European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0030OB00206.23Z.0131.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Entscheidungsgründe:
[1] Der Erstkläger wurde mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren. Im Alter von rund vier Monaten wurde bei ihm eine Lippenverschlussplastik vorgenommen, die ohne Komplikationen verlief. Bei einem so genannten „Spaltenkind“ wird in der Regel etwa im ersten Lebensjahr der Weichgaumen verschlossen und im Alter von rund fünf Jahren der harte Gaumen, sofern er nicht schon im Zuge des Weichgaumenverschlusses mitverschlossen werden konnte. Der Verschluss des harten und des weichen Gaumens wird in verschiedenen Kliniken in unterschiedlicher Reihenfolge vorgenommen; teilweise erfolgt der Verschluss mit einer einzigen Operation („einzeitig“), teilweise in zwei Eingriffen („zweizeitig“). In vielen Fällen kann erst während der Operation entschieden werden, ob der Verschluss des weichen und des harten Gaumens in einem Vorgang möglich ist.
[2] Die Eltern des Erstklägers, die Zweitklägerin und der Drittkläger, wünschten ausdrücklich einen zweizeitigen Gaumenverschluss, und entschieden sich letztlich für eine Operation im Krankenhaus der Beklagten. Der Eingriff wurde für den 28. Juni 2011 (als das Kind knapp ein Jahr alt war) geplant. Beim Aufklärungsgespräch am 27. Juni 2011 unterfertigten die Eltern des Erstklägers einen Aufklärungsbogen, in dem der vorgesehene Eingriff mit „Verschluss weicher Gaumen“ umschrieben wurde. Sie erklärten ihre Einwilligung in die vorgeschlagene Behandlung einschließlich der Narkose und aller sich während der Behandlung als notwendig ergebender Eingriffe.
[3] Nicht angekreuzt wurde im Formular die Rubrik „Es wurde mit mir auch die grundsätzliche Möglichkeit besprochen, dass sich während der Behandlung die Notwendigkeit eines weitergehenden Eingriffs ergibt […]. Ich bin mir bewusst, dass sich Erweiterungen auch seitens des Arztes/der Ärztin nicht konkret vorhersehen lassen, weshalb ich diesbezüglich dem Arzt/der Ärztin die Entscheidung überlasse, unter einer von ihm/ihr durchgeführten Abwägung der Vor- und Nachteile eine Erweiterung des Eingriffs vorzunehmen. [...]“
[4] Nicht festgestellt werden kann, ob im Rahmen dieses Aufklärungsgesprächs darüber gesprochen wurde, dass bei günstigen Voraussetzungen ein einzeitiger Verschluss durchgeführt werden würde. Einem einzeitigen Verschluss hätten die Eltern des Erstklägers nicht zugestimmt.
[5] Erst nach der Operation wurden die Eltern des Erstklägers darüber informiert, dass ein einzeitiger Verschluss durchgeführt, also auch der harte Gaumen verschlossen wurde.
[6] Die Operation am 28. Juni 2011 wurde lege artis und in einer üblichen Operationstechnik durchgeführt. Der einzeitige Verschluss war auch indiziert. Nach der Operation kam es jedoch zu Komplikationen, aufgrund derer der Erstkläger neuerlich intubiert und auf die Intensivstation verlegt werden musste. Er konnte erst am 12. Juli 2011 endgültig extubiert werden und wurde erst am 29. Juli 2011 aus der stationären Behandlung in häusliche Pflege entlassen. Nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation lagen beim Erstkläger näher festgestellte Veränderungen vor, aufgrund derer er einer intensiven Behandlung, Betreuung und Rehabilitation bedurfte. Ein Behandlungsfehler war dafür nicht kausal.
[7] Die anästhesiologische Führung des Erstklägers während der Operation wäre bei einem einzeitigen und einem zweizeitigen Verschluss gleich gewesen. Die Schwellungen, die bei ihm im Operationsgebiet auftraten und zu den Änderungen bei der Atmung führten, können sowohl bei ein- als auch bei zweizeitigen Operationen auftreten. Eine Differenzierung, ob ein ein- oder ein zweizeitiger Verschluss des Gaumens angezeigt ist, ist in Bezug auf postoperative Komplikationen nicht möglich. Die Schwellung ist bei jedem Patienten anders, unabhängig davon, ob der Gaumen einzeitig oder zweizeitig verschlossen wird.
[8] Die Kläger begehren Schadenersatz, insbesondere wegen Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht und die Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Folgen der Operation. Einem – entgegen dem Aufklärungsgespräch und der Vereinbarung mit den Kindeseltern erfolgten – einzeitigen Verschluss hätten die Eltern des Erstklägers niemals zugestimmt. Mangels Zustimmung der Eltern sei die Operation rechtswidrig erfolgt, weshalb die Beklagte für die massiven Gesundheitsschäden des Erstklägers und für die damit in Zusammenhang stehenden Schäden der Zweitklägerin und des Drittklägers einzustehen habe.
[9] Die Beklagte wendet im Wesentlichen ein, der Erstkläger sei lege artis behandelt und seine Eltern seien ordnungsgemäß aufgeklärt worden. Insbesondere seien sie vorab über die Möglichkeit informiert worden, dass allenfalls auch der harte Gaumen verschlossen werden könne. Durch diese Änderung sei es zu keiner wesentlichen Verlängerung der Operationsdauer gekommen. Der einzeitige Verschluss sei beim Erstkläger die Therapie der Wahl gewesen.
[10] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Den Ärzten der Beklagten sei kein Behandlungsfehler unterlaufen und die Operation sei medizinisch indiziert gewesen. Die Eltern des Erstklägers hätten unzweifelhaft in den zweizeitigen Verschluss eingewilligt; die bedauerlicherweise eingetretenen Folgen wären auch bei einem zweizeitigen Verschluss entstanden. Die unterbliebene Aufklärung bezüglich des einzeitigen Verschlusses sei daher nicht kausal für die entstandenen Schäden gewesen.
[11] Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil infolge Berufung der Kläger in ein Teil- und Zwischenurteil ab, mit dem es dem Erstkläger den gesamten von ihm begehrten Betrag von 10.000 EUR sA, der Zweitklägerin einen Teilbetrag von 8.305 EUR sA und dem Drittkläger einen Teilbetrag von 5.830 EUR sA zusprach, das Zahlungsmehrbegehren der Zweitklägerin und des Drittklägers als dem Grunde nach zu Recht bestehend erkannte und dem Feststellungsbegehren der Kläger stattgab.
[12] Die Eltern des Erstklägers seien ausdrücklich nur über die geplante Operation durch Verschluss des weichen Gaumens aufgeklärt worden. Von ihrer Einwilligung sei daher der Verschluss auch des harten Gaumens nicht umfasst gewesen. Im Fall einer unwirksamen – bzw hier fehlenden – Einwilligung in den Eingriff habe die Beklagte für alle nachteiligen Folgen der Operation zu haften, unabhängig von der konkreten Ursache. Es sei daher ohne Bedeutung, dass die Operation lege artis erfolgt sei. Stehe ein ärztlicher Behandlungsfehler (auch Aufklärungsfehler) fest, komme es zu einer Beweislastumkehr für das (Nicht‑)Vorliegen der Kausalität des Fehlverhaltens für den Schaden des Patienten. Nichts anderes könne gelten, wenn der Fehler des Arztes in einer mangels Einwilligung des gesetzlichen Vertreters des Patienten eigenmächtigen Heilbehandlung und nicht nur in einer wegen eines Aufklärungsfehlers rechtsunwirksamen Einwilligung liege. Dass die mit der Operation verbundenen Schmerzen und sonstigen negativen Folgen ohne die Operation nicht eingetreten wären, liege auf der Hand.
[13] Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands hinsichtlich jedes Klägers 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige, und ließ die ordentliche Revision nachträglich zu, weil die Beklagte in ihrem Abänderungsantrag nach § 508 ZPO beachtlich auf das Fehlen einer gesicherten Rechtsprechung zu Konstellationen wie der hier vorliegenden (Beurteilung der Einwilligung hinsichtlich ein‑ und zweizeitiger Eingriffe) abgesehen von der Entscheidung 4 Ob 172/22f und der Beurteilung der Kausalität hinsichtlich dieses Sonderfalls eigenmächtig durchgeführter Heilbehandlungen verweise.
[14] Mit ihrer Revision strebt die Beklagte primär die Wiederherstellung des Ersturteils an; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.
[15] Die Kläger beantragen in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[16] Die Revision der Beklagten ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.
[17] 1. Soweit die Beklagte in dritter Instanz bestimmte für sie negative Feststellungen des Erstgerichts bekämpfen möchte, genügt der Hinweis, dass der Oberste Gerichtshof keine Tatsacheninstanz ist. Die betreffenden Feststellungen hätte die Beklagte gemäß § 468 Abs 2 ZPO bereits in ihrer Berufungsbeantwortung rügen müssen (vgl RS0112020 [T2]).
[18] 2. Ein Umstand ist für einen Erfolg ursächlich, wenn er ihn herbeiführt, ihn also bewirkt hat. Nach der Formel der conditio sine qua non ist zu fragen, ob der Erfolg auch ohne den zu prüfenden Umstand eingetreten wäre. Dieser ist ursächlich für einen Erfolg, wenn er nicht weggedacht werden kann, ohne dass dann der Erfolg entfiele (RS0128162). In diesem Sinn war die am Erstkläger vorgenommene Operation entgegen der Ansicht der Beklagten zweifellos kausal für die postoperativ eingetretenen Komplikationen und damit die daraus resultierenden Schäden. Die von der Beklagten ins Treffen geführten Feststellungen, wonach diese Komplikationen auch bei dem von den Eltern des Erstklägers ausdrücklich gewünschten bloßen Verschluss des weichen Gaumens möglich gewesen wären, können an dieser Kausalität nichts ändern. Auf die Frage eines Anscheinsbeweises kommt es hier daher gar nicht an.
[19] 3. Inhaltlich will die Beklagte in Wahrheit den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens geltend machen.
[20] 3.1. Bei der Frage des rechtmäßigen Alternativverhaltens geht es darum, ob ein rechtswidrig handelnder Täter selbst dann für den verursachten Schaden zu haften hat, wenn er denselben Nachteil sonst durch ein rechtmäßiges Verhalten herbeigeführt hätte (vgl RS0111706 [T6]).
[21] 3.2. Ein ärztlicher Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten ist nur insoweit rechtmäßig, als die Einwilligung des Patienten reicht. Eine wirksame Einwilligung des Patienten setzt voraus, dass dieser das Wesen, die Bedeutung und die Tragweite des ärztlichen Eingriffs in seinen Grundzügen erkannt hat. Eine ohne angemessene ärztliche Aufklärung und damit ohne wirksame Einwilligung vorgenommene Operation ist rechtswidrig (vgl RS0026473; RS0026499).
[22] 3.3. Grundlage für eine Haftung des Arztes oder des Krankenhausträgers wegen einer Verletzung der Aufklärungspflicht ist in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, in dessen körperliche Integrität durch die ärztliche Behandlung eingegriffen wird (4 Ob 172/22f). Hat der Arzt bzw Krankenhausträger seine Aufklärungspflicht verletzt, ist die gesamte Behandlung grundsätzlich rechtswidrig, auch wenn der Eingriff selbst medizinisch indiziert war und lege artis durchgeführt wurde (RS0118355).
[23] 3.4. Einen Arzt bzw Krankenhausträger, der seine Aufklärungspflicht verletzt hat, trifft im Rahmen des Einwands des rechtmäßigen Alternativverhaltens die Beweislast dafür, dass der Patient auch bei ausreichender Aufklärung die Zustimmung zu der ärztlichen Maßnahme erteilt hätte, geht es doch um den Nachweis des Vorliegens eines die Rechtswidrigkeit des Eingriffs ausschließenden Rechtfertigungsgrundes (vgl RS0108185).
[24] 3.5. Im vorliegenden Fall hätten die Eltern des Klägers der von den Ärzten erst während der Operation beschlossenen Ausweitung des geplanten Eingriffs nicht zugestimmt. Damit ist der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens gescheitert.
[25] 3.6. Es trifft zwar zu, dass die beim Erstkläger schicksalhaft eingetretenen Komplikationen nach den Feststellungen in gleicher Weise auch bei einem Verschluss bloß des weichen Gaumens auftreten hätten können. Daraus ist für die Beklagte jedoch nichts zu gewinnen. Zunächst ist festzuhalten, dass die am Erstkläger vorgenommene Operation nicht in zwei Komponenten – den zulässigen Teil (Verschluss des weichen Gaumens) und den unzulässigen Teil (Verschluss auch des harten Gaumens) – aufgespalten werden darf, sondern so, wie sie tatsächlich erfolgte, als Einheit anzusehen ist (vgl 4 Ob 172/22f). Ein Arzt, der seinen Patienten nicht ordnungsgemäß über relevante Risiken der Behandlung aufgeklärt hat, kann seine Haftung, wie dargelegt, nur durch den Beweis der hypothetischen Einwilligung des Patienten, nicht aber durch den Nachweis abwenden, dass sich der konkrete schicksalhafte Verlauf bei der Operation auch dann verwirklicht hätte, wenn die Einwilligung des Patienten infolge ausreichender Aufklärung wirksam gewesen wäre (was in derartigen Fällen zwanglos anzunehmen ist, weil der schicksalhafte Verlauf ja nicht vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer wirksamen Einwilligung abhängt). Umso weniger kann sich die Beklagte, deren Ärzte die Operation nicht „nur“ aufgrund einer unwirksamen Einwilligung durchgeführt, sondern unter Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten entgegen dem ausdrücklich erklärten Willen seiner Eltern auf den Verschluss des harten Gaumens ausgeweitet haben, dadurch exkulpieren, dass die eingetretenen Schäden mit gleicher Wahrscheinlichkeit auch bei einem Verschluss bloß des weichen Gaumens eintreten hätten können.
[26] 4. Die Revision muss daher erfolglos bleiben.
[27] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 4 iVm § 393 Abs 4 ZPO (vgl RS0035896).
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