European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0050OB00097.21G.0727.000
Spruch:
Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen, die in Ansehung der Entziehung der Obsorge des Vaters als unangefochten unberührt bleiben, im Übrigen aufgehoben.
Die Rechtssache wird insoweit zur Ergänzung des Verfahrens und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Die derzeit 15 bzw 14 Jahre alten Minderjährigen entstammen der noch aufrechten Ehe ihrer Eltern, die sich im Sommer 2018 getrennt haben. Der Vater hat kaum mehr Kontakt zu seinen Kindern. Ihm wurde die Obsorge rechtskräftig entzogen. Diese kommt derzeit der Mutter allein zu, in deren Haushalt sie leben.
[2] Die Familie wurde bereits vor der Trennung der Eltern sozialpädagogisch und psychologisch wegen Auffälligkeiten beider Kinder betreut, die sich aber im Lauf des Jahres 2017 reduzierten, sodass die Betreuung wieder beendet wurde.
[3] Nach der Trennung der Eltern im Sommer 2018 kam es neuerlich zu Verhaltensauffälligkeiten beider Minderjähriger. Bei L***** zeigte sich beginnendes delinquentes Verhalten und Suchtmittelkonsum, A***** verweigerte den Schulbesuch. Seit Mai 2019 wurde die Familie durch flexible Hilfe bei der Erziehung unterstützt. Von März 2019 bis Dezember 2020 kam es in sieben Fällen zu polizeilichen Ermittlungen gegen L***** wegen Sachbeschädigung, Diebstahl, Nötigung, gefährlicher Drohung und einem Vergehen nach dem SMG. Bis auf das Verfahren wegen gefährlicher Drohung, das zu einem Strafantrag und zu einer Verurteilung (Schuldspruch ohne Strafe) führte, wurden die Strafverfahren eingestellt.
[4] Auch gegen A***** wurden zwischen November 2019 und Juli 2020 polizeiliche Ermittlungen wegen Sachbeschädigung, Diebstahl, Unterschlagung und Nötigung geführt, die jeweils eingestellt wurden.
[5] Der Vater übernahm schon in der Vergangenheit keine erzieherische Verantwortung und wirkte auch im Verfahren nicht mit. Die Minderjährigen waren jahrelang in elterliche Konflikte involviert und erlebten massiv grenzüberschreitendes, gewalttätiges und abwertendes Verhalten des Vaters, das sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigt hat.
[6] Die Mutter will beide Kinder in ihrem Haushalt weiter betreuen, erziehen und versorgen, sie hat hohes Interesse an ihnen und liebt sie. Ihre Erziehungskompetenz ist aber eingeschränkt. Defizite bestehen in der Strukturgebung, dem elterlichen Lenkungsverhalten und in der Fähigkeit zur Grenzsetzung. Sie übernimmt keine ausreichende erzieherische Verantwortung, sondern sieht die Ursache für das Fehlverhalten der Minderjährigen in externen Umständen. Sie hat eine reduzierte psychische Belastbarkeit, sodass fraglich ist, ob es ihr nachhaltig gelingen kann, konsequente Maßnahmen und Grenzen zu setzen und auf widerständiges Verhalten der Minderjährigen entsprechend einzugehen.
[7] L***** hat eine positive Beziehung zu seiner Mutter, erfährt in deren Haushalt aber keine ausreichende Struktur, Orientierung und Halt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit treten bei einer weiteren Hauptbetreuung im Haushalt der Mutter weitere Fehlentwicklungen auf.
[8] A***** hat erhöhten Unterstützungsbedarf wegen einer Impulskontrollstörung und einer geringen Frustrationstoleranz. Wegen ihrer zeitweisen Leistungsverweigerung in der Schule braucht sie eine stabile Struktur und Förderung, um einen Schulabschluss zu ereichen, was im Haushalt der Mutter nicht ausreichend gewährleistet ist.
[9] Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragte, den Eltern gemäß § 181 ABGB die Obsorge zur Gänze zu entziehen und sie ihm zu übertragen. Die Vernachlässigung beider Minderjähriger auf körperlicher Ebene, in medizinischer Hinsicht, aber vor allem im erzieherischen, kognitiven und emotionalen Bereich habe zu massiven Folgeschäden bei beiden Kindern geführt, die sich delinquent und dissozial verhalten. Dazu kommen bei L***** eine Tendenz zu Suchtverhalten und eine depressive Symptomatik, bei A***** selbstverletzende Verhaltensweisen.
[10] Der Vater machte seine Zustimmung zur vollen Erziehung durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger vom Einverständnis der Minderjährigen abhängig.
[11] Die Mutter sprach sich gegen die Obsorgeübertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger aus, der Obsorgeentziehung gegenüber dem Vater stimmte sie zu. Sie bestritt jegliche Vernachlässigung der Minderjährigen, die im Fall der Fremdunterbringung ihre einzige familiäre Bezugsperson verlieren würden. Nach der Trennung vom Vater habe sie neue Kräfte sammeln und ihr Leben neu orientieren können. Sie sei bereit, mit den Behörden eng zusammenzuarbeiten.
[12] L***** erklärte vor dem Erstrichter, bei der Mutter bleiben zu wollen. Es sei ihm klar, dass er nichts mehr anstellen dürfe und dass es wichtig sei, welche Freunde er habe.
[13] Auch A***** sprach sich dafür aus, bei der Mutter zu bleiben, wo sich die Situation sehr verbessert habe. Sie sei in einem falschen Freundeskreis gewesen. Sollte sie in eine Wohngemeinschaft übersiedeln müssen, werde sie das Beste daraus machen.
[14] Das Erstgericht entzog den Eltern die Obsorge für beide Kinder und übertrug sie an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Über die eingangs wiedergegebenen Feststellungen hinaus ging es aufgrund des kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens davon aus, die Mutter habe sich seit der Trennung vom Vater zwar bemüht, die Kinder im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu erziehen und zu unterstützen, aufgrund ihrer Defizite in der pädagogischen Kompetenz aber Fehlentwicklungen beider Kinder selbst mit Unterstützung des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers nicht verhindern können. Bei den Kindern und der Mutter bestünden psychische Belastungen mit entwicklungsgefährdendem Potenzial für die Minderjährigen. Während der Vater durch sein offensichtliches Desinteresse und die mangelnde Eignung das Kindeswohl gefährde, sei dies bei der Mutter wegen deren eigener Belastung und der Einschränkungen ihrer pädagogischen Kompetenz gepaart mit der mangelnden Bereitschaft, externe Hilfestellungen in Anspruch zu nehmen, der Fall. Aufgrund der Entwicklungen in der Vergangenheit sei für die Zukunft keine Verbesserung der Lebens‑ und Entwicklungssituation der Minderjährigen durch Unterstützung von Erziehungshilfen zu erreichen. Wegen der in den letzten zwei Jahren zunehmenden Delinquenz sei eine rasche Veränderung der Pflege‑ und Erziehungssituation der Minderjährigen geboten, weshalb beiden Eltern gemäß § 181 Abs 1 ABGB die Obsorge zu entziehen und diese an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger zu übertragen sei, zumal weder nahe Bezugspersonen noch weitere andere geeignete Personen dafür in Frage kämen.
[15] Diese Entscheidung ist in Bezug auf den Entzug der Obsorge des Vaters in Rechtskraft erwachsen.
[16] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter nicht Folge. Es teilte die Rechtsauffassung des Erstgerichts. Soweit die Mutter die objektive Verletzung oder Vernachlässigung ihrer Erziehungspflichten bestreite, stehe dies mit unbekämpften Feststellungen im Widerspruch. Widerspenstiges Verhalten von Kindern in der Pubertät sei zwar keine Seltenheit, dies zeige sich aber nur in Ausnahmefällen in wiederholter Begehung gerichtlich strafbarer Handlungen. Den Umstand, dass die Mutter eine wichtige Bezugsperson für die Kinder sei, habe das Erstgericht mit dem Hinweis berücksichtigt, dass bei Fremdunterbringung regelmäßige Kontakte ermöglicht werden müssten. Dass das auffällige Verhalten von L***** samt Delinquenz und Suchtmittelkonsum eine Abwehrreaktion auf die Einrichtung flexibler Hilfe durch den Kinder‑ und Jugendhilfeträger gewesen wäre, entspreche ebenso wenig den Feststellungen wie die Behauptung, die Mutter habe ihr Verhalten bereits stark verbessert. Die Wünsche der Kinder habe das Erstgericht berücksichtigt, sie hätten gegenüber der objektiven Beurteilung der Kindesinteressen aufgrund der aktuellen Kindeswohlgefährdung zurückzustehen.
[17] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht wegen der Einzelfallabhängigkeit dieser Beurteilung nicht zu.
[18] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter aus den Gründen der Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung, in dem sie die Abänderung der Entscheidung der Vorinstanzen im Sinn einer Abweisung des sie betreffenden Obsorgeentziehungsantrags anstrebt. Hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
[19] Der Vater und die beiden Minderjährigen haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt, der Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragt in der freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[20] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil den Entscheidungen der Vorinstanzen der Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 2 AußStrG anhaftet, der im Revisionsrekursverfahren – analog § 55 Abs 3 AußStrG – von Amts wegen wahrzunehmen ist. Er ist demgemäß insoweit auch berechtigt.
[21] 1. Die im Revisionsrekurs behauptete Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens wurde geprüft, sie liegt nicht vor. Der Rekurs enthielt keine die (abgewiesenen) Anträge auf ergänzende gutachterliche Befundung oder Vernehmung des nunmehrigen Lebensgefährten der Mutter betreffende Verfahrensrüge. Das Rekursgericht hatte sich daher damit nicht zu befassen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
[22] 2.1. Gemäß § 181 ABGB hat das Gericht die zur Sicherung des Kindeswohls nötigen Verfügungen zu treffen, sofern die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl eines minderjährigen Kindes gefährden. Solche Verfügungen können nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB – unter anderem – vom Kinder‑ und Jugendhilfeträger beantragt werden. Die im Revisionsrekurs angesprochenen Fragen nach der Reichweite des § 180 Abs 1 ABGB stellen sich hier nicht, weil der Obsorgentziehungantrag des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers jedenfalls eine Kindeswohlgefährdung voraussetzt, die die Vorinstanzen aufgrund der Festellungen bejaht haben. Soweit die Mutter im Revisionsrekurs eine Kindeswohlgefährdung im Fall des Verbleibs der Minderjährigen in ihrem Haushalt in Abrede stellt, ignoriert sie die den Obersten Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren grundsätzlich bindenden Tatsachenfeststellungen (vgl RIS‑Justiz RS0108449). Eine abschließende rechtliche Beurteilung ist dessen ungeachtet noch nicht möglich.
[23] 2.2. Eine Parteistellung im Obsorgeverfahren kann sich nämlich losgelöst von der Antragslegitimation nach § 181 Abs 2 Satz 1 ABGB auch daraus ergeben, dass die Entscheidung iSd § 2 Abs 1 Z 3 AußStrG unmittelbar in die rechtlich geschützte Stellung einer Person eingreift. Eine solche Rechtsposition verschafft § 178 ABGB dem (bisher nicht obsorgeberechtigten) Elternteil, den Großeltern und den Pflegeeltern. § 178 ABGB normiert im Fall der Verhinderung eines allein obsorgeberechtigten Elternteils die Übertragung der Obsorge an einen anderen Elternteil, die Großeltern (den Großelternteil) oder die Pflegeeltern (den Pflegeelternteil). Letzteres gilt nach § 178 Abs 1 letzter Satz ABGB auch, wenn beide Elternteile betroffen sind. Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben nach § 178 ABGB daher Vorrang vor Dritten (RS0123509 [T1]; 1 Ob 189/18b; 5 Ob 143/19v mwN; 5 Ob 41/20w). Nur wenn weder Eltern noch Großeltern oder Pflegeeltern mit der Obsorge betraut sind oder betraut werden können, ist eine andere geeignete Person mit der Obsorge zu betrauen (§ 204 ABGB). Die Übertragung der Obsorge an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger kann dabei nur das letzte Mittel zur Hintanhaltung einer Gefährdung des Kindeswohls sein. Das Gericht hat die Obsorge dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger nur dann zu übertragen, wenn sich dafür Verwandte oder andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen nicht finden (§ 209 ABGB).
[24] 2.3. Konsequenz der in § 178 ABGB normierten materiellen Rechtsposition der Eltern, Großeltern und Pflegeeltern ist deren Parteistellung im Verfahren. Soll die Obsorge daher dem bisher allein obsorgeberechtigten Elternteil entzogen und einer anderen Person übertragen werden, hat der andere Elternteil jedenfalls Parteistellung. Stellt sich heraus, dass beide Elternteile nicht imstande sind, die Obsorge zum Wohl des Kindes auszuüben, also eine dritte Person (dann aber vorrangig die Großeltern) damit betraut werden muss, kommt den Großeltern Parteistellung zu (1 Ob 189/18b; 5 Ob 143/19v; 5 Ob 41/20w; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG2 § 2 Rz 108). Das materielle Recht schützt die Stellung letzterer also dann, wenn nicht der andere Elternteil betraut wird oder auch dieser verhindert ist (5 Ob 143/19v mwN; 5 Ob 41/20w).
[25] 2.4. Im Hinblick auf die von den Vorinstanzen verneinte Eignung beider Eltern hätten sie hier daher die Parteistellung der Großeltern der Kinder berücksichtigen müssen. Aktenkundig ist (vgl die Stellungnahme des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers ON 24, S 7), dass zumindest die Eltern der Mutter (teilweise) in die Kinderbetreuung eingebunden waren. Ob die Eltern des Vaters noch leben, ist dem Akt nicht zu entnehmen. Weder die mütterlichen noch allenfalls noch lebende väterliche Großeltern wurden aber zur Verhandlung geladen oder ihnen die Verfahrensergebnisse oder die Beschlüsse der Vorinstanzen zugestellt. Darin ist eine Verletzung des ihnen nach § 15 AußStrG zu gewährenden rechtlichen Gehörs zu erblicken (1 Ob 189/18b; 5 Ob 143/19v; 5 Ob 41/20w).
[26] 2.5. Dieser Entzug des rechtlichen Gehörs zwingt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im Außerstreitverfahren zwar nur dann von Amts wegen wahrzunehmen, wenn sie Einfluss auf die Richtigkeit der Entscheidung haben konnte (RS0119971 [T7]). Gemäß § 58 Abs 1 AußStrG ist vor der Entscheidung auf Aufhebung und Zurückverweisung der Außerstreitsache an eine der Vorinstanzen also grundsätzlich zu überprüfen, ob nicht eine Bestätigung selbst aufgrund der Angaben im Rechtsmittelverfahren oder eine Abänderung ohne weitere Erhebungen möglich ist. Hier waren aber die Großeltern zu einem Vorbringen gar nicht in der Lage, so dass die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs im Revisionsrekursverfahren zur Aufhebung führen muss (5 Ob 41/20w mwN). Eine Sanierung durch Zustellung lediglich des rekursgerichtlichen Beschlusses im Sinn eines Vorrangs der Sacherledigung (vgl RS0123128) kommt hier nicht in Betracht, weil die Gehörverletzung mit der Notwendigkeit einer Verfahrensergänzung einhergeht (1 Ob 189/18b; 5 Ob 41/20w). Die – eines entsprechenden Tatsachensubstrats entbehrende – Rechtsausführung des Erstgerichts, nahe Bezugspersonen und weitere andere geeignete Personen kämen zur Übernahme der Obsorge nicht in Betracht, reicht nicht aus.
[27] 3.1. Da die Obsorgeentscheidung zukunftsbezogene Rechtsgestaltung ist, kann sie nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf aktueller und ausreichender Sachverhaltsgrundlage beruht (RS0106312). Das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich geltende Neuerungsverbot ist daher im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen müsste, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RS0106312 [T1]).
[28] 3.2. Die Mutter argumentiert im Revisionsrekurs auch damit, sie lebe seit einigen Monaten mit ihrem neuen Lebensgefährten zusammen, der selbst Vater von drei minderjährigen Kindern sei, mit deren Mutter er Doppelresidenz vereinbart habe. Die Kinder ihres Lebensgefährten hielten sich daher im gemeinsamen Haushalt der Mutter und ihres neuen Lebensgefährten auf. Auf diese geänderten Lebensumstände hätten weder das Sachverständigengutachten noch die Entscheidungen der Vorinstanzen Bedacht genommen. Da hier die Einschränkungen und Defizite der pädagogischen Kompetenz der Mutter maßgeblich für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung durch die Vorinstanzen waren, sich eine geänderte stabile Beziehungssituation samt Unterstützung durch den neuen Lebensgefährten aber auf die Erziehungskompetenz der Mutter (allenfalls) positiv auswirken könnte, wird das Erstgericht nicht nur die Großeltern dem Verfahren beizuziehen, sondern auch zu dieser Frage Feststellungen zu treffen haben. Dabei wird auch auf die Ausführungen in der Revisionsrekursbeantwortung, wonach sich keine Veränderung in den erzieherischen Defiziten der Mutter ergeben habe, Bedacht zu nehmen sein.
[29] 3.3. Im fortgesetzten Verfahren wird zu berücksichtigen sein, dass § 138 ABGB als wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls unter anderem die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit zur Meinungsbildung (Z 5) und die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um‑ und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleiden könnte (Z 6) nennt. Auch wenn der Wunsch des Kindes bei der Obsorgeentscheidung nach der Rechtsprechung nicht allein den Ausschlag geben kann (RS0048981), ergibt sich aus § 138 Z 5 und Z 6 sowie § 160 Abs 3 ABGB, dass einem 15‑jährigen und einer 14‑jährigen Minderjährigen nach Möglichkeit nicht gegen deren Willen die Obsorge durch einen bestimmten Elternteil aufgezwungen werden soll (RS0048818). Zu 4 Ob 110/20k hat der Oberste Gerichtshof diese Grundsätze auch für den Fall einer (dort vorläufigen) Obsorgeentziehung und Übertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger angewendet, dem schließt sich der erkennende Senat an. Auch einem ausdrücklich erklärten Wunsch der Kinder, bei der Mutter zu bleiben, wäre aber dann nicht Rechnung zu tragen, wenn schwerwiegende Gründe gegen die Berücksichtigung ihres Wunsches sprechen und dieser gegen die erkennbaren Interessen des Kindes gerichtet ist (4 Ob 79/20a; RS0048820), wie dies nach den bisher getroffenen Feststellungen hier nahe liegt.
[30] 3.4. Letztlichbedarf die Tatsachengrundlage noch einer Ergänzung in Bezug auf die mit einer (allfälligen) Fremdunterbringung verbundenen Nachteile für die Minderjährigen. Ohne Zweifel greift nämlich eine Obsorgeübertragung an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger und die damit verbundene Fremdunterbringung der Kinder in einem Krisenzentrum oder Heim massiv in deren Leben ein, sodass nicht auszuschließen ist, dass die damit verbundenen gravierenden Auswirkungen auf die Lebenssituation der beiden schon Jugendlichen (selbst im Licht der jüngsten Entwicklungen) mehr schaden als nützen könnten (vgl 4 Ob 110/20k). Es bedarf daher konkreter Feststellungen, die eine Prognose der Auswirkungen einer – allenfalls gegen deren Willen erfolgenden – Fremdunterbringung auf sie ermöglicht. Dazu werden zweckmäßigerweise die Minderjährigen neuerlich zu vernehmen sein, denen nun beiden Parteifähigkeit und besondere Verfahrensfähigkeit (§ 104 Abs 1 AußStrG) zukommt. Im fortgesetzten Verfahren sind daher – neben der Zustellung der Sachentscheidung – auch die wesentlichen Beweisergebnisse und alle sonstigen Entscheidungen zuzusstellen, die für die Minderjährigen unmittelbar erheblich sind (Beck in Gitschthaler/Höllwerth AußStrG II2 § 104 Rz 27).
[31] 3.5. Erst nach Beiziehung der Großeltern und der Ergänzung der Tatsachengrundlage im dargestellten Umfang wird abschließend über die Berechtigung des Obsorgeentziehungsantrags des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers in Bezug auf die Mutter entschieden werden können.
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