European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00012.21X.0224.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung lautet:
„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 13.780,56 EUR samt 4 % Zinsen aus 13.678,13 EUR seit 19. Jänner 2016 sowie 4 % Zinsen aus 102,43 EUR seit 12. März 2016 zu zahlen, wird abgewiesen.
2. Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 25.976,74 EUR (darin enthalten 2.807,79 EUR USt und 9.130 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen.“
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.413,12 EUR (darin enthalten 235,52 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 2.448,90 EUR (darin enthalten 169,65 EUR USt und 1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Die Klägerin schloss für ihr Fahrzeug mit dem beklagten Versicherer einen „Eurovollkasko“-Versicherungsvertrag, dem die Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrzeug‑Kaskoversicherung (AKKB 2015) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:
„ Artikel 7
Was ist vor bzw nach Eintritt des Versicherungsfalles zu beachten?
(Obliegenheiten)
…
2. Als Obliegenheiten, die zum Zweck der Verminderung der Gefahr oder der Verhütung einer Erhöhung der Gefahr dem Versicherer gegenüber zu erfüllen sind und deren Verletzung im Zeitpunkt des Versicherungsfalles die Freiheit des Versicherers von der Verpflichtung zur Leistung gemäß den Voraussetzungen und Begrenzungen des § 6 Abs 2 VersVG (siehe Anlage) bewirkt, werden bestimmt,
…
2.2. dass sich der Lenker nicht in einem durch Alkohol oder Suchtgift beeinträchtigten Zustand befindet.
3. Als Obliegenheiten, deren Verletzung nach Eintritt des Versicherungsfalles die Freiheit des Versicherers von der Verpflichtung zur Leistung gemäß den Voraussetzungen und Begrenzungen des § 6 Abs 3 VersVG (siehe Anlage) bewirkt, werden bestimmt,
…
3.2. nach Möglichkeit zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen;“
[2] Der damalige Lebensgefährte der Klägerin rief sie – wie bereits vorher vereinbart – am Sonntagmorgen des 20. 12. 2015 gegen 2:30 Uhr zu Hause an und bat sie, ihn von der Weihnachtsfeier in einem Lokal abzuholen. Die Klägerin, die zuvor bereits eingeschlafen war, fuhr daraufhin mit ihrem bei der Beklagten versicherten PKW von zu Hause bergwärts in Richtung des Lokals. Es war kalt und dunkel. Schnee lag nicht auf der Fahrbahn. Die Fahrbahnoberfläche war „zunächst nicht rutschig“. An exponierten höher gelegenen Straßenstellen waren aufgrund gefrierender Feuchtigkeit Vereisungen vorhanden.
[3] Als sich die Klägerin der ersten Kehre (Linkskurve) mit ungefähr 50 km/h näherte, schaltete sie vom dritten Gang in den zweiten zurück. In der Linkskurve verlor sie die Kontrolle über das Fahrzeug, dieses kam ins Rutschen und kollidierte mit der am rechten Straßenrand befindlichen Leitschiene. Durch die Kollision mit der Leitschiene wurde der PKW an der gesamten rechten Fahrzeugflanke stark beschädigt. Der rechte Scheinwerfer fiel aus. An der Leitschiene entstanden durch die Kollision Kontaktspuren. Der Leitschienensteher wurde im geringen Ausmaß durch eine nicht stark ausgeprägte Schlagspur beschädigt.
[4] Durch das Unfallgeschehen war die Klägerin geschockt, weinte und zitterte. Aufgrund ihres Schockzustands dachte sie nicht daran, aus dem beschädigten Fahrzeug auszusteigen, um die Schäden am Fahrzeug zu begutachten oder die Leitschiene auf vorhandene Schäden zu prüfen. Sie wollte von der Unfallstelle nur „weg“. Sie reversierte mit dem Fahrzeug aus der Unfallendstellung, wodurch ein weiterer Schaden im Zuge der Rückwärtsfahrt im Heckbereich der rechten Fahrzeugseite zwischen der unteren Berührspur und der Heckleuchte im Seitenbereich des Fahrzeugs entstand.
[5] Sie beschloss mit dem beschädigten Fahrzeug in langsamer Fahrt zum Lokal bergwärts weiter zu fahren. Durch die fortgesetzte Fahrt mit dem im Zuge der Kollision entlüfteten Reifen rollte sich das Felgenhorn auf der zusammengefalteten Reifenwand ab und es entstanden innen ein ausgeprägter Materialabtrag sowie außen Materialausbrüche und Schnitte, die durch die Kanten der Rollsplittkörner verursacht wurden. Ihr Lebensgefährte, der auf der Terrasse des Lokals auf ihr Eintreffen wartete, sah sie langsam auf der Straße fahren und bemerkte, dass sie das Fahrzeug unterhalb des Lokals anhielt. Er begab sich daraufhin zum Fahrzeug und befragte die Klägerin, die „komplett fertig und geschockt“ war. Die Klägerin ersuchte ihn, ihre Tochter telefonisch zu verständigen. Nachdem der Lebensgefährte den Wirt des Lokals gebeten hatte, das Fahrzeug dort stehen zu lassen, stellte die Klägerin ihr Fahrzeug ab. Sie und ihr Lebensgefährte wurden von ihrer Tochter abgeholt.
[6] Die Klägerin verständigte nicht die Polizei. Sie ging davon aus, nachdem sie keine Schäden an der Leitschiene wahrgenommen hatte, dass für sie keine Verpflichtung zur Anzeige gegenüber der Polizei besteht. Am Montag veranlasste der Lebensgefährte den Transport des beschädigten Fahrzeugs durch einen Abschleppdienst in eine Werkstatt. Am 22. 12. 2015 (Dienstag) erstattete die von der Klägerin beauftragte Versicherungsmaklerin der Beklagten eine Schadensmeldung.
[7] Die Beklagte verweigert der Klägerin die Zahlung der durch den Vorfall entstandenen Reparaturkosten von gesamt 14.080,56 EUR.
[8] Die Klägerin begehrt von der Beklagten aus dem Kaskoversicherungsvertrag – unter Abzug des vereinbarten Selbstbehalts von 300 EUR – die Zahlung der Reparaturkosten von 13.780,56 EUR sA. Sie habe mit dem versicherten Fahrzeug in der Nacht ihren Lebensgefährten von einer Weihnachtsfeier abholen wollen und sei mit geringer Geschwindigkeit bergauf unverschuldet auf der rechten Flanke gegen die Leitplanke „abgedriftet“. Da kein Fremdschaden eingetreten sei, habe sie den Unfall nicht der Polizei gemeldet. Sie habe ihr Handy zu Hause gelassen und habe niemanden verständigen können. Aufgrund ihres Schockzustands habe sie den Schaden an der Leitschiene nicht erkannt. Sie sei beim Unfallereignis weder alkoholisiert noch übermüdet noch in sonst irgendeiner Weise beeinträchtigt gewesen.
[9] Die Beklagte wendete – zusammengefasst und für das Revisionsverfahren wesentlich – ein, dass sie nach § 6 Abs 3 VersVG leistungsfrei sei, weil die Klägerin, obwohl eine Beschädigung der Leitplanke deutlich erkennbar gewesen sei, den Schaden nicht der nächsten Polizeidienststelle gemeldet habe. Aufgrund der eingetretenen Schäden spreche viel dafür, dass in Wahrheit ihr Lebensgefährte das Fahrzeug in alkoholisiertem Zustand talwärts gelenkt und nach dem Unfall beim Lokal abgestellt habe. Sie habe die genauen Umstände der Schadenszufügung verschleiert, insbesondere „dass die Beschädigung [...] im alkoholisierten Zustand des Lenker“ erfolgt sei. Bei einer unverzüglichen Anzeige bei der Polizei wäre die Überprüfung möglich gewesen, „ob“ das Kollisionsgeschehen „in alkoholisiertem Zustand erfolgte oder nicht“.
[10] Das Erstgericht gab – auch im dritten Rechtsgang – dem Klagebegehren statt. Das Unterlassen der polizeilichen Meldung sei nicht als Obliegenheitsverletzung zu werten. Die Beklagte habe keine konkrete Verdachtslage unter Beweis stellen können, die infolge Unterlassens der Anzeige objektiv im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Die Beschädigung der Leitschiene sei lediglich geringfügig und kaum sichtbar gewesen. Allenfalls liege in der „Nichtmeldung“ nur eine leichte Fahrlässigkeit der Klägerin, weil solche Schäden von einer Mehrheit von Personen in ähnlicher Situation nicht angezeigt würden und die Schäden der Klägerin auch nicht bewusst gewesen seien. Sie habe nicht ihre Mitwirkungspflicht verletzt. Gesprächsaufzeichnungen des Mobiltelefons im relevanten Zeitraum würden nicht existieren und es würde auch ihre Mitwirkungspflicht überspannen, nachträglich Unterlagen erstellen zu lassen. Die Beklagte habe erstmals im gerichtlichen Verfahren die Bekanntgabe des Namens und der Anschrift des ehemaligen Lebensgefährten der Klägerin verlangt. Der Beklagten sei die Begutachtung der Reifen in der Reparaturwerkstätte nicht verwehrt worden; es bestehe auch keine Verpflichtung zur Aushändigung von Beweisgegenständen an einen möglichen Prozessgegner.
[11] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Rechtlich führte es aus, die Klägerin habe in Anbetracht des Ausmaßes des Fahrzeugschadens keinesfalls davon ausgehen dürfen, dass Spuren und Schäden an der Leitschiene ohnedies nicht vorhanden seien. Schon aufgrund der evidenten Anstoßwucht und der Tatsache, dass der rechte Scheinwerfer ausgefallen gewesen sei, habe ihr klar sein müssen, dass auch eine Beschädigung der Leitschiene naheliegend gewesen sei, was allenfalls nach Abklingen des Unfallschocks auch noch am nächsten Tag zur Anzeige gebracht hätte werden können. Die Klägerin habe die Übertretung des § 4 Abs 5 StVO, der sie zur Anzeigeerstattung verpflichtet habe, zu vertreten. Ihr sei aber der Nachweis nach § 6 Abs 3 VersVG (Kausalitätsgegenbeweis) gelungen, dass die unterlassene Anzeige weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers einen Einfluss gehabt habe. Durch die unterbliebene polizeiliche Anzeige seien die auf der beschädigten Leitschiene vorhandenen „Abreibspuren“ als mögliche Beweismittel zur Aufklärung der Unfallumstände nicht vereitelt, sondern die Beschädigungen zeitlich später durch Mitarbeiter der Beklagten selbst in Augenschein genommen und dokumentiert worden. Für die Beklagte seien durch die unterlassene Anzeige keine Nachteile im Zusammenhang mit den Schäden an der Leitschiene und der Klärung des Unfallhergangs entstanden. Die Klägerin sei außergerichtlich nie von der Beklagten nach der Adresse ihres damaligen Lebensgefährten gefragt worden. Dieser sei auch kein unmittelbarer Zeuge gewesen, auch wenn er Aufklärung zum Unfallhergang geben hätte können, habe er doch die Klägerin zur nächtlichen Fahrt veranlasst und ihre Fahrt mit dem beschädigten Fahrzeug bis zum Parkplatz des Lokals beobachtet.
[12] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil „zur Frage, ob ein Verstoß gegen die Verpflichtung, bei der Aufklärung des Sachverhaltes nach besten Kräften aktiv mitzuwirken, auch dann vorliegt, wenn eine Versicherungsnehmerin trotz unterbliebener polizeilicher Meldung des Unfalls […] auf die im Formular der Unfallmeldung gestellte Frage nach Zeugen, die über den Unfallhergang oder über einen allfälligen Alkoholkonsum des Lenkers Auskunft gegen können, nicht von sich aus unverzüglich auch den Namen und die Anschrift von Personen bekannt gibt, die zwar beim eigentlichen Unfallgeschehen nicht anwesend waren, aber die Unfallfahrt veranlasst haben oder sonst für den Nachweis des Eintritts des Versicherungsfalles wesentliche Angaben machen können, bisher keine höchstgerichtliche Rechtsprechung“ bestehe.
[13] Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[14] Die Klägerin begehrt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[15] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und auch berechtigt.
[16] 1. Zur Aufklärungsobliegenheit (hier Art 7.3.2. AKKB 2015) gibt es eine ständige höchstgerichtliche Rechtsprechung, wonach sie ein Versicherungsnehmer dann verletzt, wenn er einen von ihm verursachten Verkehrsunfall der nächsten Polizeidienststelle nicht meldet, sofern er zur sofortigen Anzeigeerstattung nach § 4 StVO verpflichtet ist und im konkreten Fall etwas versäumt wurde, das zur Aufklärung des Sachverhalts dienlich gewesen wäre. Die Übertretung des § 4 Abs 5 StVO ist für sich allein nicht schon einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheit gleich zu halten. Es ist vielmehr notwendig, dass ein konkreter Verdacht in eine bestimmte Richtung durch objektives „Unbenützbarwerden“ (objektive Beseitigung) eines Beweismittels infolge Unterlassung der Anzeige im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Der konkrete Verdacht und die Unbenützbarkeit des Beweismittels muss der Versicherer behaupten und beweisen (RS0043520). Vom Versicherungsnehmer ist in Entsprechung der Versicherungsbedingungen und § 4 Abs 2 sowie 5 StVO zu verlangen, nach einem Unfall in jedem Fall einer wahrgenommenen Verletzung einer Person oder Beschädigung von fremden Sachgütern ohne jede Rücksicht auf die anscheinende Geringfügigkeit dieses Schadens eine Polizeianzeige zu erstatten (vgl RS0074495). Eine Unfallmeldung kann nur unterlassen werden, wenn ausschließlich der den Unfall verursachende Lenker, der zugleich Versicherungsnehmer ist, verletzt oder sein eigenes Fahrzeug beschädigt wurde (RS0074483). Die Höhe des Schadens selbst ist ohne Bedeutung. Für die vorsätzliche Obliegenheitsverletzung genügt das allgemeine Bewusstsein des Versicherungsnehmers, dass er bei der Aufklärung des Sachverhalts nach besten Kräften aktiv werden muss (RS0080477). Dieses Bewusstsein ist mangels besonderer Entschuldigungsumstände bei einem Versicherungsnehmer, der selbst Kraftfahrer ist, bis zum Beweis des Gegenteils vorauszusetzen (7 Ob 55/18s mwN = RS0080477 [T18]).
[17] 2. Die Aufklärungsobliegenheit des Versicherungsnehmers soll nicht nur nötige Feststellungen über den Unfallablauf, die Verantwortlichkeit der Beteiligten und den Umfang des entstandenen Schadens ermöglichen, sondern auch die Klarstellung aller jener Umstände gewährleisten, die für allfällige Regressansprüche des Versicherers von Bedeutung sein können. Darunter fällt auch die objektive Prüfung der körperlichen Beschaffenheit des am Unfall beteiligten Versicherungsnehmers hinsichtlich einer allfälligen Alkoholisierung oder Übermüdung (RS0081010).
[18] 3. Beim Unfall entstanden durch die Kollision an der Leitschiene Kontaktspuren. Der Leitschienensteher wurde in geringem Ausmaß durch eine nicht ausgeprägte Schlagspur beschädigt, was bei genauer Betrachtung in unmittelbarer Nähe sichtbar war. Es lag somit eine Beschädigung fremder Sachgüter vor. Zutreffend führte das Berufungsgericht aus, dass die Klägerin ihre Anzeigepflicht nach § 4 Abs 5 StVO missachtete, durfte sie doch in Anbetracht des Ausmaßes des Fahrzeugschadens nicht davon ausgehen, dass Spuren und Schäden an der Leitschiene nicht vorhanden sind. Aufgrund der evidenten Anstoßwucht und der Tatsache, dass der rechte Scheinwerfer ausgefallen war, musste ihr klar sein, dass auch eine Beschädigung der Leitschiene vorliegt. Diese wäre ihr auch erkennbar gewesen, wäre sie aus dem Fahrzeug ausgestiegen. Dass die Klägerin ihr Handy nicht bei sich hatte, entband sie nicht von der Verständigung der nächstgelegenen Polizeidienststelle, verfügte sie doch beim Lokal, zu dem sie noch mit dem stark beschädigten Fahrzeug gefahren war, über entsprechende Möglichkeiten.
[19] 4. Der Beklagten gelang es auch, eine konkrete Verdachtslage für eine allfällige Alkoholisierung der Klägerin zu beweisen. Es steht nicht fest, dass die Fahrbahn an der Unfallstelle rutschig war, es lang kein Schnee. Sie fuhr in der Vorweihnachtszeit, am frühen Morgen und verlor in der Kurve (ohne erkennbare Ursache) die Kontrolle über ihr Fahrzeug, das zum Rutschen kam und mit der am rechten Straßenrand befindlichen Leitschiene kollidierte. Dies begründet bereits eine ausreichende Verdachtslage für eine mögliche Alkoholisierung der Klägerin, die vor dem Unfall bereits geschlafen hatte.
[20] 5. Die Klägerin war – nach den Feststellungen – nach dem Unfall geschockt, weinte und zitterte. Sie dachte aufgrund ihres Schockzustands nicht daran, aus dem beschädigten Fahrzeug auszusteigen. Wie der Oberste Gerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, entlastet ein bloßer Unfallschreck nicht vom Vorwurf vorsätzlicher Verletzung der Obliegenheit. Hiezu ist vielmehr eine dermaßen starke Zerrüttung der Bewusstseinsbildung und Willensbildung der betroffenen Person erforderlich, dass diese als „unzurechnungsfähig“ anzusehen wäre (RS0081381; zuletzt 7 Ob 231/05d). Dies ist aber nach den Verhaltensweisen der Klägerin unmittelbar nach dem Unfall keineswegs anzunehmen. Sie legte nach dem Unfall eine längere Strecke mit dem Fahrzeug bis zum Lokal zurück was ein bewusstes, zielgerichtetes Handeln darstellt, sodass sie trotz ihres Schockzustands zumindest dort in der Lage gewesen sein musste, die Polizei zu verständigen. Damit steht jedenfalls eine grob fahrlässige Verletzung der Verpflichtung nach § 4 Abs 5 StVO und der allgemeinen Aufklärungsobliegenheit fest.
[21] 6.1. Unter Kausalitätsgegenbeweis ist der Nachweis zu verstehen, dass die Obliegenheitsverletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers einen Einfluss gehabt hat (§ 6 Abs 3 VersVG; RS0116979 [T6]). Dass – bei „schlicht“ vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Begehung der Obliegenheitsverletzung, wovon aufgrund der unterlassenen Verständigung der Polizei auszugehen ist – diese nicht den genannten Einfluss gehabt hat, ist vom Versicherungsnehmer im Verfahren erster Instanz zu behaupten und zu beweisen (RS0043728; RS0081313). Der Versicherungsnehmer hat den Beweis der fehlenden Kausalität seiner Obliegenheitsverletzung „strikt“ zu führen. An diesen Beweis sind strenge Anforderungen zu stellen. Es ist nicht etwa nur die Unwahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs darzutun (RS0079993; RS0081313 [T18, T26]). Ein wirksamer Gegenbeweis setzt voraus, dass ihm eine Beweislage zugrunde liegt, die jener gleichwertig ist, die der Versicherte durch seine Obliegenheitsverletzung zerstört oder eingeschränkt hat. Es geht nicht an, eine für den Versicherer erkennbar relevante Beweissituation zunächst untergehen zu lassen und später, nachdem dem Versicherer keine Möglichkeit einer Widerlegung mehr offen steht, durch nicht mehr objektivierbare Aussagen oder sonstige Beweismitteln zu ersetzen (RS0081225 [T3]; 7 Ob 119/15y mwN).
[22] 6.2. Das Erstgericht gelangte zur Feststellung, dass die Klägerin vor der Fahrt keinen Alkohol konsumierte und weder übermüdet noch durch Suchtmittel beeinträchtigt war, bloß durch Beweiswürdigung nur unzureichender, nicht gleichwertiger Beweismittel. Es stützte sich auf die Aussage der Klägerin und ihre Angaben in einem „Ergänzenden Fragebogen“ rund drei Wochen nach dem Unfall. Der vom Erstgericht gerade nicht festgestellte Alkoholkonsum basiert nicht auf objektiver Beweisgrundlage. Hätte die Klägerin ihrer Aufklärungsobliegenheit entsprochen und den von ihr verursachten Unfall der nächsten Polizeidienststelle gemeldet, hätte der Verdacht ihrer Alkoholisierung objektiv ausgeschlossen werden können. Ihre Aussage allein ist einer objektiven Beweislage nicht gleichwertig. Gleiches gilt für die Präzisierung der Unfallstelle.
[23] 7. Die Beklagte ist infolge Verletzung der Aufklärungsobliegenheit nach Art 7.3.2. AKKB 2015 leistungsfrei, sodass der Revision Folge zu geben und das Klagebegehren abzuweisen ist. Auf die anderen relevierten Rechtsfragen kommt es nicht mehr an.
[24] 8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41 und 50 ZPO. Entsprechend den Einwendungen der Klägerin zum Kostenverzeichnis der Beklagten sind die Urkundenvorlage vom 12. 10. 2016 nur nach TP 1 RATG, der Antrag auf Gutachtenserörterung vom 15. 11. 2016 nur nach TP 2 RATG (vgl 7 Ob 270/08v mwN), die Einwendungen gegen die Kostennote vom 16. 12. 2016 nicht (§ 54 Abs 1a letzter Satz ZPO) und die Vertagungsbitte vom 13. 2. 2020 ebenfalls nicht zu honorieren, weil diese allein in der Sphäre der Beklagten lag (vgl RS0121621). Das Vorbringen der Beklagten im Schriftsatz vom 27. 1. 2020, das das Erstgericht nicht zurückwies, war dagegen zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig.
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