European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0020OB00061.15G.1216.000
Spruch:
Die Revisionen werden zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der erstklagenden Partei die mit 284,44 EUR (darin 47,41 EUR) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Der Antrag der zweitklagenden Partei auf Zuspruch der anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung wird abgewiesen.
Begründung
Am 21. 10. 2010 ereignete sich ein Arbeitsunfall, als der Polier der beklagten Partei im Zuge von Dachdeckerarbeiten ausrutschte und vom ca 30° geneigten Dach eines Hauses etwa 4 m in die Tiefe stürzte. Er zog sich dabei schwere Verletzungen zu. Das an der Längsseite des Hauses aufgestellte Gerüst hatte keine Fangvorrichtung (Netz oder Beplankung), verfügte zwar über eine Brustwehr, aber weder über Mittelwehr noch Fußwehr und erfüllte in mehrfacher Hinsicht nicht die Voraussetzungen des vorgeschriebenen „Dachfanggerüsts“. Unter diesen Umständen musste damit gerechnet werden, dass ein von der Dachfläche abrutschender Arbeiter unter der Brustwehr durchrutscht, auf die Außenkante des Belags auftrifft, von dort hinunterkippt und ungebremst in die Tiefe stürzt.
Der diese Funktion seit 1992 ausübende Geschäftsführer der beklagten Partei hatte die Baustelle selbst aufgenommen, die Planungen durchgeführt und das Gerüst bestellt. Das Gerüst wurde von einem an sich verlässlichen Mitarbeiter der beklagten Partei errichtet, dem das Fehlen eines Netzes zwar auffiel, diesen Umstand aber nicht für bedeutsam hielt. Er vergaß daher auch, nachträglich ein solches Netz mitzubringen. Der Geschäftsführer der beklagten Partei hatte die Umsetzung der Sicherheitsvorschriften an der konkreten Baustelle nicht kontrolliert. Hätte er dies getan, hätte er erkannt, dass das Gerüst nicht den Erfordernissen eines Dachfanggerüsts entspricht. Er hätte die Gefahr des Absturzes eines abrutschenden Arbeiters als wahrscheinlich einschätzen können und müssen.
Über den Geschäftsführer der beklagten Partei wurde aufgrund dieses Vorfalles mit verwaltungsbehördlichem Straferkenntnis vom 25. 1. 2011 wegen Verstoßes gegen § 58 Abs 7 sowie § 87 Abs 3 iVm § 88 Abs 3 und 5 BauV eine Geldstrafe verhängt. Es war sein insgesamt drittes (rechtskräftiges) Straferkenntnis. Die letzte Strafe vor dem Unfall stammte vom 22. 9. 2010, wurde also rund einen Monat vor dem gegenständlichen Unfall verhängt. Dabei war dem Geschäftsführer im Wesentlichen zur Last gelegt worden, dass am 24. 6. 2010 mehrere Arbeitnehmer der beklagten Partei ohne jegliche Schutzeinrichtung zur Verhinderung eines Absturzes auf einer Dachfläche tätig gewesen seien. Zu jenem Zeitpunkt hatte jedenfalls der beim nunmehr streitgegenständlichen Unfall verletzte Polier Reinigungsarbeiten auf dem Dach durchgeführt, ohne dass ein Schutzgerüst oder Dachschutzblenden vorhanden gewesen wären.
Der Polier verfügt über langjährige Erfahrung. Er nahm, wie auch die sonstigen Mitarbeiter der beklagten Partei, regelmäßig an Schulungen zum Thema Unfallschutz teil. So fanden etwa jährlich Schulungen durch die erstklagende Partei über den Gerüstbau statt. Ein externes Unternehmen veranstaltet mit den Polieren und Vorarbeitern Workshops über die Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitssicherheit auf der Baustelle, wobei auch rechtliche Themen erörtert werden. Die Mitarbeiter erhielten überdies Broschüren über die „Rechtsvorschriften im Dachbereich“. Der Schulungsstandard ist „eher hoch“.
Der Polier war aufgrund der Unfallfolgen insgesamt 231 Tage arbeitsunfähig. Die klagenden Sozialversicherungsträger erbrachten folgende Leistungen an den Geschädigten: erstklagende Partei 5.172,82 EUR; zweitklagende Partei 30.537,56 EUR; drittklagende Partei 4.566,63 EUR.
Die klagenden Parteien begehrten, gestützt auf § 334 Abs 1 ASVG, den Ersatz der von ihnen an den Geschädigten erbrachten Leistungen und brachten vor, die beklagte Partei habe mehrere (im Detail genannte) Schutznormen des ASchG und der BauV verletzt. Den Geschäftsführer der beklagten Partei treffe der Vorwurf grober Fahrlässigkeit.
Die beklagte Partei bestritt das Vorliegen grober Fahrlässigkeit.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.
Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach zunächst aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
Darauf erhob die beklagte Partei mit dem (zutreffenden; vgl 2 Ob 110/12h) Hinweis, dass es sich bei den klagenden Parteien um formelle Streitgenossen iSd § 11 Z 2 ZPO handle, außerordentliche Revision , soweit dem Klagebegehren der zweitklagenden Partei stattgegeben wurde. Hinsichtlich des Zuspruchs an die erstklagende Partei stellte sie einen mit der ordentlichen Revision verbundenen Antrag auf Abänderung des Zulassungsausspruchs nach § 508 Abs 1 ZPO.
Das Berufungsgericht gab dem Abänderungsantrag statt und ließ die ordentliche Revision hinsichtlich der erstklagenden Partei nachträglich zu. Dies sei schon zum Zweck einer „möglichst einheitlichen Anfechtbarkeit“ erforderlich. Im Übrigen erscheine eine Verbreiterung der höchstgerichtlichen Judikatur zum Vorliegen grober Fahrlässigkeit im Falle einer dem Arbeitsunfall vorausgegangenen rechtskräftigen verwaltungsbehördlichen Bestrafung wegen Unterlassung des Arbeitnehmerschutzes wünschenswert.
Rechtliche Beurteilung
Beide Revisionen sind unzulässig. Entgegen dem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts liegt keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO vor. Weder in der Begründung des zweitinstanzlichen Zulassungsausspruchs noch in den Rechtsmitteln der beklagten Partei wird eine solche Rechtsfrage aufgezeigt:
1. Mängelrüge:
Der in einem Abgehen von den erstinstanzlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht erblickte Verfahrensmangel liegt nicht vor:
1.1 Das Berufungsgericht hat keineswegs unterstellt, dass der Geschäftsführer persönlich das Gerüst aufgestellt habe, sondern nur die erstinstanzliche Feststellung wiedergegeben, wonach „die beklagte Partei“, nämlich in Person eines Mitarbeiters, Aufsteller des Gerüsts gewesen sei (Urteil Seite 7).
1.2 Nach den Feststellungen hat der Geschäftsführer der beklagten Partei selbst das Gerüst bestellt, das die Erfordernisse eines „Dachfanggerüsts“ in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllte, demnach als solches ‑ wie auch die aktenkundigen Lichtbilder belegen ‑ ungeeignet war (Urteil Seite 10 mit Hinweis auf den Sachverständigen). Wenn das Berufungsgericht diese Feststellungen in ihrem Gesamtzusammenhang dahin auslegte, dass der Geschäftsführer ein „unzureichendes Gerüst“ bestellte, so wirft dies keine erhebliche Rechtsfrage auf (vgl RIS‑Justiz RS0118891). Ein verlässlicher Hinweis darauf, dass die gelieferten Gerüstteile nicht der Bestellung entsprochen hätten, geht aus den Feststellungen nicht hervor.
1.3 Die Äußerung des Berufungsgerichts, der Geschäftsführer der beklagten Partei habe infolge der festgestellten Mängel des Gerüsts mit dem ungebremsten Abrutschen eines abstürzenden Arbeiters rechnen müssen, beruht abermals auf der vertretbaren Auslegung einer erstinstanzlichen Feststellung („die beklagte Partei“; Urteil Seite 8) und steht eindeutig im Sinnzusammenhang mit jener Feststellung, nach welcher der Geschäftsführer die besagten Mängel (nur dann) erkannt hätte, hätte er vor Ort die Umsetzung der Sicherheitsvorschriften kontrolliert.
2. Straferkenntnis:
2.1 Richtig ist zwar, dass nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs keine Bindung der Gerichte an Straferkenntnisse der Verwaltungsbehörden besteht; die Bindungswirkung ist vielmehr auf strafgerichtliche Verurteilungen beschränkt (1 Ob 127/13b mwN). Davon abgesehen richtet sich das Straferkenntnis vom 22. 9. 2010 gegen den Geschäftsführer der beklagten Partei und nicht gegen diese selbst (vgl 1 Ob 127/13b).
2.2 Der dem Berufungsgericht insoweit unterlaufene Rechtsirrtum bleibt jedoch ohne jede Auswirkung auf die allein entscheidende Frage, ob dem Geschäftsführer der beklagten Partei grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Dass der Geschäftsführer rund einen Monat vor dem gegenständlichen Unfall wegen einer Verletzung der Sicherheitsvorkehrungen bei Dacharbeiten rechtskräftig bestraft wurde, ist ebenso eine in dritter Instanz nicht mehr überprüfbare Tatsache wie die dazu getroffene weitere Feststellung des Erstgerichts, dass der später verunglückte Polier auch schon bei der damaligen Beanstandung ohne jegliche Sicherheitsmaßnahmen Arbeiten auf einem Dach verrichtet hat.
3. Grobe Fahrlässigkeit:
3.1 Beim Rückgriffsanspruch des Sozialversicherungsträgers nach § 334 ASVG hat der Dienstgeber nur für sein eigenes grobes Verschulden einzustehen (RIS‑Justiz RS0085245, RS0085276). Handelt es sich beim Dienstgeber um eine juristische Person, so haftet er für das grobe Verschulden seiner organschaftlichen Vertreter (vgl 9 ObA 52/09a; 2 Ob 122/09v). Ob grobes Verschulden vorliegt, richtet sich stets nach den Umständen des Einzelfalls und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RIS‑Justiz RS0026555 [T5], RS0085228).
Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar ist (RIS‑Justiz RS0030644). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist demnach nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RIS‑Justiz RS0085332). Grobe Fahrlässigkeit erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RIS‑Justiz RS0030272).
3.2 Die Übertretung von Unfallverhütungs-vorschriften und Dienstnehmerschutzbestimmungen muss an sich noch kein grobes Verschulden begründen (vgl RIS‑Justiz RS0026555, RS0052197). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RIS‑Justiz RS0030622, RS0031083, RS0052292). Dass der Dienstgeber wegen Übertretung der Schutzvorschrift bereits einmal beanstandet worden ist, muss ebenfalls noch nicht unbedingt grobe Fahrlässigkeit begründen (RIS‑Justiz RS0085457), wohl aber die Nichtbeachtung von Schutzvorschriften trotz wiederholter Beanstandung (2 Ob 104/67 SZ 40/55; RIS‑Justiz RS0052197 [T1]).
3.3 In der Entscheidung 2 Ob 110/12h hat der Oberste Gerichtshof die bis dahin ergangene einschlägige Rechtsprechung zu Abstürzen von Dächern zusammengefasst. Er billigte im damaligen Einzelfall die Verneinung grober Fahrlässigkeit durch die Vorinstanzen, weil ‑ wie auch schon in dem zu 2 Ob 37/86 entschiedenen Fall ‑ eine anfängliche grundsätzliche Unterweisung der Arbeiter über einzuhaltende Sicherheitsmaßnahmen stattgefunden hatte und die erforderlichen Sicherheitseinrichtungen (Schutzgitter und Schutzgeschirr) auf der Baustelle vorhanden waren.
3.4 Das Berufungsgericht hat sich mit den beiden zitierten Entscheidungen auseinandergesetzt und hervorgehoben, dass im vorliegenden Fall aufgrund der Bestellung des Geschäftsführers der beklagten Partei nur ein „unzureichendes Gerüst“ an der Baustelle vorhanden gewesen sei. Aus diesem und dem weiteren Grund, dass der Geschäftsführer erst wenige Wochen vor dem Unfall wegen der Vernachlässigung von Arbeitnehmerschutzvorschriften mittels Straferkenntnisses bestraft worden sei, wiege die Unterlassung der gebotenen Kontrolle, ob die Sicherheitsmaßnahmen an der Baustelle auch tatsächlich umgesetzt wurden, besonders schwer. Dabei sei zu beachten, dass es auch damals gerade der nunmehr verunglückte Polier gewesen sei, der Arbeiten am Dach ohne geeignete Schutzeinrichtungen durchgeführt habe. Der Geschäftsführer hätte aus diesem Grund beim gegenständlichen Bauvorhaben der Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen besondere Aufmerksamkeit schenken müssen. Seine diesbezügliche Untätigkeit bedeute bei den gegebenen Voraussetzungen ein beträchtliches Abweichen von der erforderlichen Sorgfalt, was grobe Fahrlässigkeit begründe.
3.5 Diese Rechtsansicht hält sich im Rahmen der erörterten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Es ist unter den konkreten Umständen vertretbar, den allgemeinen Sicherheitsschulungen und ‑instruktionen sowie der langjährigen Erfahrung der eingesetzten Arbeiter bei der Ermittlung des Verschuldensgrades nur untergeordnete Bedeutung beizumessen, wenn erwiesen ist, dass die vorgeschriebenen und den Arbeitern wohl bekannten Sicherheitsmaßnahmen erst kürzlich völlig unbeachtet geblieben sind. Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Geschäftsführer der beklagten Partei hätte bei den gegenständlichen Dacharbeiten daher auf die Umsetzung der Sicherheitsvorkehrungen besonders achten müssen, weshalb in seiner Nachlässigkeit bei der Bestellung des Gerüsts und der Unterlassung einer Kontrolle vor Ort eine außergewöhnliche Sorgfaltswidrigkeit zu erblicken sei, lässt im konkreten Einzelfall keine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung erkennen.
4. Ergebnis:
Aus den dargelegten Gründen beruht die Bejahung der Ersatzansprüche nach § 334 ASVG auf einer vertretbaren Rechtsansicht des Berufungsgerichts. Da es der Lösung von Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedarf, ist die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung gründet sich hinsichtlich der erstklagenden Partei auf §§ 41 und 50 ZPO. Die erstklagende Partei hat in der Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen. Hingegen steht der zweitklagenden Partei gemäß § 508a Abs 2 zweiter Satz ZPO kein Anspruch auf Kostenersatz zu. Der erstklagenden Partei sind daher die ihr nach dem Verhältnis der Streitwerte gebührenden Kosten der gemeinsamen Revisionsbeantwortung - allerdings ohne anteiligen Streitgenossenzuschlag -zuzusprechen.
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