OGH 5Ob204/11b

OGH5Ob204/11b24.4.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj R***** T*****, geboren am 2. März 1996, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Leoben als Jugendwohlfahrtsträger, 8700 Leoben, Peter‑Tunner‑Straße 6, über den Revisionsrekurs der U***** R*****, vertreten durch Dr. Ursula Schwarz, Rechtsanwältin in Bruck an der Mur, gegen den Beschluss des Landesgerichts Leoben als Rekursgericht vom 17. August 2011, GZ 2 R 207/11g‑69, mit dem infolge Rekurses der U***** R***** der Beschluss des Bezirksgerichts Leoben vom 29. Juni 2011, GZ 2 Pu 185/10s‑63, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Die Revisionsrekurswerberin hat die Kosten ihres Rechtsmittels jedenfalls selbst zu tragen.

Text

Begründung

Der am 2. 3. 1996 geborene R***** T***** ist der Sohn von U***** R***** und R***** T*****. Er lebt beim Vater, dem die Obsorge allein zukommt. In Unterhaltsangelegenheiten ist die Bezirkshauptmannschaft Leoben gemäß § 212 Abs 2 ABGB zum gesetzlichen Vertreter bestellt.

U***** R***** (in der Folge: die Mutter) hat ein weiteres Kind, nämlich eine am 11. 5. 2002 geborene Tochter. Sie lebt in Vordernberg und geht keiner Beschäftigung nach. Ihr Ehemann ist berufstätig. Sie verfügt über keine qualifizierte Berufsausbildung und keinen Pkw.

Im Oktober 2008 wurden ihr ein Tumor in der rechten Brust und ein Lymphknoten in der rechten Achselhöhle entfernt. Bis zum 26. 2. 2009 war sie arbeitsunfähig. Mitte Mai 2009 wurde ihr ein Tumor im Eierstock entfernt. Danach war sie weitere drei Wochen arbeitsunfähig. Derzeit wird eine antihormonelle Therapie medikamentös fortgeführt. Bei den alle drei Monaten stattfindenden Kontrollen konnte bisher kein Wiederauftreten der Krebserkrankung festgestellt werden.

Die Mutter gehört aufgrund des Bescheids des Bundessozialamts vom 30. 11. 2010 ab 5. 11. 2010 (Tag der Antragstellung) dem Kreis der begünstigten Behinderten an. Der Grad der Behinderung iSd § 3 BEinstG beträgt 50 %.

Sie kann in geschlossenen Räumen, teilweise auch im Freien unter allgemein üblichem Zeitdruck und durchschnittlicher psychischer Belastung bei leichter körperlicher Beanspruchung überwiegend im Sitzen, Gehen und Stehen arbeiten. Ihre Hebeleistung ist mit 10 kg, die Trageleistung mit 5 kg zu beschränken. Ein Einsatz in ihrem früheren Beruf als Kellnerin oder Serviererin ist wegen der gesundheitlichen Einschränkungen nicht möglich. Sie könnte aber (neben diversen Hilfstätigkeiten) als Kassiererin an einer Tankstelle arbeiten. Für eine solche Tätigkeit waren in der Zeit vom 1. 6. 2009 bis 31. 3. 2011 im Bezirk Leoben 18 Stellen ausgeschrieben. Dabei könnte die Mutter 930,10 EUR netto pro Monat (14 x jährlich) verdienen. Ihre Arbeitszeit endet allerdings gegen 22:00 Uhr bzw 24:00 Uhr, weshalb sie auf die Benützung eines eigenen Pkws angewiesen wäre. Stellen im Bezirk Leoben, die sie ansonsten aufgrund ihrer Verfassung ausüben könnte und für die sie keinen Pkw benötigen würde, waren in diesem Zeitraum nicht vorhanden.

Die Bezirkshauptmannschaft Leoben als Jugendwohlfahrtsträger beantragte, U***** R***** beginnend mit 1. 6. 2009 zu einem monatlichen Unterhaltsbetrag von 170 EUR bis 28. 2. 2011 und ab 1. 3. 2011 bis auf weiteres, längstens jedoch bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit des minderjährigen R***** zu einem monatlichen Unterhaltsbetrag von 190 EUR im Wege der Anspannung zu verpflichten. Bei entsprechendem Bemühen könne die Mutter eine Beschäftigung annehmen, bei der es ihr möglich wäre, den begehrten Unterhaltsbetrag an den mit der Obsorge betrauten Vater zu bezahlen.

Die Mutter sprach sich gegen jegliche Auferlegung einer Zahlungsverpflichtung in Hinweis auf ihre mangelnde Leistungsfähigkeit und das Fehlen adäquater Beschäftigungsmöglichkeiten in erreichbarer Nähe aus. Sie verfüge über keinerlei Einkommen und keinerlei sonstige Bezüge, sei Hausfrau und habe für ein weiteres Kind im Alter von sieben (nunmehr neun) Jahren zu sorgen. Aufgrund der festgestellten Einschränkung sei sie nicht in der Lage, ihren früheren Beruf als Kellnerin bzw Serviererin auszuüben.

Ein Pkw stehe ihr nicht zur Verfügung. Überdies wendete sie ein, während der Nachtstunden eine Tätigkeit als Tankstellenkassiererin wegen der Gefahr nächtlicher Überfälle abzulehnen.

Auch seien ihr keine adäquaten Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten worden.

Im ersten Rechtsgang verpflichtete das Erstgericht die Mutter auch für die Zeit ihrer Krebserkrankung (welcher Umstand damals allerdings noch nicht aktenkundig war) im Wege der Anspannung zu einem monatlichen Unterhaltsbetrag von 150 EUR (Aufhebungsbeschluss 5 Ob 140/09p).

Im zweiten Rechtsgang verpflichtete das Erstgericht die Mutter antragsgemäß, in der Zeit vom 1. 6. 2009 bis 28. 2. 2011 einen monatlichen Unterhaltsbetrag von 170 EUR und ab 1. 3. 2011 bis auf weiteres, längstens jedoch bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit des Minderjährigen von 190 EUR zu bezahlen. Im Wege der Anspannung sei von der Mutter zu verlangen, dass sie auch eine Arbeit als Tankstellenkassiererin annehme, bei der es ihr möglich sei, ihren Unterhaltspflichten nachzukommen. Arbeitsstellen dafür seien auch vorhanden. Sie könne ein Einkommen von zumindest 930 EUR monatlich erzielen. Unter Berücksichtigung einer weiteren Sorgepflicht, des Existenzminimums sowie der steuerlichen Entlastung seien ihr die auferlegten Unterhaltszahlungen zumutbar.

Auf eine Betreuungspflicht der nunmehr neun Jahre alten Tochter könne sich die Mutter dabei nicht berufen. Diesfalls sei die Betreuung während ihrer Arbeitszeiten durch andere Personen oder Institutionen wahrzunehmen. Auch den Einwand der fehlenden Mobilität der Kindesmutter erachtete das Erstgericht für nicht ausreichend. Sie sei im Besitz eines Führerscheins, weshalb von ihr verlangt werden könne, dass sie sich für den Weg zur Arbeit einen Gebrauchtwagen anschaffe. Ein dafür erforderlicher Mehraufwand von 150 EUR monatlich sei bei der Bemessungsgrundlage in Abzug gebracht worden.

Auch sei zu berücksichtigen, dass die Mutter bei aufrechter Ehe gegenüber ihrem Ehemann unterhaltsberechtigt sei.

Dem dagegen von der Mutter erhobenen Rekurs gab das Gericht zweiter Instanz nicht Folge.

Dass die Mutter trotz eines entsprechenden Beweisantrags nicht persönlich einvernommen worden sei, stelle keinen Verfahrensmangel dar. Auch der Vater sei nicht persönlich einvernommen worden, sondern habe (anders als sie anwaltlich unvertreten) seine Stellungnahmen bei Gericht zu Protokoll abgegeben.

Behauptete unaufgeklärte Widersprüche im berufskundlichen Gutachten seien im Rekurs nicht nachvollziehbar dargetan worden.

In rechtlicher Hinsicht erachtete das Rekursgericht den Einwand, auf die 50%ige Behinderung sei nicht ausreichend eingegangen worden, für unberechtigt. Auch lägen keine Umstände vor, die eine Berufstätigkeit bis 24:00 Uhr unzumutbar erscheinen ließen. Der Einwand, es bestehe die Gefahr von Raubüberfällen an Tankstellen während der Nachtstunden, sei nicht nachvollziehbar.

Die für die Anschaffung eines Pkw zu tragenden Kosten seien ohnedies in Form von Kilometergeld berücksichtigt worden.

Bei der vom Erstgericht vorgenommenen Berechnung sei eine Belastungsgrenze von derzeit rund 520 EUR berücksichtigt worden, damit der Mutter der eigene angemessene Unterhalt gesichert bleibe.

Zu Recht habe daher das Erstgericht unter Anwendung des aus § 140 Abs 1 ABGB abzuleitenden Anspannungsgrundsatzes die Mutter, die keinerlei Unterhalt für ihren Sohn leiste, zur Unterhaltszahlung in zutreffender Höhe verpflichtet.

Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu vorliege, ob einem Unterhaltspflichtigen (im Wege der Anspannung) die Anschaffung eines Pkw zum Erreichen eines Arbeitsplatzes zugemutet werden könne und wie allenfalls derartige Kosten zu berücksichtigen seien.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen und Zurückverweisung an das Gericht erster Instanz zur Verfahrensergänzung; hilfsweise wird die Abänderung des angefochtenen Beschlusses im Sinn einer Abweisung des Antrags begehrt.

Der Jugendwohlfahrtsträger beantragte, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs erweist sich als zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags als berechtigt.

Die unter dem Revisionsrekursgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgezeigten Gründe sind, weil Feststellungsmängel dargetan werden, der Rechtsrüge zuzuordnen.

1. Jeden Unterhaltspflichtigen trifft die Obliegenheit, im Interesse der ihm gegenüber Unterhaltsberechtigten alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft so gut wie möglich einzusetzen. Tut er dies nicht, wird er so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (1 Ob 599/90 SZ 63/74; 1 Ob 81/10h ua; RIS‑Justiz RS0047686; RS0047550).

2. Ob jeweils die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen vorliegen, ist immer nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zu beurteilen und stellt in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage dar (RIS‑Justiz RS0113751 [T9]); auch ist die Art der Anspannung jeweils eine Frage des Einzelfalls (RIS‑Justiz RS0007096).

3. Die vom Rekursgericht als erheblich iSd § 62 Abs 1 AußStrG bezeichnete Rechtsfrage, ob im Wege der Anspannung einem Unterhaltspflichtigen die Anschaffung eines Pkws zugemutet werden kann, damit er einen Arbeitsplatz erreichen kann, lässt sich naturgemäß in dieser Allgemeinheit nicht beantworten. Aus dem Begriff „nach ihren Kräften“ läßt sich bereits ableiten, dass eine solche (hier hypothetische) Verpflichtung nur bei wirtschaftlicher Möglichkeit und wirtschaftlich vertretbaren Ergebnissen zu Grunde gelegt werden kann.

4. In diesem Zusammenhang verweist der außerordentliche Revisionsrekurs jedoch zutreffend darauf, dass sich die Vorinstanzen mit der Möglichkeit der Finanzierung eines Pkw‑Erwerbs durch die Mutter nicht auseinandergesetzt haben, sondern bloß einen Betrag von pauschal 150 EUR an Kilometergeld berücksichtigt haben. Tatsächlich wurde nicht geklärt, ob die Mutter mangels liquider Mittel über eine ausreichende Kreditfähigkeit verfügt, um einen Pkw anzuschaffen. Bei Bejahung dieses Umstands müssten die Kreditraten bei der Unterhaltsbemessungsgrundlage berücksichtigt werden (vgl RIS‑Justiz RS0047472; 1 Ob 507/91 ua).

5. Der Anspannungsgrundsatz darf im Sinn ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht zu einer reinen Fiktion führen, sondern muss immer auf der hypothetischen Feststellung beruhen, welches reale Einkommen der Unterhaltspflichtige in den maßgeblichen Zeiträumen unter Berücksichtigung seiner Möglichkeiten bei der gegebenen Arbeitsmarktlage zu erzielen im Stande wäre (RIS‑Justiz RS0047579; 6 Ob 530/92 ÖA 1992, 147; 2 Ob 108/02z EF 99.527; Gitschthaler, Unterhaltsrecht² Rz 147, insb E 3 mzwN; Schwimann/Kolmasch Unterhaltsrecht5 55 ff mwN). Wer hingegen unverschuldet (etwa wegen Erkrankung) kein Einkommen erlangen kann, kommt für eine Anspannung nicht in Frage (Schwimann/Kolmasch aaO 62).

6. Unter diesen Aspekten, speziell bei der gegebenen Arbeitsmarktlage, ihrem Gesundheitszustand und der Lage ihres Wohnorts ist im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass nach den maßgeblichen Feststellungen die Mutter ohne Pkw nicht in der Lage ist, eine ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung entsprechende Tätigkeit im Umfeld ihres Wohnorts zu erlangen.

7. Eine Prüfung der erforderlichen Aufwendungen, die mit der Anschaffung und dem Betrieb eines Pkw verbunden sind, sowie die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Kreditgewährung an die Mutter zur Anschaffung eines Pkw überhaupt in Frage kommt, ist daher als Voraussetzung für ihre Anspannung unerlässlich. Der bloße Abzug von Kilometergeld von einer Bemessungsgrundlage, die überhaupt nur mit einem Pkw erzielt werden könnte, führte jedenfalls zu einem unrichtigen Ergebnis.

Im Weiteren ist dem Revisionsrekurs auch darin Recht zu geben, dass die Zumutbarkeit der Nachtarbeit an einer Tankstelle für die Rechtsmittelwerberin noch nicht ausreichend geklärt ist. Die diesbezüglich nur abstrakt‑theoretisch vom Rekursgericht angestellten Überlegungen (Seite 5 seiner Entscheidung) zu allfälligen Gefährdungssituationen sind in dieser Allgemeinheit nicht tragfähig. Andererseits geht aus den Feststellungen nicht hervor, weshalb für die Genannte nur Nachtschichten an Tankstellen in Betracht kämen.

Der Sachverhalt bedarf daher im dargestellten Sinn noch einer Verbreiterung, damit die Frage der Zulässigkeit der Anwendung des Anspannungsgrundsatzes im konkreten Fall dem Grunde und der Höhe nach verlässlich geklärt werden kann.

Eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen war daher unumgänglich.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 101 Abs 2 AußStrG.

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