European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00131.23T.0618.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.261,40 EUR (darin 376,90 EUR an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).
[2] Der im Jahr 1948 geborene Ehemann der Klägerin zog im Dezember 2005 aus der Ehewohnung aus, wünschte zumindest ab diesem Zeitpunkt die Scheidung von der Klägerin und lebte fortan von ihr getrennt. Am 15. 12. 2018 wurde er im von der Beklagten betriebenen Krankenhaus stationär aufgenommen, wo er bis zu seinem Tod am 6. 2. 2019 behandelt wurde. Im Krankenhaus äußerte der Ehemann, nachdem es am Vortag bei einem Besuch zu Unstimmigkeiten zwischen der Klägerin und ihm gekommen war, am 19. und 20. 12. 2018 gegenüber dem Krankenhauspersonal ausdrücklich den Wunsch, dass er keine weiteren Besuche seiner Ehefrau und seiner Kinder mehr haben wolle und an diese auch keine Behandlungs- und Krankenunterlagen weitergegeben werden sollen.
[3] Der Ehemann der Klägerin ging 2015 in Pension. Zum Zeitpunkt seines Todes und davor erhielt er eine Nettopension von monatlich rund 1.500 EUR. Der Verstorbene leistete an die Klägerin über längere Zeit auf freiwilliger Basis monatliche Unterhaltszahlungen von rund 590 EUR. Eine Verlassenschaftsabhandlung unterblieb mangels den Wert von 5.000 EUR übersteigender Aktiva. Vom 1. 1. 2018 bis 31. 12. 2020 hatte die Klägerin ihre Arbeitszeit auf 50 % reduziert und erhielt ein monatliches Nettoeinkommen von rund 2.000 EUR und zusätzlich zu ihrem Arbeitseinkommen noch eine monatliche Pension von netto rund 1.700 EUR ausbezahlt. Zuvor hatte sie monatlich netto über 2.500 EUR verdient. Mit Ablauf des 31. 12. 2020 stellte die Klägerin ihre Berufstätigkeit ein und bezog seitdem eine eigene Alterspension von monatlich netto rund 2.600 EUR.
[4] Die Klägerin begehrt die Herausgabe einer Abschrift sämtlicher Behandlungs- und Krankenunterlagen ihres verstorbenen Ehemanns für den Zeitraum ab 15. 12. 2018. Der Tod ihres Ehemanns sei durch eine nicht lege artis erfolgte Behandlung grob fahrlässig verursacht worden. Sie habe gegenüber dem Verstorbenen einen Unterhaltsanspruch gehabt, von diesem bis zu seinem Tod auch regelmäßig Unterhaltszahlungen erhalten und daher gegenüber der Beklagten einen Schadenersatzanspruch nach § 1327 ABGB. Darüber hinaus habe sie Anspruch auf Schadenersatz für Trauerschmerzengeld und Schockschaden. Sie habe ein rechtliches Interesse an der Herausgabe der entsprechenden Behandlungs- und Krankenunterlagen, um das Vorliegen einer nicht lege artis erfolgten Behandlung beweisen zu können. Mit einer eingebrachten (weiteren) Klage habe die Klägerin ihre Ansprüche auf Trauerschmerzengeld und nach § 1327 ABGB gegenüber der – hier wie dort – Beklagten geltend gemacht. Dieser Prozess sei bis zur rechtskräftigen Erledigung des gegenständlichen Verfahrens unterbrochen. Der Verstorbene sei am 19. und 20. 12. 2018 geistig nicht mehr in der Lage gewesen, eine klare Willensäußerung zu tätigen. Auch wenn die Klägerin und ihr Ehemann eine getrennte Wohnsituation gehabt hätten, hätten sie sehr guten und intensiven Kontakt gepflegt. Es sei von einem Einverständnis des Verstorbenen zur Ausfolgung seiner Behandlungs- und Krankenunterlagen an die Klägerin auszugehen.
[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.
[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Es bewertete den Entscheidungsgegenstand mit 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteigend und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Eines psychiatrischen Gutachtens zum Geisteszustand des Verstorbenen habe es nicht bedurft, weil der Anspruch der Klägerin bereits mangels Vorliegens eines rechtlichen Interesses zu verneinen sei. Zwar könne die Darlegung eines (groben) schuldhaften Behandlungsfehlers nicht verlangt werden. Ungeachtet dessen bestünden aber die von der Klägerin behaupteten Ansprüche bereits aus anderen Gründen nicht. Sie habe keinen gesetzlichen Unterhaltsanspruch gehabt. Zum behaupteten Trauerschaden habe die Klägerin kein ausreichendes Vorbringen zu den von der Judikatur aufgestellten Kriterien, insbesondere hinsichtlich der intensiven Gefühlsbindung, erstattet. Selbst wenn man ein ausreichendes Vorbringen annehmen wollte, könne für den Fall, dass der Verstorbene bei seiner Äußerung, wonach keine Behandlungs- und Krankenunterlagen weitergegeben werden sollen, nicht einsichtsfähig gewesen sein sollte, nur auf seinen mutmaßlichen Willen abgestellt werden. Angesichts des Scheidungswunsches, der langjährigen Trennung und des Umstands seiner Alkoholkrankheit sei nicht davon auszugehen, dass der Verstorbene eine Einbeziehung seiner Angehörigen gewünscht hätte. Zudem wäre bei dieser Abwägung seit dem 2. Erwachsenenschutzgesetz selbst dem gesundheitlich eingeschränkten Willen des Patienten Bedeutung beizumessen.
[7] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil keine Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob die in der Entscheidung 1 Ob 550/84 aufgestellten Grundsätze auch nach Inkrafttreten des ÄrzteG 1998 aufrecht bliebensowie ob und inwieweit die Bestimmungen der §§ 24, 241, 253 ABGB idF des 2. Erwachsenenschutzgesetzes (BGBl I 59/2017) für Begehren auf Ausfolgung von Krankenunterlagen von Bedeutung seien, wenn sich ein (allenfalls in seiner Entscheidungsfähigkeit eingeschränkter) Patient gegen die Herausgabe von Unterlagen ausspreche.
Rechtliche Beurteilung
[8] Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig:
[9] 1. Die behauptete Mangelhaftigkeit des zweitinstanzlichen Verfahrens liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).
[10] 2.1. Die Wahrnehmung einer im erstinstanzlichen Verfahren unterlaufenen Nichtigkeit ist in dritter Instanz nicht mehr möglich, wenn das Berufungsgericht – wie hier – darauf eingegangen ist und das Vorliegen einer solchen Nichtigkeit verneint hat (RS0042981). Dabei genügt es, wenn die Verneinung einer Nichtigkeit durch das Berufungsgericht nur in den Entscheidungsgründen erfolgt ist (RS0042917 [insb T3]).
[11] 2.2. Die neuerlich gerügten Verfahrensfehler erster Instanz im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Stoffsammlungsmangel hat das Berufungsgericht verneint. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können angebliche Verfahrensmängel erster Instanz, die vom Gericht zweiter Instanz nicht als solche anerkannt worden sind, in dritter Instanz nicht mehr geltend gemacht werden (RS0042963; RS0106371; RS0043919).
[12] 3.1. In der nach Inkrafttreten des ÄrzteG 1998 ergangenen Rechtsprechung wurde das Bestehen eines berechtigten privaten Interesses des die Einsicht begehrenden Dritten sowohl für das Vorliegen des Ausnahmetatbestands des Schutzes höherwertiger Interessen nach § 54 Abs 2 Z 4 ÄrzteG 1998 (6 Ob 229/18x [ErwGr 2.1.]; RS0117236; vgl auch 2 Ob 162/16m [ErwGr III 2.1]), hier iVm § 14 Abs 2 TirKAG, als auch für die Beurteilung des (hypothetischen) mutmaßlichen Willens des Verstorbenen, den Arzt von seiner Verschwiegenheitspflicht zu entbinden (vgl 2 Ob 162/16m [ErwGr III 2.5 und 2.7]), als erforderlich angesehen.
[13] 3.2. Die Auffassung des Berufungsgerichts, Voraussetzung für ein Recht der Klägerin auf Einsicht in die Krankengeschichte des Verstorbenen und Ausfolgung von Kopien daraus sei das Vorliegen eines berechtigten Interesses der Klägerin, findet Deckung in der erörterten Rechtsprechung.
[14] Die Revision tritt dieser Ansicht des Berufungsgerichts bei. Sie ist aber der Auffassung, die Klägerin habe ein berechtigtes Interesse in Form von bestehenden Schadenersatzansprüchen gegen die (auch) hier beklagte Krankenhausbetreiberin ausreichend dargelegt.
[15] 4.1. Die Klägerin stützte ihr berechtigtes Interesse auf einen Schadenersatzanspruch nach § 1327 ABGB. Sie habe gegenüber dem Verstorbenen einen Unterhaltsanspruch gehabt und von diesem bis zu seinem Tod auch regelmäßig Unterhaltszahlungen erhalten. Der Verstorbene habe die Klägerin damit finanziell unterstützen wollen.
[16] 4.2. § 1327 ABGB enthält eine Sonderregel zugunsten mittelbar Geschädigter und gewährt nach ständiger Rechtsprechung den nach dem Gesetz unterhaltsberechtigten Personen Ansprüche auf Ersatz einer entgangenen tatsächlichen Unterhaltsleistung. Grundvoraussetzung des Anspruchs nach § 1327 ABGB ist das Bestehen eines gesetzlichen Unterhaltsanspruchs (vgl RS0031391). Bei der Bemessung ihrer Schadenersatzansprüche ist grundsätzlich von den Verhältnissen (bis) zum Todes- bzw Verletzungszeitpunkt auszugehen (2 Ob 150/08k [ErwGr 2.]). Es kommt nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auf die tatsächliche Leistung des Unterhaltspflichtigen an den Unterhaltsberechtigten auch dann an, wenn sie über das gesetzliche Maß hinausgeht (RS0031342 [T2]), aber doch einigermaßen im Verhältnis zu ihr steht (RS0031410). Freiwillige und ohne Rechtsgrund geleistete Zuwendungen genügen zur Anspruchsbegründung jedoch nicht (RS0031698).
[17] 4.3. Nach den Feststellungen lebten die Klägerin und der Verstorbene seit vielen Jahren getrennt. Die Klägerin erzielte und erzielt ein beträchtlich höheres eigenes Erwerbs- und Pensionseinkommen als der Verstorbene, der die Zahlungen an die Klägerin auf freiwilliger Basis leistete. Die Revision tritt der Verneinung eines aktuellen gesetzlichen Unterhaltsanspruchs durch das Berufungsgericht auch nicht weiter entgegen.
[18] 4.4. Zwar wird ein Feststellungsinteresse der Hinterbliebenen schon dann bejaht, wenn das bestehende Rechtsverhältnis noch zu einer Unterhaltsverpflichtung führen könnte (2 Ob 150/08k [ErwGr 3.1.]; 2 Ob 239/97d). Anhaltspunkte, dass eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung des verstorbenen Ehemanns künftig dennoch zum Tragen hätte kommen können, hat die Klägerin aber weder vorgebracht noch ergeben sich solche aus dem Sachverhalt (vgl 2 Ob 12/91). Vielmehr bezog und bezieht die Klägerin eine eigene Alterspension, die jene des Verstorbenen erheblich übersteigt.
[19] 4.5. Wenn das Berufungsgericht daher nicht von möglichen künftigen gesetzlichen Unterhaltsansprüchen der Klägerin ausging und auch die freiwilligen Zahlungen des Verstorbenen nicht als anspruchsbegründend iSd § 1327 ABGB ansah, ist darin keine aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.
[20] 5.1. Die Klägerin stützt ihren weiters behaupteten Anspruch auf Schadenersatz für Trauerschmerzen und Schockschaden mangels Anhaltspunkten für eine deliktische Haftung der beklagten Krankenhausbetreiberin erkennbar auf den Behandlungsvertrag mit dem Verstorbenen.
[21] 5.2. Im Fall eines Vertrags mit Schutzwirkungen zugunsten Dritter erwirbt der Dritte unmittelbare vertragliche Ansprüche gegen den Schuldner (RS0037785 [T34, T45]), der dann auch gemäß § 1313a ABGB für das Verschulden jener Personen haftet, deren er sich zur Erfüllung bediente (RS0037785 [T34]; 5 Ob 82/19y). Für die Beurteilung des begünstigten Personenkreises ist maßgebend, dass bei objektivem Verständnis typischerweise, bei üblichen Sozialstrukturen, eine auffallende innige familiäre Nahebeziehung zu erwarten ist, sodass der aus dem Vertrag Hauptleistungspflichtige mit der Einbeziehung der fraglichen Personengruppe in den geschützten Personenkreis rechnen musste (6 Ob 241/21s [ErwGr 1.3.]; 4 Ob 176/19i; 7 Ob 105/17t). Dabei ist eine generalisierende Betrachtungsweise erforderlich. Dass im Einzelfall besondere, von den üblichen Sozialstrukturen abweichende Verhältnisse vorgelegen haben mögen, ist für die vorzunehmende objektive Auslegung der personellen Reichweite möglicher Schutzwirkungen des Behandlungsvertrags nicht von Belang (4 Ob 176/19i [ErwGr 2.1. ff]; 7 Ob 105/17t [ErwGr 7. f]).
[22] 5.3. Nach diesen Grundsätzen wertete der Oberste Gerichtshof den Schmerzengeld (selbst) für einen Trauerschaden mit Krankheitswert begehrenden Ehegatten einer Patientin nur dann als eine der Leistung aus dem ärztlichen Behandlungsvertrag nahestehende Person, wenn die Lebensgemeinschaft aufrecht war und keine Hinweise auf eine bereits eingetretene Entfremdung (etwa durch eine de facto vorgenommene Trennung) bestanden (9 Ob 83/09k). Erwachsene Geschwister des Patienten sind hingegen vom Kreis der von einem Behandlungsvertrag geschützten Dritten selbst dann nicht mehr umfasst, wenn sie noch in häuslicher Gemeinschaft leben (4 Ob 176/19i [Trauerschmerzengeld]) oder eine innige Gefühlsgemeinschaft bestand (7 Ob 105/17t [Trauerschmerzengeld und Schockschaden]).
[23] 5.4. Im vorliegenden Fall lebten die Klägerin und der Verstorbene seit Dezember 2005 getrennt. Der Verstorbene wünschte ab diesem Zeitpunkt die Scheidung von der Klägerin. Diese führte nach einem Rechtsstreit mit dem Verstorbenen gegen diesen auch Exekution. Schon deshalb bedarf die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Klägerin könne ein berechtigtes Interesse nicht erfolgreich auf einen Anspruch gegen die Krankenhausbetreiberin auf Ersatz eines Trauerschadens mit oder ohne Krankheitswert stützen, keiner Korrektur durch den Obersten Gerichtshof.
[24] 6. Auf einen Anspruch auf Ersatz der Begräbniskosten hat sich die Klägerin in erster Instanz nicht gestützt. Darauf kann daher nicht mehr eingegangen werden (vgl RS0042014).
[25] 7. Ob und allenfalls in welcher Weise auch eine zu Lebzeiten erfolgte Äußerung eines nicht entscheidungsfähigen Verstorbenen, womit er sich gegen die Herausgabe von Krankenunterlagen an die Klägerin aussprach, bei der Interessensabwägung zu berücksichtigen wäre, kann mangels Relevanz dahinstehen. Die Revision enthält dazu auch keinerlei Ausführungen.
[26] 8. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
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