OGH 6Ob157/23s

OGH6Ob157/23s21.2.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei W* g.m.b.H. & Co KG, FN *, *, vertreten durch Lattenmayer Luks & Enzinger Rechtsanwälte GmbH in Wien, und deren Nebenintervenientin G* Gesellschaft m.b.H., FN *, vertreten durch Dr. Peter Karlberger und andere Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei F*‑GmbH, FN *, vertreten durch Dr. Volker Riepl, Rechtsanwalt in Linz, wegen 373.335,80 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 31. Mai 2023, GZ 3 R 34/23a‑118, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 23. Jänner 2023, GZ 10 Cg 18/19f‑109, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00157.23S.0221.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile insgesamt zu lauten hat:

„1. Die Klagsforderung besteht mit 26.810,13 EUR zu Recht.

2. Die eingewendete Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 26.810,13 EUR samt 9,2 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 15. 4. 2019 binnen 14 Tagen zu bezahlen.

4. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei weitere 346.525,67 EUR samt 9,2 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 15. 4. 2019 zu bezahlen, wird abgewiesen.“

Die Kostenaussprüche der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Fällung einer neuen Entscheidung über die Kosten des erst‑ und des zweitinstanzlichen Verfahrens aufgetragen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 6.355,36 EUR (darin enthalten 3.356,10 EUR an Barauslagen und 499,88 EUR an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte tauschte im Auftrag der Klägerin im Zuge der Sanierung eines Gebäudes die Fenster aus (auf Holz‑Alu‑Fenster samt Blindstöcken, Sprossen, innere Fensterbänke, innere Laibungsarbeiten, Außen‑ und Innenjalousien). Die Beklagte verbaute dabei Fenstergläser (Isoliergläser) mit geringerem Schalldämmwert als vereinbart. Die Nebenintervenientin war von der Klägerin mit der Erstellung der Ausschreibungsunterlagen, der Durchführung des Vergabeverfahrens sowie der Generalplanung und örtlichen Bauaufsicht beauftragt. Nach Schlussrechnungsprüfung wurde von der Klägerin bzw der Nebenintervenientin ein Schlussrechnungsbetrag von 1.831.723,88 EUR brutto anerkannt und (insgesamt) dieser Betrag an die Beklagte ausbezahlt. Zwischen den Parteien wurde ein Haftrücklass von 5 % der Gesamtsumme (einschließlich Umsatzsteuer) vereinbart, weshalb die Klägerin insgesamt einen Betrag von 91.586,20 EUR in bar als Haftrücklass einbehielt. Nach dem Werkvertrag wird „für die Isoliergläser (Gewährleistungsfrist 10 Jahre) [...] ein Haftrücklass in der Höhe von 5 % vom 0,4‑fachen Anteil der Positionssummen mit Isolierglas einbehalten“.

[2] Die Klägerin begehrte ursprünglich 464.922 EUR wegen behaupteter Mängel, gestützt auf Gewährleistung (Mängelbehebungskosten, alternativ Preisminderung) und Schadenersatz. Die Beklagte habe sich geweigert, die mangelhaften Fenster auszutauschen und Fenster mit dem vereinbarten Mindestschalldämmwert einzubauen. Der Klagsbetrag entspreche den Kosten der Mängelbehebung durch Ersatzvornahme. In der Tagsatzung vom 10. 7. 2020 schränkte die Klägerin ihr Klagebegehren „um den tatsächlich einbehaltenen Haftrücklass in Höhe von 91.586,20 EUR“ auf 373.335,80 EUR ein. Die Klägerin schloss sich dazu dem Vorbringen ihrer Nebenintervenientin an, die erklärt hatte, diese Klagseinschränkung habe keine Kostenfolgen, weil sich aus den Positionen 00 00 21 33 und 00 00 21 34 des Werkvertrags ergäbe, dass der Haftrücklass hinsichtlich der Fensterrahmen für fünf und hinsichtlich des Isolierglases für zehn Jahre vereinbart worden sei. Die Schlussrechnung sei im Oktober 2016 gelegt worden, weshalb bislang keine Verpflichtung bestanden habe, den ausstehenden Haftrücklass auch tatsächlich anzurechnen.

[3] Die Beklagtewendete ein, sie habe vertragsgemäß und mängelfrei geleistet. Ein Fenstertausch wäre unverhältnismäßig, weil die Fenster ihre Funktion erfüllten und zu keinen Beanstandungen der Mieter geführt hätten. Aufgrund der allfälligen geringen Abweichungen des Schallschutzwerts würde ein redlicher Verkehrsteilnehmer keinesfalls einen Glastausch auf eigene Kosten vornehmen. In der letzten Tagsatzung vom 18. 10. 2022 wendete die Beklagte „in eventu“ die Forderung auf Zahlung des Haftrücklasses von 91.586,20 EUR, deren Fälligkeit am 31. 5. 2021 eingetreten sei, kompensando als Gegenforderung ein.

[4] Die Klägerin bestritt diese Gegenforderung „unter Verweis auf das bisherige Vorbringen“ und verwies weiters darauf, dass „die Gewährleistungsansprüche zu Recht bestünden“.

[5] Das Erstgerichterkannte die (eingeschränkte) Klagsforderung (373.335,80 EUR sA) als zur Gänze zu Recht, die Gegenforderung hingegen als nicht zu Recht bestehend und gab der Klage (mit Ausnahme eines Teils des Zinsenbegehrens) statt. Bei der Abweichung des vertraglich vereinbarten Schallschutzwerts handle es sich um keinen geringfügigen Mangel. Der Klägerin stünden die nicht unverhältnismäßigen Kosten für die Ersatzvornahme zu. Der Haftrücklass sei mangels Ablaufs der 10‑jährigen Gewährleistungsfrist zwar nicht von den Mängelbehebungskosten abzuziehen. Da die Klägerin ihre Klage eingeschränkt habe, stehe ihr der Klagsbetrag voll zu.

[6] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die Klagsforderung mit 95.557,05 EUR zu Recht, die Gegenforderung hingegen nicht zu Recht bestehe und erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin 95.557,05 EUR samt 9,2 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 15. 4. 2019 zu bezahlen. Das Mehrbegehren wies es (rechtskräftig) ab und ließ die ordentliche Revision nicht zu. Mangels entscheidender Gebrauchsbeeinträchtigung liege ein geringer Mangel vor. Der Unverhältnismäßigkeitseinwand der Beklagten sei berechtigt, weshalb kein Anspruch auf Verbesserung bestehe. Der Klägerin stehe jedoch die zugesprochene angemessene Preisminderung von 95.557,05 EUR zu. Der Haftrücklass sei mangels Ablaufs der 10‑jährigen Gewährleistungsfrist von diesem Preisminderungsanspruch nicht abzuziehen.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die gegen den Zuspruch eines Teilbetrags von 68.746,92 EUR sA gerichtete außerordentliche Revision der Beklagten ist zulässig, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf; sie ist auch berechtigt.

[8] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur mehr die Frage der „Anrechnung“ (gemeint die Aufrechnung) des Haftrücklasses auf die vom Berufungsgericht (unbekämpft) ausgemittelte Preisminderung.

[9] Die Revision macht geltend, dass die Klägerin durch die Klagseinschränkung bereits mit dem Haftrücklass von 91.586,20 EUR aufgerechnet habe. Eine 10‑jährige Gewährleistungsfrist sei nur für die Isoliergläser vereinbart worden, für die Fensterrahmen hingegen nur eine 5‑jährige Gewährleistungsfrist und für sonstige Leistungen eine 3‑jährige Gewährleistungsfrist. Sowohl die drei‑ als auch die 5‑jährige Gewährleistungsfrist seien bereits vor Schluss der Verhandlung abgelaufen, weshalb der Haftrücklass, soweit er nicht die mangelhaften Isolierglasfenster betreffe, fällig sei. Die Klägerin dürfe daher nur den anteiligen Haftrücklass für die Isolierglasfenster einbehalten, das seien entsprechend der vertraglichen Regelung 22.839,28 EUR. Der darüber hinausgehende Betrag von 68.746,92 EUR sei seit 31. 5. 2021 zur Rückzahlung an die Beklagte fällig und beim Zuspruch an die Kläger mindernd zu berücksichtigen. Die Beklagte sei daher im Ergebnis nur schuldig, der Klägerin 26.810,13 EUR samt 9,2 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit 15. 4. 2019 zu bezahlen.

Hiezu wurde erwogen:

[10] 1. Bei einem Haftrücklass darf der Schuldner gegen die Forderung des Gläubigers auf Auszahlung des Haftrücklasses mit einer ihm selbst gegen den Gläubiger – aus welchem Grund auch immer – zustehenden Geldforderung aufrechnen (9 Ob 28/19m [ErwGr 5.2.]).

[11] 2. Für die Forderung des Aufrechnungsgegners, gegen die aufgerechnet werden soll, ist die Fälligkeit nicht zu fordern, wenn der Aufrechnende berechtigt ist, vorzeitig zu zahlen (RS0033731). Im Falle einer vorzeitig zahlbaren Schuld des Aufrechnenden wirkt die spätere Aufrechnungserklärung auf den Zeitpunkt zurück, in dem die Forderung des Aufrechnenden fällig und die Forderung des Aufrechnungsgegners vorzeitig erfüllbar waren und sich so gegenüberstanden (RS0033762).

[12] 3. Der „Abzug“ des Haftrücklasses vom Klagsbetrag durch die Klagseinschränkung und das dazu erstattete Vorbringen der Klägerin kann nur dahin verstanden werden, dass sie den Haftrücklass aufgrund der behaupteten Mängel einbehält und daher mit der Klagsforderung aus Gewährleistung und/oder Schadenersatz gegen die Forderung der Beklagten auf Zahlung des Haftrücklasses unbedingt aufrechnet (vgl RS0033970). Dies entspricht auch dem erkennbaren Verständnis des Erstgerichts. Die Klägerin steht im Rechtsmittelverfahren selbst auf dem Standpunkt, der Haftrücklass habe infolge ihrer Klagseinschränkung bereits mindernd Berücksichtigung gefunden.

[13] 4. Die Klägerin hat daher mit ihrem fälligen Anspruch, den das Berufungsgericht (unbekämpft) mit 95.557,05 EUR ausgemittelt hat, bereits in der Tagsatzung vom 10. 7. 2020 gegen die gesamte Haftrücklassforderung der Beklagten von 91.586,20 EUR wirksam aufgerechnet (zur Aufrechnung mit der Preisminderungsforderung gegen die Werklohnforderung vgl 6 Ob 97/17h; RS0018759). Dem steht nicht entgegen, dass der Haftrücklass allenfalls noch nicht fällig war (Punkt 2.; vgl 6 Ob 113/05v), zumal auch weder behauptet wurde noch den Feststellungen zu entnehmen ist, dass die Klägerin nicht berechtigt gewesen wäre, den Haftrücklass vorzeitig an die Beklagte auszubezahlen. Im Gegenteil wünscht die Beklagte im Rechtsmittelverfahren gerade diese Aufrechnung.

[14] 5. Bei der Ermittlung des der Klägerin zustehenden Betrags ist daher die gesamte Haftrücklassforderung der Beklagten vom ermittelten Preisminderungsanspruch der Klägerin von 95.557,05 EUR abzuziehen. Auf die Fälligkeit einzelner Teile des Haftrücklasses kommt es nicht an. Die Forderung der Beklagten auf Auszahlung des Haftrücklasses wurde durch diese Aufrechnung getilgt. Eine diesbezügliche Gegenforderung der Beklagten besteht nicht.

[15] 6. Da die Revision lediglich die weitere Abweisung von 68.746,92 EUR sA begehrt, ist sie zur Gänze berechtigt.

[16] 7. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf §§ 50, 41 Abs 1 ZPO. Zur Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz wird auf die jüngere Judikatur verwiesen, wonach in komplexen Verfahren die Kostenentscheidung der ersten Instanz aufgetragen werden kann (RS0124588 [T13]).

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