Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Sachbeschluss wird dahin abgeändert, dass die Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bleibt gemäß § 78 Abs 1 AußStrG dem Erstgericht vorbehalten.
Text
Begründung
Antragsteller und Antragsgegner sind Mit- und Wohnungseigentümer des Hauses 1140 Wien, H*****straße 9. Mit den Miteigentumsanteilen des Antragstellers ist Wohnungseigentum an der Wohnung Top 8 untrennbar verbunden. Diese Wohnung und die benachbarte Wohnung Top 7 weisen auf der Gartenseite Balkone auf, die sich in baufälligem Zustand befinden und derzeit nicht benützbar sind.
Der Antragsteller strebt eine Sanierung dieser Balkone an und leitete zusammen mit dem nunmehrigen Sechstantragsgegner zunächst das Verfahren 12 Msch 11/04b des Bezirksgerichts Fünfhaus ein, in dem die Miteigentümer am 20. September 2004 einen Vergleich folgenden Inhalts schlossen:
„1. Die Wohnungseigentümer kommen überein, die gartenseitigen Balkone der Wohnungen W7 und W8 durch Neuerrichtung in Leichtbauweise zu sanieren und dazu bis zum 15.11.2004 Aufträge an die Fa. P***** GmbH auf Basis des Kostenvoranschlages vom 17.06.2004 und Karl F***** auf Basis des Kostenvoranschlages vom 03.06.2004 zu erteilen.
2. Bis zu Gesamtkosten von EUR 22.000 werden die Kosten von den beiden Antragstellern zu 50 %, zu 50 % von den übrigen Wohnungseigentümern getragen. Darüber hinaus gehende Kosten werden nach dem bisherigen Verteilungsschlüssel getragen."
Mit Sachbeschluss vom 16. Dezember 2005, 12 Msch 20/05b-3, stellte das Bezirksgericht Fünfhaus fest, dass ein vom damaligen Verwalter (nun Viertantragsgegner) im Juli 2005 im Haus ausgehängtes Schreiben des Inhalts, die Eigentümer seien stillschweigend übereingekommen, den Vergleich nicht zu erfüllen, keinen rechtsgültigen Beschluss der Wohnungseigentümer darstellte.
Mit Bescheid der MA 37 vom 12. Dezember 2006 wurde den Miteigentümern der Liegenschaft der Bauauftrag erteilt, die zu den Wohnungen Top 7 und Top 8 gehörigen Balkone an der Gartenfront instand setzen zu lassen, sodass ihre Tragfähigkeit gewährleistet ist, sowie das Balkongeländer wieder montieren zu lassen.
Der Antragsteller begehrt, die Miteigentümer der Liegenschaft durch gerichtliche Entscheidung gemäß § 30 Abs 1 WEG zur Durchführung der im Bescheid vom 12. Dezember 2006 aufgetragenen Maßnahmen zu verpflichten. Der Viertantragsgegner als ehemaliger Verwalter der Liegenschaft habe die im gerichtlichen Vergleich vom 20. September 2004 vereinbarten Aufträge nicht erteilt, sondern versucht, die Balkonsanierung zu hintertreiben. Auch der ab 1. Jänner 2006 bestellte neue Verwalter sei untätig geblieben. Mittlerweile sei eines der in Aussicht genommenen Unternehmen im Konkurs und der konkrete Vergleichsinhalt nicht mehr erfüllbar.
Erst- und Viertantragsgegner verwiesen auf die im Verfahren 12 Msch 11/04b des Erstgerichts erzielte Einigung und erhoben den Einwand der verglichenen Rechtssache. Die Drittantragsgegnerin trat dem Antrag unter der Voraussetzung nicht entgegen, dass die im Vergleich vom 20. September 2004 enthaltene Kostentragungsregelung aufrecht bleiben müsse. Der Sechstantragsgegner als (ehemaliger) Eigentümer der betroffenen Wohnung Top 7 sprach sich ebenfalls für die beantragte Sanierung aus, er erachte sich wegen der jahrelangen Verzögerung aber nicht mehr an den im Vergleich vereinbarten Kostenschlüssel gebunden. Die übrigen Antragsgegner beteiligten sich nicht am Verfahren.
Das Erstgericht erließ den beantragten Sachbeschluss und behielt sich die Kostenentscheidung gemäß § 78 Abs 1 AußStrG bis zur rechtskräftigen Erledigung der Sache vor. Die gegenständlichen Balkone seien allgemeine Teile des Hauses. Aufgrund der festgestellten Schäden und des behördlichen Instandsetzungsauftrags sei eine Sanierung erforderlich, sodass die Voraussetzungen eines Auftrags gemäß § 30 Abs 1 WEG vorlägen. Eine Abweichung von der in § 32 Abs 1 WEG geregelten Kostenverteilung bedürfe eines einstimmigen Beschlusses der Miteigentümer und könne nicht vom Gericht festgelegt werden. Der Vergleich vom 20. September 2004 sei mangels Umsetzung nicht mehr wirksam.
Das Rekursgericht gab dem Rechtsmittel der Erstantragsgegnerin und des Viertantragsgegners Folge und wies den Sachantrag ab. Wegen des Vergleichs vom 20. September 2004 bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis für die neuerliche Antragstellung. Die mangelnde Exequierbarkeit des Vergleichs vom 20. September 2004 sei dafür kein taugliches Argument, weil der einen Mehrheitsbeschluss der Miteigentümer gemäß § 28 Abs 1 WEG ersetzende Richterspruch regelmäßig nicht vollstreckbar sei, sondern lediglich den Verwalter im Rahmen seiner ihm nach § 20 Abs 1 WEG obliegenden Aufgaben binde. Der angefochtene erstinstanzliche Beschluss ermögliche dem Antragsteller keine anderen Schritte als jene, die er bereits aufgrund des Vergleichs setzen könnte. Bei Untätigkeit des Verwalters könne er auf vorläufig eigene Kosten zur Ersatzvornahme schreiten und gegenüber den Miteigentümern aufgrund des Vergleichs einen Verwendungsanspruch geltend machen. Alternativ dazu könne er die Miteigentümergemeinschaft auf Durchführung der festgelegten Arbeiten klagen und ein stattgebendes Urteil exekutiv durchsetzen. Selbst wenn ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers bejaht würde, wäre die materielle Rechtswirksamkeit des Vergleichs zu berücksichtigen und die Durchführung der Sanierungsmaßnahmen nur in der seinerzeit vereinbarten Leichtbauweise und unter Beibehaltung der vereinbarten Kostenverteilung anzuordnen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 10.000 EUR übersteige und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Antragstellers.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil das Rekursgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abgewichen ist; er ist auch berechtigt.
Den Antragsgegnern wurde die Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung gemäß § 71 Abs 2 AußStrG frei gestellt; von dieser Möglichkeit haben die Erstantragsgegnerin und der Viertantragsgegner Gebrauch gemacht.
1. Mit § 30 Abs 1 WEG wird Wohnungseigentümern über die Rechte zur Anfechtung von Beschlüssen hinaus die Möglichkeit eröffnet, in bestimmten Angelegenheiten, darunter der Durchführung von Arbeiten nach § 28 Abs 1 Z 1 WEG, auch gegen den grundsätzlich maßgebenden Mehrheitswillen aufzutreten und gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Bestimmung schafft ein Individualrecht zur Bewirkung, aber nicht zur Verhinderung oder Aufschiebung der Durchführung gefasster Beschlüsse (RIS-Justiz RS0083438). Voraussetzung für die Anrufung des Gerichts ist also die Untätigkeit der Mehrheit oder des Verwalters, entweder durch die Unterlassung einer Beschlussfassung oder die Ablehnung einer Erhaltungsarbeit.
2. Durch die Minderheitsrechte sollen lediglich ganz bestimmte, für den Einzelnen unzumutbare Ergebnisse der Verwaltungsführung oder eine geradezu unzumutbare Untätigkeit der Mehrheit im Hinblick auf die Erhaltung des Hauses vermieden werden; der Minderheit soll aber nicht die Möglichkeit eingeräumt werden, die Führung der ordentlichen Verwaltung von der Mehrheit bzw vom Verwalter auf die Gerichte zu verlagern (5 Ob 271/08a; 5 Ob 116/07f mwN = immolex 2008/67 [Prader]; 5 Ob 210/01w; Vonkilch in Hausmann/Vonkilch, Österr. Wohnrecht § 30 WEG 2002 Rz 9 und 14). Ein wesentliches Kriterium für die Durchsetzbarkeit der von einem Wohnungseigentümer nach § 30 Abs 1 Z 1 WEG 2002 begehrten Erhaltungsmaßnahmen ist deren Dringlichkeit; dabei ist auch auf wirtschaftliche Aspekte, wie Kostenaufwand und Finanzierbarkeit, Bedacht zu nehmen (5 Ob 116/07f = RIS-Justiz RS0123169).
3. Ein Individualanspruch eines Minderheitseigentümers nach § 30 Abs 1 Z 1 WEG 2002 besteht nach der Rechtsprechung auch dann, wenn die Mehrheit die Durchführung von Arbeiten im Sinne des § 28 Abs 1 Z 1 WEG zwar beschlossen, aber unangemessen lange aufgeschoben hat (5 Ob 133/94 = MietSlg 46/39; 5 Ob 243/08h). Die Existenz eines älteren Mehrheitsbeschlusses über die vom Antragsteller begehrten Maßnahmen stellt auch dann kein Hindernis für einen Antrag nach § 30 Abs 1 Z 1 WEG dar, wenn dieser Mehrheitsbeschluss nie formell widerrufen wurde. Erforderlich ist nur, dass die vom einzelnen Wohnungseigentümer durchzusetzenden Arbeiten unter dem Aspekt der Dringlichkeit und Wirtschaftlichkeit tatsächlich geboten sind (vgl 5 Ob 243/08h; 5 Ob 210/01w = SZ 74/194; RIS-Justiz RS0116139). Wollte man der gegenteiligen Auslegung der Antragsgegner und des Rekursgerichts folgen, hätte es ein Mehrheitseigentümer jederzeit in der Hand, die gesetzlichen Individualrechte der Minderheit einfach durch Hinhaltetaktik zu untergraben.
4. Die Entscheidung des Gerichts im Verfahren nach § 30 Abs 1 WEG ist rechtsgestaltend. Sie ersetzt den von der Eigentümergemeinschaft abgelehnten oder versäumten Mehrheitsbeschluss. Sie enthält keinen Leistungsbefehl und ist, wie auch das Rekursgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht vollstreckbar (RIS-Justiz RS0123170). Ein im Zuge eines Verfahrens nach § 30 Abs 1 WEG unter Beteiligung sämtlicher Wohnungseigentümer geschlossener Vergleich ist aber ebenfalls nichts anderes als ein Mehrheitsbeschluss, mit dessen Zustandekommen das Rechtsschutzbedürfnis an einer Gerichtsentscheidung nur für das konkrete Verfahren weggefallen ist. Der Umstand, dass ein solcher Mehrheitsbeschluss in ein gerichtliches Protokoll gekleidet wurde, verschafft ihm weder Vollstreckbarkeit noch in anderer Weise einen erhöhten Bestandschutz, weder gegen abweichende neuerliche Beschlussfassung noch gegen hinhaltenden Widerstand oder schlichte Untätigkeit der Mehrheit.
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der Vergleich vom 20. September 2004 dem Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers auf Anrufung des Gerichts gemäß § 30 Abs 1 WEG nicht entgegenstand, sofern die Durchführung der darin beschlossenen Balkonsanierung dringlich und wirtschaftlich vertretbar war, aber seit dem Vergleichsabschluss unangemessen lange aufgeschoben wurde.
5. Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers ist auch nicht deswegen zu verneinen, weil die antragsgegenständlichen Maßnahmen den Miteigentümern gleichlautend auch mit (in Rechtskraft erwachsenem) Bescheid der MA 37 aufgetragen wurden. Zutreffend führt der Antragsteller aus, dass Rechtsnatur und Rechtswirkungen dieses Bescheides und eines (allenfalls vom Gericht zu ersetzenden) Mehrheitsbeschlusses der Eigentümer völlig verschieden sind.
6. Fest steht, dass die im Vergleich zu 12 Msch 11/04b des Erstgerichts beschlossenen Maßnahmen, darunter die Beauftragung namentlich genannter Unternehmen aufgrund bereits gelegter Kostenvoranschläge, fast drei Jahre lang bis zur Einleitung des gegenständlichen Verfahrens nicht in Angriff genommen wurden. Der im Jahre 2004 erzielte Konsens der Wohnungseigentümer war nach dem Sachverhalt nicht von langer Dauer, ohne dass es aber zu einem wirksamen neuen Mehrheitsbeschluss gekommen wäre. Gerade der Viertantragsgegner, der vorübergehend auch als Verwalter der Liegenschaft fungierte, wandte sich mit verschiedenen Argumenten aktiv gegen die Durchführung der bereits beschlossenen Sanierung. Soweit er diese Rolle nun in der Revisionsbeantwortung in Abrede stellen möchte, widerspricht er seinem noch in den Vorinstanzen erstatteten Sachvorbringen.
7. Darin, dass das Erstgericht die Dringlichkeit der Sanierung der gegenständlichen Balkone wegen ihrer festgestellten Baufälligkeit und des behördlichen Auftrags bejaht hat, ist keine Fehlbeurteilung zu erblicken.
8. Auf die noch in den Vorinstanzen geltend gemachte wirtschaftliche Unzumutbarkeit einer Sanierung der Balkone kommen die Antragsgegner in ihren Revisionsbeantwortungen ebenso wenig mehr zurück wie auf den Einwand technischer Undurchführbarkeit. Ihr Vorbringen, eine dem Auftrag der Baubehörde (ident mit dem Antragsbegehren) entsprechende Balkonsanierung sei mittlerweile bereits durchgeführt worden, kann schlüssig nur dahin verstanden werden, dass sich die geäußerten Bedenken in der Praxis als unbegründet oder doch wenigstens als überwindbare Hindernisse erwiesen haben, sodass die Einwendungen aus diesem Grund nicht mehr aufrecht erhalten werden.
Auch der Einwand der mangelnden Bestimmtheit des Antrags ist nicht stichhältig, weil die Art der durchzuführenden Erhaltungsarbeit hinreichend deutlich definiert war. Die Festlegung der Details der Ausführung im Grundsatzbeschluss der Miteigentümer ist nicht erforderlich, wenn - wie im vorliegenden Fall - die möglichen Varianten aus technischen Gründen ohnehin begrenzt und überdies nur von Fachleuten beurteilbar sind.
9. Die Aufzählung der Minderheitsrechte nach § 30 Abs 1 WEG ist nach herrschender Auffassung taxativ (RIS-Justiz RS0083438). Die Ansicht des Rekursgerichts, in einer antragstattgebenden Entscheidung wäre jedenfalls auch ein Ausspruch über den im Vergleich der Miteigentümer vom 20. September 2004 vereinbarten Aufteilungsschlüssel aufzunehmen gewesen, entbehrt einer Rechtsgrundlage.
Eine Entscheidung des Gerichts über eine von § 32 Abs 1 WEG abweichende Aufteilung der Aufwendungen für bestimmte Erhaltungsmaßnahmen ist nur unter den Voraussetzungen des § 32 Abs 5 WEG zulässig; ein solcher Antrag ist jedoch nicht Gegenstand des Verfahrens.
In Stattgebung des Revisionsrekurses war daher die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 78 Abs 1 AußStrG.
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