OGH 2Ob110/12h

OGH2Ob110/12h28.6.2012

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) Allgemeine Unfallversicherungsanstalt Wien, Landesstelle Graz, 8021 Graz, Göstinger Straße 26, und 2.) Kärntner Gebietskrankenkasse, 9021 Klagenfurt, Kempfstraße 8, beide vertreten durch Dr. Peter Schaden, Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei M***** K*****, vertreten durch Dr. Franz Grauf, Dr. Bojan Vigele, Rechtsanwälte in Völkermarkt, wegen 64.872,65 EUR sA und Feststellung (erstklagende Partei) und 14.412,88 EUR sA (zweitklagende Partei), über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 5. März 2012, GZ 2 R 219/11k-43, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 12. August 2012, GZ 28 Cg 86/09x-39, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die erstklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.941,19 EUR (darin 323,53 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Die zweitklagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 373,61 EUR (darin 62,27 EUR USt) bestimmten anteiligen Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu bezahlen.

Text

Begründung

Ab dem 22. 7. 2002 führten vier Arbeitnehmer des Beklagten, darunter auch der am 23. 7. 2002 verunglückte Erich R***** (in der Folge: Verunglückter), Umdeckungsarbeiten am Dach des „G*****“ in Bleiburg durch. Der Verunglückte wurde bei diesem Arbeitsunfall schwer verletzt. Die Folge waren vielmonatige Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalte und die dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Der erstklagende Sozialversicherungsträger hat aufgrund des vorliegenden Arbeitsunfalls für den Verunglückten gemäß Gesetz und Satzungen an Bar- und Sachleistungen bislang 64.872,65 EUR, der zweitklagende Sozialversicherungsträger seinerseits 14.412,88 EUR aufgewendet.

Die Klägerinnen begehren gemäß § 334 ASVG den Ersatz der von ihnen jeweils erbrachten Geldleistungen; die Erstklägerin stellt darüber hinaus ein Feststellungsbegehren über die Haftung des Beklagten für künftig von ihr zu erbringende Leistungen. Der Beklagte hafte für die grob fahrlässig herbeigeführten Organisationsmängel in seinem Betrieb.

Der Beklagte wendet ein, er habe nicht grob fahrlässig gegen Arbeitnehmerschutzbestimmungen verstoßen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es bejahte grobe Fahrlässigkeit des Beklagten.

Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Dem Beklagten sei keine grobe Fahrlässigkeit anzulasten.

Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil mit den Entscheidungen 10 ObS 84/95 und 8 ObA 16/07x betreffend die grobe Fahrlässigkeit eine uneinheitliche Rechtsprechung vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Klägerinnen ist unzulässig.

Die gerügte Aktenwidrigkeit liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

Die vom Berufungsgericht angenommene Judikaturdivergenz besteht insofern nicht, als in den beiden vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen jeweils besonders gelagerte Einzelfälle zu beurteilen waren und es sich bei der Entscheidung 8 ObA 16/07x überdies um die Zurückweisung einer Revision mit der Begründung handelte, die Beurteilung des Berufungsgerichts halte sich im Rahmen der ständigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung zu § 334 ASVG.

Die Beurteilung des Grades der Fahrlässigkeit - auch im Zusammenhang mit § 334 ASVG - stellt eine Frage des Einzelfalls dar, die nur im Falle grober Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen iSd § 502 Abs 1 ZPO an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden kann (RIS-Justiz RS0026555 [T5]; vgl auch RS0031083 [T6]).

Eine solche grobe Fehlbeurteilung kann dem Berufungsgericht nicht vorgeworfen werden:

Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar ist (RIS-Justiz RS0030644). Auch ein mehrfacher Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften bedeutet als solcher nicht schon grobe Fahrlässigkeit. Entscheidend für die Qualifikation als grob fahrlässig ist vielmehr die Schwere dieser Verstöße (RIS-Justiz RS0030622 [T6]).

Speziell zu Abstürzen von Dächern gibt es folgende Entscheidungen:

In dem der Entscheidung 8 Ob 161/82 (= RIS-Justiz RS0030644 [T18]) zugrundeliegenden Fall wurde die leicht vorhersehbare, besondere Gefährlichkeit der Situation darin erblickt, dass auf einem Dach nicht weniger als 300 Öffnungen vorhanden waren und die Arbeiter bei ihren Kabelarbeiten rückwärts schritten, ohne auf solche Öffnungen zu achten, wobei diese Tatsache dem verantwortlichen Baustellenleiter aus früheren Wahrnehmungen auf der Baustelle bekannt gewesen war. Hier nahm der Oberste Gerichtshof grobe Fahrlässigkeit des Aufsichtspflichtigen an.

Im Fall 2 Ob 37/86 (= RIS-Justiz RS0030644 [T24]) hatte der beklagte Inhaber eines Glasbaubetriebs zwölf Beschäftigte. Für Sicherheitsvorkehrungen standen im Betrieb des Beklagten vor allem Schal- oder Gerüstbretter in ausreichendem Maß zur Verfügung, außerdem waren zwei Garnituren Sicherheitsgeschirre mit dazu passenden Seilen lagernd. Jener Montagetrupp, der Sicherheitseinrichtungen benötigte, konnte sie jederzeit vom Betrieb mitnehmen. Der Beklagte erklärte bei der Einstellung eines jeden Monteurs, was in Bezug auf Sicherung von Baustellen zu tun sei. Dabei konnte der Beklagte nur generelle Anweisungen geben, dass eben bei gefährlichen Baustellen auf Dächern usw die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen zu treffen seien. Am Unfallstag hatte der Beklagte keine besonderen Anweisungen über die Absicherung der Baustelle erteilt. Der Oberste Gerichtshof verneinte grobe Fahrlässigkeit des Beklagten angesichts der von ihm durchgeführten (generellen) Belehrungen und der vorhandenen Sicherungsbehelfe.

In der Entscheidung 8 ObA 16/07x, in der der Oberste Gerichtshof die vom Berufungsgericht angenommene grobe Fahrlässigkeit als keine grobe Fehlbeurteilung ansah, war im Gegensatz zum vorliegenden Fall ein „Leiharbeitnehmer“ tätig, der noch nie zuvor auf einem Dach gearbeitet hatte und überdies nicht über Sicherheitsvorkehrungen unterwiesen worden war.

Der vorliegende Fall ist annähernd mit der Entscheidung 2 Ob 37/86 vergleichbar, gab es doch auch hier eine anfängliche grundsätzliche Unterweisung über einzuhaltende Sicherheitsmaßnahmen und waren Schutzgitter und Sicherheitsgeschirr auf der Baustelle vorhanden. Mit dem Fall 8 Ob 161/82 (= RIS-Justiz RS0030644 [T18]) hingegen kann der vorliegende nicht verglichen werden, weil hier der Beklagte nicht eine ihm bekannte eminente Gefahr und Unvorsichtigkeit seiner Arbeiter ignorierte.

Im Licht der wiedergegebenen allgemeinen Grundsätze der Rechtsprechung und der referierten Einzelfälle ist die Verneinung grober Fahrlässigkeit des Beklagten durch das Berufungsgericht somit noch vertretbar.

Die Revision der Klägerinnen zeigt keine sonstigen erheblichen Rechtsfragen auf, weshalb sie zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO. Der Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen. Die klagenden Parteien wären im Fall ihres Obsiegens nicht aus demselben tatsächlichen Grund oder solidarisch berechtigt (§ 11 Z 1 ZPO; RIS-Justiz RS0036450: hier kein einheitlicher rechtserzeugender Tatbestand, weil verschiedene Pflichtleistungen der klagenden Parteien nach verschiedenen Anspruchsgrundlagen vorliegen) und somit keine materiellen, sondern formelle Streitgenossen. Als solche haften sie für die Kosten nicht solidarisch, sondern im Verhältnis ihrer Beteiligung am Verfahren (1 Ob 313/01p; Obermaier, Kostenhandbuch2 Rz 326). Die Erstklägerin ist mit 74.872,65 EUR (64.872,65 EUR Leistung und das mit 10.000 EUR bewertete Feststellungsbegehren) oder 83,86 %, die Zweitklägerin mit 14.412,88 EUR oder 16,14 % am Verfahren beteiligt.

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