich, was die Mutter aber nicht erkannte. Aufgrund der Verfassung des Minderjährigen fanden die Kontakte in der Folge nur mehr in Begleitung der Pflegemutter oder einer Freundin der Mutter statt.
[9] In der Folge vereinbarte die Mutter mit dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger eine unterstützende Erziehung mit dem Ziel, innerhalb von sechs Monate eine stabile und langfristige Lösung für den Minderjährigen zu finden. Zudem wurden auch regelmäßige begleitete Kontakte zwischen der Mutter und dem Minderjährigen sowie eine therapeutische Unterstützung des Minderjährigen vereinbart. Die begleiteten Kontakte fanden wie folgt statt: Einmal pro Woche holte die Mutter den Minderjährigen von der Schule ab und verbrachte mit ihm drei Stunden; dazu kamen zwei Wochenend‑Tage im Monat. Bei den Kontakten waren entweder die Pflegemutter oder Freunde der Mutter als Begleitpersonen anwesend. Die Kontakte und die Übergaben des Minderjährigen wurden immer schwieriger. Sie belasteten ihn zunehmend, weil es immer wieder zu Diskussionen zwischen seiner Mutter und den Pflegeeltern kam. Außerdem verhielt sich die Mutter gegenüber der Pflegemutter misstrauisch und äußerte ihren Unmut über die Situation.
[10] Aufgrund der Schwierigkeiten sah und sieht der Minderjährige seine Mutter nunmehr einmal im Monat für drei Stunden in professioneller Begleitung. Das Ausmaß der Kontakte „passt“ für ihn. Der Minderjährige befürwortet begleitete Kontakte. Einen unbegleiteten Kontakt kann er sich nicht vorstellen, er fühlte sich ausgeliefert und hätte keine Hilfe, wenn die Mutter wieder wütend würde. Der Minderjährige fühlt sich bei den Pflegeeltern wohl. Er will weiterhin bei ihnen leben und nicht zurück zur Mutter ziehen.
[11] Die Erziehungskompetenz der Mutter, die Bedürfnisse des Minderjährigen zu erkennen und entsprechend auf diese zu reagieren, ist eingeschränkt. Die Mutter schafft es nicht ausreichend, die emotionalen Bedürfnisse des Minderjährigen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Die Sicherheit, Stabilität und emotionale Unterstützung, die der Minderjährige benötigt, kann von der Mutter im aktuellen Zeitpunkt nicht vermittelt werden. Eine Einschränkung der Mutter zeigt sich auch hinsichtlich der Grenzsetzung. Zwar gibt die Mutter dem Minderjährigen angemessenen Freiraum, unterstützt und fördert ihn somit in seinem Autonomiebestreben, schafft es aber nicht, dem Minderjährigen einen adäquaten Rahmen zu bieten sowie Grenzen zu setzen, auf welche er auch reagiert. Sollte es zu einer Rückführung des Minderjährigen zur Mutter kommen, würde diese auch den weiteren Kontakt des Minderjährigen zu den Pflegeeltern, zur Familie der Pflegeeltern (insbesondere zu den Schwestern, zur Tochter und zum Enkelkind des Pflegevaters), zur Taufpatin und zu ihrer Cousine nicht unterstützen.
[12] Das Erstgericht hat – soweit für das Revisionsrekursverfahren relevant – 1. den Antrag der Mutter auf Rückführung des Minderjährigen in ihre Pflege und Erziehung abgewiesen, 2. die Obsorge für die gesamte Pflege und Erziehung der Mutter entzogen und dem Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) übertragen, 3. der Mutter ein vorläufiges begleitetes Kontaktrecht im Ausmaß von drei Stunden pro Monat eingeräumt und 7. den Antrag der Mutter auf Einholung eines Sachverständigengutachtens über ihre Erziehungsfähigkeit abgewiesen.
[13] Dem gegen die Punkte 1., 2. und 7. der erstgerichtlichen Entscheidung erhobenen Rekurs der Mutter gab das Rekursgericht keine Folge.
Rechtliche Beurteilung
[14] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter.
[15] 1. Die behaupteten Mängel des Rekursverfahrens wurden geprüft, liegen jedoch nicht vor (§ 71 Abs 3 AußStrG).
[16] 1.1. Auch im Außerstreitverfahren ist der Oberste Gerichtshof nur Rechts‑ und nicht Tatsacheninstanz (RS0006737), weshalb Fragen der Beweiswürdigung nicht überprüft werden können. Allerdings kann mit Revisionsrekurs geltend gemacht werden, dass das Rekursverfahren an einem Mangel leidet, der eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung der Sache zu hindern geeignet war (§ 66 Abs 1 Z 2 AußStrG; 1 Ob 37/16x). Ein solcher Mangel des Rekursverfahrens liegt etwa vor, wenn sich das Rekursgericht mit den Rekursausführungen zur Beweisrüge nur unvollständig auseinandergesetzt und sich mit gewichtigen Argumenten gar nicht befasst hat („floskelhafte Scheinbegründung“; RS0043144 [T7, T8]). Dies ist hier nicht der Fall. Vielmehr hat das Rekursgericht die Beweiswürdigung des Erstgerichts überprüft und nachvollziehbare Überlegungen über die Beweiswürdigung angestellt sowie in seinem Beschluss festgehalten.
[17] 1.2. Es gehört nicht zu den Grundprinzipien des Pflegschaftsverfahrens, in jedem Fall ein psychologisches Gutachten einzuholen (vgl 7 Ob 566/89). Vielmehr kann auch die Stellungnahme eines Psychologen der Familiengerichtshilfe im Zusammenhalt mit den anderen Beweismitteln eine ausreichende Entscheidungsgrundlage darstellen. Ob im Einzelfall zusätzlich auch ein Sachverständigengutachten (hier über die Erziehungsfähigkeit der Mutter) erforderlich ist, stellt eine vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbare Frage der Beweiswürdigung dar (RS0108449 [T4]).
[18] 1.3. Widersprüchliche Feststellungen begründen keine Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens, sondern allenfalls einen sekundären Feststellungsmangel (RS0042744). Ein solcher liegt jedoch nicht vor:
[19] Die Feststellung, dass die Mutter mit dem Minderjährigen offen über ihre psychische Erkrankung gesprochen hat, betrifft den Zeitraum vor der Übersiedlung des Minderjährigen zu den Pflegeeltern im Jahr 2019, während sich die weiters von der Revision zitierte Feststellung erkennbar auf den Zeitraum nach ihrer Entlassung aus der Klinik bezieht. Bei den Feststellungen zur mangelnden Erziehungskompetenz der Mutter geht es um das Erkennen der emotionalen Bedürfnisse des Minderjährigen, während es bei den vermeintlich in Widerspruch dazu stehenden Feststellungen um dessen materielle Bedürfnisse geht. Die behaupteten Widersprüche liegen daher gar nicht vor.
[20] 2.1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB darf das Gericht die Obsorge ganz oder teilweise entziehen, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden. Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinne des § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (4 Ob 110/20k; RS0048736 [T3]). Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (§ 182 ABGB).
[21] 2.2. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeiten oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (7 Ob 67/22m mwN; RS0048633 [T19, T22); auch das Nichtbewältigen der Erziehungsaufgaben gehört dazu (RS0048633 [T18]). Wenn aber aus Gründen im Verhalten eines Elternteils sogar das Kontaktrecht eingeschränkt und Besuchsbegleitung angeordnet werden muss, ist dieser Sachverhalt in gleicher Weise als drohendes Gefahrenpotential im Zusammenhang mit der Obsorge zu erachten (RS0132193 [T3]).
[22] Bei der Obsorgeentscheidung ist auch der ernstliche Wille eines mündigen Kindes zu beachten, soll doch einem solchen Minderjährigen die Obsorge durch einen Elternteil möglichst nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werden, wenn nicht schwerwiegende Gründe dagegen sprechen und der Wunsch nicht gegen die offenbar erkennbaren Interessen des Kindes gerichtet ist (§ 138 Z 5 und Z 6 ABGB; 5 Ob 97/21g; RS0048820). Je älter ein bereits einsichts‑ und urteilsfähiges Kind ist, desto eher ist seinem Wunsch nach einem Obsorgewechsel zu entsprechen (RS0048820 [T4]). Ab dem zwölften Lebensjahr ist jedenfalls von der Urteilsfähigkeit eines Kindes bezüglich einer Obsorgezuteilung auszugehen (RS0048820 [T9]). Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass von einer Einsichts‑ und Urteilsfähigkeit eines Kindes (immer) erst ab seinem 12. Lebensjahr auszugehen ist (RS0048820 [T13]).
[23] 2.3. Die Frage des Bestehens einer Kindeswohlgefährdung (RS0048633 [T24]), ebenso wie die Frage, ob gelindere Mittel ausreichend sind (RS0132193 [T2]), hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, weshalb eine erhebliche Rechtsfrage nur vorliegt, wenn leitende Grundsätze der Rechtsprechung verletzt wurden (RS0115719 [insb auch T1, T2]).
[24] 2.4. Der Revisionsrekurs bestreitet nicht, dass sich der Minderjährige bei den Pflegeeltern wohlfühlt, er weiterhin bei diesen leben und nicht zurück zur Mutter ziehen will. Dass irgendwelche schwerwiegenden Interessen gegen diesen Wunsch sprechen würden oder der Wunsch des Kindes gegen dessen erkennbare Interessen gerichtet wäre, behauptet der Revisionsrekurs ebenfalls nicht und ergibt sich dies auch nicht ansatzweise aus dem Akteninhalt. Es gibt auch keinerlei Anhaltspunkte in Richtung einer Beeinflussung des Willens des Minderjährigen. Bei der festgestellten Vorgeschichte und dem deutlich geäußerten Willen des Minderjährigen bestünde die realistische Gefahr, dass genau jene Probleme, die im April 2019 zur Eskalation der Situation zwischen ihm und seiner Mutter geführt haben, wieder auftreten, würde der Minderjährige jetzt in den Haushalt der Mutter zurückgeführt werden. Weiters ist zu berücksichtigen, dass der Minderjährige bereits mehr als fünf Jahre fremduntergebracht ist, aufgrund des Verhaltens der Mutter nicht einmal unbegleitete Kontakte funktionieren und der Minderjährige diese (auch) ablehnt. Schließlich ist zu bedenken, dass die Erziehungsfähigkeit der Mutter deutlich eingeschränkt ist, was sich darin zeigt, dass sie es nicht schafft, die emotionalen Bedürfnisse des Minderjährigen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren, nicht in der Lage ist, dem Minderjährigen Grenzen zu setzen, auf die er reagiert und weiters darin, dass sie im Fall der Rückführung des Minderjährigen einen weiteren Kontakt zu jenen Personen nicht unterstützen würde, die in den letzten Jahren seine engsten und wichtigsten Bezugspersonen waren.
[25] Bei diesem Sachverhalt ist auch nicht erkennbar, welche gelinderen Maßnahmen ausreichend sein sollten.
[26] 2.5. Wenn die Vorinstanzen bei diesen Umständen des Einzelfalls eine Kindeswohlgefährdung durch die Mutter angenommen haben, bedarf dies keiner Korrektur durch den Obersten Gerichtshof.
[27] 3. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).
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