European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00059.24S.0523.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Die Streitsache wird zur Entscheidung über die Berufung der klagenden Parteien unter Abstandnahme vom von Amts wegen herangezogenen Nichtigkeits- und Klagezurückweisungsgrund an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, den klagenden Parteien die mit 2.487,23 EUR (darin enthalten 414,54 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Rekurses binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
Zum Vorverfahren:
[1] Am 27. 11. 2019 klagte die hier beklagte Bank, gestützt auf zwei Kreditverträge, die hier klagenden Parteien zur ungeteilten Hand auf Zahlung von 985.979,75 CHF sA. Am 22. 1. 2020 erging ein dem Klagebegehren stattgebendes Versäumungsurteil.
Zum vorliegenden Verfahren:
[2] Am 3. 1. 2022 brachten die Kläger gegen die Beklagte eine auf die Auflösung der Kreditverträge, auf die sich die Beklagte im Vorverfahren gestützt hatte, mit Wirkung ex tunc gerichtete Rechtsgestaltungsklage ein. Sie erklärten insbesondere, die Kreditverträge wegen List (§ 870 ABGB) anzufechten, und machten hilfsweise deren Sittenwidrigkeit geltend (§ 879 Abs 1 ABGB).
[3] Die Beklagte beantragte die Zurückweisung der Klage und hilfsweise die Abweisung des Klagebegehrens. Sie stützte sich insbesondere auf die Präklusionswirkung der materiellen Rechtskraft des im Vorverfahren ergangenen Versäumungsurteils. Diese begründe das Prozesshindernis der rechtskräftig entschiedenen Streitsache; jedenfalls stehe sie dem Klagebegehren inhaltlich entgegen.
[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, ohne ausdrücklich über die Prozesseinrede abzusprechen. In den Entscheidungsgründen hielt es fest, dass eine „entschiedene Rechtssache“ nicht vorliege, und begründete diese Ansicht damit, dass der Bestand der Kreditverträge im Vorverfahren nicht strittig gewesen sei und der Spruch des dort ergangenen Versäumungsurteils nicht die Frage der Vertragsaufhebung ex tunc betroffen habe. In der Sache kam es zum Ergebnis, dass die inhaltlichen Voraussetzungen für eine Vertragsaufhebung ex tunc nicht erfüllt seien.
[5] Aus Anlass der Berufung der Kläger hob das Berufungsgericht das Urteil und das diesem vorangegangene Verfahren als nichtig auf und wies die Klage zurück. Aus der Präklusionswirkung der materiellen Rechtskraft folge, dass die Kläger die im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Einwände gegen den Bestand der Kreditverträge bereits im Vorverfahren erheben hätten müssen. Es liege daher eine „entschiedene Rechtssache“ vor. Als Rechtsmittel gegen den Beschluss komme nur der Revisionsrekurs in Betracht. Dieser sei nicht zulässig, weil der Beschluss der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs folge.
[6] Die Kläger erhoben ein als „außerordentlicher Revisionsrekurs“ bezeichnetes Rechtsmittel und beantragten, den Beschluss wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung aufzuheben und dem Berufungsgericht die Entscheidung über die Berufung aufzutragen.
[7] Die Beklagte beantragte in ihrer – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Rechtsmittelbeantwortung, das Rechtsmittel zurückzuweisen und hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[8] 1. Der Rekurs ist zulässig:
[9] 1.1. Weist das Berufungsgericht die Klage wegen eines Prozesshindernisses mit Beschluss zurück, kommt ein (Voll-)Rekurs (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO) nur in Betracht, wenn sich das Berufungsgericht mit dem Prozesshindernis erstmals befasst hat. War es bereits Gegenstand des Verfahrens erster Instanz und der erstgerichtlichen Entscheidung, unterliegt das Rechtsmittel gegen den Beschluss des Berufungsgerichts den Beschränkungen des § 528 ZPO (RS0116348; RS0043861 [T2]; RS0043882 [T9]). Es reicht aus, dass das Erstgericht in den Entscheidungsgründen zu erkennen gegeben hat, eine auf das Prozesshindernis gestützte Einrede verwerfen zu wollen (RS0043861 [T4]; RS0116348 [T6]). Die Begründung für die Unterscheidung ist, dass das Berufungsgericht im ersten Fall funktionell als Erstgericht (RS0043861; RS0102655) und im zweiten Fall funktionell als Rekursgericht (RS0043861 [T5]; RS0116348 [T6]) entscheidet.
[10] 1.2. Die Beklagte hat im Verfahren erster Instanz die Prozesseinrede der rechtskräftig entschiedenen Streitsache erhoben (§ 230 Abs 3, § 411 Abs 2, § 239 Abs 1 Z 3 ZPO). Das Erstgericht hat (in den Entscheidungsgründen) dargelegt, dass der Einwand der rechtskräftig entschiedenen Streitsache unberechtigt sei. Die Beklagte hat dagegen kein Rechtsmittel erhoben. Die Kläger jedoch haben ein zulässiges Rechtsmittel gegen die (klageabweisende) Entscheidung des Erstgerichts in der Sache erhoben. Das Berufungsgericht hat daher nicht die (in den Entscheidungsgründen enthaltene) Entscheidung des Erstgerichts über die Prozesseinrede überprüft (das hätte ein Rechtsmittel der Beklagten vorausgesetzt), sondern die Klage aus Anlass eines zulässigen Rechtsmittels der Kläger in der Sache erstmals von Amts wegen zurückgewiesen. Es wurde funktionell somit nicht als Rekurs-, sondern als Erstgericht tätig. Dagegen ist der (Voll‑)Rekurs zulässig (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO), der nicht vom Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage abhängt. Der „außerordentliche Revisionsrekurs“ der Kläger ist daher als Rekurs zu werten, seine Beantwortung durch die Beklagte als Rekursbeantwortung.
[11] 2. Der Rekurs ist auch berechtigt:
[12] 2.1. Die Streitanhängigkeit (§ 230 Abs 3, §§ 232 f, § 239 Abs 1 Z 3 ZPO) und die rechtskräftig entschiedene Streitsache (§ 230 Abs 3, § 411 Abs 2, § 239 Abs 1 Z 3 ZPO) sind Prozesshindernisse für die neuerliche Geltendmachung desselben Anspruchs (RS0039233; RS0041896). Sie sind an sich in jeder Lage des Verfahrens – auch von Amts wegen – wahrzunehmen und führen zur Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung (RS0039968; RS0074226; RS0132136; vgl auch RS0041942; RS0042973). Die Rechtsprechung leitet aber aus § 42 Abs 3 JN allgemein ab, dass – alle (RS0035572 [T32]) – Prozesshindernisse in einer höheren Instanz von Amts wegen nicht mehr wahrgenommen werden dürfen, wenn bereits eine bindende Entscheidung über das Prozesshindernis vorliegt (RS0035572). Für eine solche bindende Entscheidung reicht bereits die unbekämpfte Verneinung des Prozesshindernisses in den Entscheidungsgründen aus (vgl RS0035572 [T30, T39]; RS0039226; RS0114196).
[13] 2.2. Die Beklagte hat im Verfahren erster Instanz die Prozesseinrede der rechtskräftig entschiedenen Streitsache erhoben (§ 230 Abs 3, § 411 Abs 2, § 239 Abs 1 Z 3 ZPO). Das Erstgericht hat meritorisch entschieden und (in den Entscheidungsgründen) auch dargelegt, dass der Einwand der rechtskräftig entschiedenen Streitsache unberechtigt sei. Die Beklagte hat dagegen kein Rechtsmittel erhoben, was ihr nach § 261 Abs 3 ZPO möglich gewesen wäre (Kellner in Kodek/Oberhammer, ZPO‑ON § 261 ZPO Rz 3). Eine Bindung an die Verwerfung der Prozesseinrede durch das Erstgericht besteht auch dann, wenn dies von der beklagten Partei aufgrund der gleichzeitig erfolgten Klagsabweisung nicht angefochten wurde (RS0040292; Rassi in Kodek/Oberhammer, ZPO‑ON § 42 JN Rz 21). Damit liegt eine für das Berufungsgericht bindende Entscheidung über das Prozesshindernis vor (§ 42 Abs 3 JN), konkret über das Nichtvorliegen des Prozesshindernisses. Eine amtswegige Prüfung des Prozesshindernisses durch das Berufungsgericht kam daher nicht mehr in Betracht.
[14] 2.3. Schon aus diesem Grund ist der Beschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und die Streitsache zur inhaltlichen Entscheidung über die Berufung der Kläger an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
[15] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 Satz 3 iVm §§ 41, 50 Abs 1 ZPO. Der angefochtene Beschluss erging nicht auf Antrag der Beklagten (die die Verwerfung ihrer Prozesseinrede durch das Erstgericht nicht bekämpft hatte), sondern wurde vom Berufungsgericht von Amts wegen getroffen, sodass an sich kein Zwischenstreit vorläge. Die Beklagte ist mit ihrer Rechtsmittelbeantwortung aber dem (Voll‑)Rekurs der Kläger entgegengetreten. Weil sie in dem hierdurch entstandenen Zwischenstreit unterlag, hat sie den Klägern dessen Kosten – also jene des Rekurses – zu ersetzen (3 Ob 5/24t mwN).
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