OGH 3Ob102/21b

OGH3Ob102/21b1.9.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der Betroffenen I***** N*****, geboren am ***** 1937, *****, vertreten durch den Rechtsbeistand und einstweiligen Erwachsenenvertreter Dr. G***** S*****, Rechtsanwalt in Feldkirch, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Betroffenen und ihres Ehegatten und (Vorsorge-)Bevollmächtigten N***** N*****, vertreten durch Achammer & Mennel Rechtsanwälte OG in Feldkirch, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 15. April 2021, GZ 3 R 92/21h‑45, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00102.21B.0901.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit Bevollmächtigungsvertrag und Vorsorgevollmacht vom 3. 11. 2015 hat die 84‑jährige Betroffene ihren Ehegatten zum alleinvertretungsbefugten Bevollmächtigten sowie zum Vorsorgebevollmächtigten bestellt und zu seinen Gunsten auch eine Erwachsenenvertreterverfügung vorgenommen. Der Vorsorgefall ist am 21. 8. 2019 eingetreten.

[2] Das Rekursgericht hat – in teilweiser Abänderung der Entscheidung des Erstgerichts – für die Betroffene Dr. G***** S*****, Rechtsanwalt in Feldkirch, zum Rechtsbeistand gemäß § 119 AußStrG sowie zum einstweiligen Erwachsenenvertreter gemäß § 120 AußStrG für folgende Angelegenheiten bestellt: „Entscheidung über die Änderung des Wohnorts und Abschluss eines Heimvertrags einschließlich der Organisation der Finanzierung sowie Aufkündigung des Bevollmächtigungsvertrags und der Vorsorgevollmacht vom 3. 11. 2015 in diesem Umfang“.

Rechtliche Beurteilung

[3] Mit dem gegen diese Entscheidung erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs wird keine erhebliche Rechtsfrage aufgezeigt:

[4] 1. Die geltend gemachten Verfahrensmängel liegen – wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor.

[5] Nach § 117a AußStrG hat die Abklärung der Notwendigkeit der Einleitung eines Erwachsenenschutzverfahrens im Auftrag des Gerichts durch einen Erwachsenenschutzverein – im Rahmen des sogenannten „Clearings nach § 4a ErwSchVG – zu erfolgen (vgl 4 Ob 215/18y). Dazu gehört insbesondere die Abklärung der in § 4a Abs 1 Z 1 bis 9 ErwSchVG bezeichneten Umstände und der Frage, ob allenfalls Angehörige der betroffenen Person oder ihr sonst nahestehende Personen als geeignete Vertreter zur Verfügung stehen. Bestehen gegen die Erhebungen des Erwachsenenschutzvereins keine Bedenken, so können diese der Entscheidung über die Fortsetzung des Erwachsenenschutzverfahrens zugrunde gelegt werden. Die Beiziehung eines Sachverständigen ist in diesem Verfahrensstadium nicht zwingend vorgesehen (vgl 5 Ob 209/20a; 9 Ob 67/19x mwN).

[6] Der Vorwurf, das Rekursgericht habe sich mit der Notwendigkeit der Bestellung eines Rechtsanwalts als einstweiligen Erwachsenenvertreter nicht auseinandergesetzt, ist nicht berechtigt. Das Rekursgericht hat vielmehr darauf hingewiesen, dass sich der befasste Erwachsenenschutzverein unter Hinweis auf die Notwendigkeit der Besorgung rechtlicher Angelegenheiten nicht bereit erklärt habe, als Rechtsbeistand im Verfahren sowie als einstweiliger Erwachsenenvertreter zu fungieren.

[7] 2.1 Die Grundsätze für die Bestellung eines Rechtsbeistands gemäß § 119 AußStrG (vgl RS0008542) sowie eines einstweiligen Erwachsenenvertreters gemäß § 120 AußStrG (vgl RS0117005) hat das Rekursgericht richtig wiedergegeben. Dabei hat es im Einklang mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen (§ 239 Abs 1 ABGB) und den Grundsatz der Subsidiarität (§ 240 Abs 1 ABGB) Bedacht genommen. Für den Anlassfall ist entscheidend, ob die Betroffene über einen geeigneten Vorsorgebevollmächtigten (bzw selbst gewählten Vertreter oder als gerichtlicher Erwachsenenvertreter in Betracht kommenden Angehörigen) verfügt, der in der Lage ist, die zu besorgenden dringenden Angelegenheiten im Interesse der Betroffenen ordnungsgemäß zu erledigen (vgl § 243, § 273 Abs 1 und § 274 Abs 2 ABGB). Dabei hat das Erwachsenenschutzgericht sicherzustellen, dass die Handlungen des Bevollmächtigten keine Nachteile für die Betroffene nach sich ziehen und ihr Wohl nicht gefährdet ist, etwa weil dieser mit der Vertretung überfordert ist (vgl RS0123430 [T2]).

[8] 2.2 Nach den für den Obersten Gerichtshof bindenden Feststellungen gefährdet die Betreuung der Betroffenen im eigenen Haushalt selbst unter regelmäßiger Beiziehung professioneller Pflegepersonen ihr Wohl und ihre Sicherheit. Ihr Ehegatte und Vorsorgebevollmächtigter ist mit der Situation überfordert und nicht in der Lage, das Wohl und die Gesundheit der Betroffenen ausreichend zu wahren. Bisher hat er auch eine 24‑Stunden‑Pflege abgelehnt und seine Zustimmung zur Pflege der Betroffenen in einem Heim ausgeschlossen.

[9] Von diesen Verfahrensergebnissen ausgehend stellt die Bestellung eines Rechtsbeistands sowie eines einstweiligen Erwachsenenvertreters im hier fraglichen Umfang keine Überschreitung des dem Rekursgericht dabei zukommenden Beurteilungsspielraums dar. Sind die Interessen der Betroffenen durch die aktuelle Betreuungs- und Vertretungssituation nicht ausreichend gewahrt, so kann auch der gegenteilige Wunsch der Betroffenen an notwendigen gerichtlichen Maßnahmen, die sich in erster Linie an ihrem Wohl zu orientieren haben, nichts ändern.

[10] 3. Die Frage, ob die Besorgung der Angelegenheiten für die Betroffene vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert und daher ein Rechtsanwalt zu bestellen ist (vgl § 274 Abs 5 ABGB), hängt typisch von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl 7 Ob 6/19m; 1 Ob 147/20d).

[11] Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass es sich bei der Entscheidung über die Veränderung des Wohnorts, beim Abschluss eines Heimvertrags und bei der Sicherstellung der Finanzierung der Heimunterbringung um Angelegenheiten handle, die besondere Rechtskenntnisse erfordern, hält sich ebenfalls im Rahmen des dabei einzuräumenden Ermessensspielraums. Davon, dass das Rekursgericht gleichsam „automatisch“, ohne nähere Prüfung der zu besorgenden Angelegenheiten einen Rechtsanwalt als einstweiligen Erwachsenenvertreter bestellt habe, kann keine Rede sein.

[12] 4. Mangels erheblicher Rechtsfrage war der außerordentliche Revisionsrekurs zurückzuweisen.

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